Franz Kafka 1883 - 1924
EIN HUNGERKÜNSTLER
In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr
zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige
Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute
völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. Damals beschäftigte sich
die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag
stieg die Teilnahme; jeder wollte den Hungerkünstler zumindest
einmal täglich sehn; an den spätern Tagen gab es Abonnenten, welche
tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen; auch in der Nacht fanden
Besichtigungen statt, zur Erhöhung der Wirkung bei Fackelschein; an
schönen Tagen wurde der Käfig ins Freie getragen, und nun waren
es besonders die Kinder, denen der Hungerkünstler gezeigt wurde;
während er für die Erwachsenen oft nur ein Spaß war, an dem sie
der Mode halber teilnahmen, sahen die Kinder staunend, mit offenem
Mund, der Sicherheit halber einander bei der Hand haltend, zu, wie
er bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig vortretenden Rippen,
sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem Stroh saß, einmal
höflich nickend, angestrengt lächelnd Fragen beantwortete, auch durch das Gitter den Arm streckte, um seine Magerkeit befühlen zu lassen,
dann aber wieder ganz in sich selbst versank, um niemanden sich kümmerte,
nicht einmal um den für ihn so wichtigen Schlag der Uhr, die das
einzige Möbelstück des Käfigs war, sondern nur vor sich hinsah mit
fast geschlossenen Augen und hie und da aus einem winzigen Gläschen
Wasser nippte, um sich die Lippen zu feuchten.
Außer den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom
Publikum gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich
Fleischhauer, welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten,
Tag und Nacht den Hungerkünstler zu beobachten, damit er nicht
etwa auf irgendeine heimliche Weise doch Nahrung zu sich nehme.
Es war das aber lediglich eine Formalität, eingeführt zur Beruhigung
der Massen, denn die Eingeweihten wußten wohl, daß der Hungerkünstler
während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen,
selbst unter Zwang nicht, auch das Geringste nur gegessen hätte;
die Ehre seiner Kunst verbot dies. Freilich, nicht jeder Wächter
konnte das begreifen, es fanden sich manchmal nächtliche Wachgruppen,
welche die Bewachung sehr lax durchführten, absichtlich in
eine ferne Ecke sich zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel
vertieften, in der offenbaren Absicht, dem Hungerkünstler eine kleine
Erfrischung zu gönnen, die er ihrer Meinung nach aus irgendwelchen
geheimen Vorräten hervorholen konnte. Nichts war dem Hungerkünstler
quälender als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie
machten ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal überwand
er seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit, solange er es
nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten.
Doch half das wenig; sie wunderten sich dann nur über
seine Geschicklichkeit, selbst während des Singens zu essen. Viel
lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten,
mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht begnügten,
sondern ihn mit den elektrischen Taschenlampen bestrahlten, die ihnen
der Impresario zur Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar
nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht und ein wenig hindämmern
konnte er immer, bei jeder Beleuchtung und zu jeder Stunde, auch
im übervollen, lärmenden Saal. Er war sehr gerne bereit, mit solchen
Wächtern die Nacht gänzlich ohne Schlaf zu verbringen; er war bereit,
mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschichten aus seinem Wanderleben
zu erzählen, dann wieder ihre Erzählungen anzuhören, alles nur
um sie wachzuhalten, um ihnen immer wieder zeigen zu können, daß er nichts Eßbares im Käfig hatte und daß er hungerte, wie keiner
von ihnen es könnte. Am glücklichsten aber war er, wenn dann der
Morgen kam, und ihnen auf seine Rechnung ein überreiches Frühstück
gebracht wurde, auf das sie sich warfen mit dem Appetit gesunder
Männer nach einer mühevoll durchwachten Nacht. Es gab
zwar sogar Leute, die in diesem Frühstück eine ungebührliche Beeinflussung
der Wächter sehen wollten, aber das ging doch zu weit,
und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um der Sache willen
ohne Frühstück die Nachtwache übernehmen wollten, verzogen sie
sich, aber bei ihren Verdächtigungen blieben sie dennoch.
Dieses allerdings gehörte schon zu den vom Hungern überhaupt
nicht zu trennenden Verdächtigungen. Niemand war ja imstande,
alle die Tage und Nächte beim Hungerkünstler ununterbrochen als
Wächter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung
wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war;
nur der Hungerkünstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig
der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer
sein. Er aber war wieder aus einem andern Grunde niemals befriedigt;
vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, daß
manche zu ihrem Bedauern den Vorführungen fern bleiben mußten,
weil sie seinen Anblick nicht ertrugen, sondern er war nur so abgemagert
aus Unzufriedenheit mit sich selbst. Er allein nämlich
wußte, auch kein Eingeweihter sonst wußte das, wie leicht das
Hungern war. Es war die leichteste Sache von der Welt. Er verschwieg
es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn
günstigstenfalls für bescheiden, meist aber für reklamesüchtig oder gar
für einen Schwindler, dem das Hungern allerdings leicht war, weil
er es sich leicht zu machen verstand, und der auch noch die Stirn
hatte, es halb zu gestehn. Das alles mußte er hinnehmen, hatte sich
auch im Laufe der Jahre daran gewöhnt, aber innerlich nagte diese
Unbefriedigtheit immer an ihm, und noch niemals, nach keiner
Hungerperiode – dieses Zeugnis mußte man ihm ausstellen – hatte er
freiwillig den Käfig verlassen. Als Höchstzeit für das Hungern hatte
der Impresario vierzig Tage festgesetzt, darüber hinaus ließ er niemals
hungern, auch in den Weltstädten nicht, und zwar aus gutem Grund.
Vierzig Tage etwa konnte man erfahrungsgemäß durch allmählich sich
steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr aufstacheln,
dann aber versagte das Publikum, eine wesentliche Abnahme des Zuspruches
war festzustellen; es bestanden natürlich in dieser Hinsicht kleine Unterschiede zwischen den Städten und Ländern, als Regel
aber galt, daß vierzig Tage die Höchstzeit war. Dann also am vierzigsten
Tage wurde die Tür des mit Blumen umkränzten Käfigs geöffnet,
eine begeisterte Zuschauerschaft erfüllte das Amphitheater,
eine Militärkapelle spielte, zwei Ärzte betraten den Käfig, um die
nötigen Messungen am Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein Megaphon
wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließlich kamen
zwei junge Damen, glücklich darüber, daß gerade sie ausgelost worden
waren, und wollten den Hungerkünstler aus dem Käfig ein paar Stufen
hinabführen, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgfältig ausgewählte
Krankenmahlzeit serviert war. Und in diesem Augenblick
wehrte sich der Hungerkünstler immer. Zwar legte er noch freiwillig
seine Knochenarme in die hilfsbereit ausgestreckten Hände der
zu ihm hinabgebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum
jetzt gerade nach vierzig Tagen aufhören ? Er hätte es noch lange,
unbeschränkt lange ausgehalten; warum gerade jetzt aufhören, wo er
im besten, ja noch nicht einmal im besten Hungern war ? Warum
wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur
der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich
schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis
ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er
keine Grenzen. Warum hatte diese Menge, die ihn so sehr zu bewundern
vorgab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt,
noch weiter zu hungern, warum wollte sie es nicht aushalten ? Auch
war er müde, saß gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang
aufrichten und zu dem Essen gehn, das ihm schon allein in der Vorstellung
Übelkeiten verursachte, deren Äußerung er nur mit Rücksicht
auf die Damen mühselig unterdrückte. Und er blickte empor in die
Augen der scheinbar so freundlichen, in Wirklichkeit so grausamen
Damen und schüttelte den auf dem schwachen Halse überschweren
Kopf. Aber dann geschah, was immer geschah. Der Impresario kam,
hob stumm – die Musik machte das Reden unmöglich – die Arme
über dem Hungerkünstler, so als lade er den Himmel ein, sich sein
Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehn, diesen bedauernswerten
Märtyrer, welcher der Hungerkünstler allerdings war, nur in ganz
anderem Sinn; faßte den Hungerkünstler um die dünne Taille, wobei
er durch übertriebene Vorsicht glaubhaft machen wollte, mit einem
wie gebrechlichen Ding er es hier zu tun habe; und übergab ihn
– nicht ohne ihn im geheimen ein wenig zu schütteln, so daß der Hungerkünstler mit den Beinen und dem Oberkörper unbeherrscht
hin und her schwankte – den inzwischen totenbleich gewordenen
Damen. Nun duldete der Hungerkünstler alles; der Kopf lag auf der
Brust, es war, als sei er hingerollt und halte sich dort unerklärlich;
der Leib war ausgehöhlt; die Beine drückten sich im Selbsterhaltungstrieb
fest in den Knien aneinander, scharrten aber doch den Boden,
so als sei es nicht der wirkliche, den wirklichen suchten sie erst;
und die ganze, allerdings sehr kleine Last des Körpers lag auf einer
der Damen, welche hilfesuchend, mit fliegendem Atem – so hatte sie
sich dieses Ehrenamt nicht vorgestellt – zuerst den Hals möglichst
streckte, um wenigstens das Gesicht vor der Berührung mit dem
Hungerkünstler zu bewahren, dann aber, da ihr dies nicht gelang und
ihre glücklichere Gefährtin ihr nicht zu Hilfe kam, sondern sich damit
begnügte, zitternd die Hand des Hungerkünstlers, dieses kleine
Knochenbündel, vor sich herzutragen, unter dem entzückten Gelächter
des Saales in Weinen ausbrach und von einem längst bereitgestellten
Diener abgelöst werden mußte. Dann kam das Essen, von dem der
Impresario dem Hungerkünstler während eines ohnmachtähnlichen
Halbschlafes ein wenig einflößte, unter lustigem Plaudern, das die
Aufmerksamkeit vom Zustand des Hungerkünstlers ablenken sollte;
dann wurde noch ein Trinkspruch auf das Publikum ausgebracht,
welcher dem Impresario angeblich vom Hungerkünstler zugeflüstert
worden war; das Orchester bekräftigte alles durch einen großen
Tusch; man ging auseinander und niemand hatte das Recht, mit dem
Gesehenen unzufrieden zu sein, niemand, nur der Hungerkünstler,
immer nur er.
So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in
scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in
trüber Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, daß niemand
sie ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn auch trösten ? Was
blieb ihm zu wünschen übrig ? Und wenn sich einmal ein Gutmütiger
fand, der ihn bedauerte und ihm erklären wollte, daß seine Traurigkeit
wahrscheinlich von dem Hungern käme, konnte es, besonders
bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehn, daß der Hungerkünstler
mit einem Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller wie ein
Tier an dem Gitter zu rütteln begann. Doch hatte für solche Zustände
der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er entschuldigte
den Hungerkünstler vor versammeltem Publikum, gab zu, daß nur die durch das Hungern hervorgerufene, für satte Menschen
nicht ohne weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkünstlers
verzeihlich machen könne; kam dann im Zusammenhang
damit auch auf die ebenso zu erklärende Behauptung des Hungerkünstlers
zu sprechen, er könnte noch viel länger hungern, als er
hungere; lobte das hohe Streben, den guten Willen, die große Selbstverleugnung,
die gewiß auch in dieser Behauptung enthalten seien;
suchte dann aber die Behauptung einfach genug durch Vorzeigen von
Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen, denn
auf den Bildern sah man den Hungerkünstler an einem vierzigsten
Hungertag, im Bett, fast verlöscht vor Entkräftung. Diese dem
Hungerkünstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn entnervende
Verdrehung der Wahrheit war ihm zuviel. Was die Folge
der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als
die Ursache dar ! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des
Unverstandes zu kämpfen, war unmöglich. Noch hatte er immer
wieder in gutem Glauben begierig am Gitter dem Impresario zugehört,
beim Erscheinen der Photographien aber ließ er das Gitter
jedesmal los, sank mit Seufzen ins Stroh zurück, und das beruhigte
Publikum konnte wieder herankommen und ihn besichtigen.
Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurückdachten,
wurden sie sich oft selbst unverständlich. Denn inzwischen
war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das
geschehen; es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie
aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verwöhnte Hungerkünstler
von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die lieber zu
anderen Schaustellungen strömte. Noch einmal jagte der Impresario
mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch hie
und da das alte Interesse wiederfände; alles vergeblich; wie in einem
geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine Abneigung
gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das in Wirklichkeit
nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich
jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge
nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte Vorboten, aber
jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. Zwar war es
sicher, daß einmal auch für das Hungern wieder die Zeit kommen
werde, aber für die Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der
Hungerkünstler tun ? Der, welchen Tausende umjubelt hatten, konnte sich
nicht in Schaubuden auf kleinen Jahrmärkten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerkünstler nicht nur zu alt,
sondern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. So verabschiedete
er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn
ohnegleichen, und ließ sich von einem großen Zirkus schnell engagieren;
um seine Empfindlichkeit zu schonen, sah er die Vertragsbedingungen
gar nicht an.
Ein großer Zirkus mit seiner Unzahl von einander immer wieder
ausgleichenden und ergänzenden Menschen und Tieren und Apparaten
kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkünstler,
bei entsprechend bescheidenen Ansprüchen natürlich, und außerdem
war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hungerkünstler
selbst, der engagiert wurde, sondern auch sein alter berühmter Name,
ja man konnte bei der Eigenart dieser im zunehmenden Alter nicht
abnehmenden Kunst nicht einmal sagen, daß ein ausgedienter, nicht
mehr auf der Höhe seines Könnens stehender Künstler sich in einen
ruhigen Zirkusposten flüchten wolle, im Gegenteil, der Hungerkünstler
versicherte, daß er, was durchaus glaubwürdig war, eben so gut hungere
wie früher, ja er behauptete sogar, er werde, wenn man ihm seinen
Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne weiteres, eigentlich
erst jetzt die Welt in berechtigtes Erstaunen setzen, eine Behauptung
allerdings, die mit Rücksicht auf die Zeitstimmung, welche der Hungerkünstler
im Eifer leicht vergaß bei den Fachleuten nur ein Lächeln
hervorrief.
Im Grunde aber verlor auch der Hungerkünstler den Blick für die
wirklichen Verhältnisse nicht und nahm es als selbstverständlich hin,
daß man ihn mit seinem Käfig nicht etwa als Glanznummer mitten
in die Manege stellte, sondern draußen an einem im übrigen recht
gut zugänglichen Ort in der Nähe der Stallungen unterbrachte. Große,
bunt gemalte Aufschriften umrahmten den Käfig und verkündeten, was
dort zu sehen war.
Wenn das Publikum in den Pausen der Vorstellung
zu den Ställen drängte, um die Tiere zu besichtigen, war es
fast unvermeidlich, daß es beim Hungerkünstler vorüberkam und ein
wenig dort haltmachte, man wäre vielleicht länger bei ihm geblieben,
wenn nicht in dem schmalen Gang die Nachdrängenden, welche diesen
Aufenthalt auf dem Weg zu den ersehnten Ställen nicht verstanden,
eine längere ruhige Betrachtung unmöglich gemacht hätten. Dieses
war auch der Grund, warum der Hungerkünstler vor diesen Besuchszeiten,
die er als seinen Lebenszweck natürlich herbeiwünschte, doch
auch wieder zitterte. In der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum erwarten können; entzückt hatte er der sich heranwälzenden
Menge entgegengesehn, bis er sich nur zu bald – auch die
hartnäckigste, fast bewußte Selbsttäuschung hielt den Erfahrungen
nicht stand – davon überzeugte, daß es zumeist der Absicht nach,
immer wieder, ausnahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser
Anblick von der Ferne blieb noch immer der schönste. Denn wenn
sie bis zu ihm herangekommen waren, umtobte ihn sofort Geschrei
und Schimpfen der ununterbrochen neu sich bildenden Parteien, jener,
welche – sie wurde dem Hungerkünstler bald die peinlichere – ihn
bequem ansehen wollte, nicht etwa aus Verständnis, sondern aus Laune
und Trotz, und jener zweiten, die zunächst nur nach den Ställen verlangte.
War der große Haufe vorüber, dann kamen die Nachzügler,
und diese allerdings, denen es nicht mehr verwehrt war, stehen zu
bleiben, solange sie nur Lust hatten, eilten mit langen Schritten, fast
ohne Seitenblick, vorüber, um rechtzeitig zu den Tieren zu kommen.
Und es war kein allzu häufiger Glücksfall, daß ein Familienvater mit
seinen Kindern kam, mit dem Finger auf den Hungerkünstler zeigte,
ausführlich erklärte, um was es sich hier handelte, von früheren
Jahren erzählte, wo er bei ähnlichen, aber unvergleichlich großartigeren
Vorführungen gewesen war, und dann die Kinder, wegen ihrer ungenügenden
Vorbereitung von Schule und Leben her, zwar immer
noch verständnislos blieben – was war ihnen Hungern ? – aber doch
in dem Glanz ihrer forschenden Augen etwas von neuen, kommenden,
gnädigeren Zeiten verrieten. Vielleicht, so sagte sich der Hungerkünstler
dann manchmal, würde alles doch ein wenig besser werden,
wenn sein Standort nicht gar so nahe bei den Ställen wäre. Den
Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden
davon, daß ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere
in der Nacht, das Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die
Raubtiere, die Schreie bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd
bedrückten. Aber bei der Direktion vorstellig zu werden, wagte er
nicht; immerhin verdankte er ja den Tieren die Menge der Besucher,
unter denen sich hie und da auch ein für ihn Bestimmter finden
konnte, und wer wußte, wohin man ihn verstecken würde, wenn er an
seine Existenz erinnern wollte und damit auch daran, daß er, genau
genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war.
Ein kleines Hindernis allerdings, ein immer kleiner werdendes
Hindernis. Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen
Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen.
Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber
nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche,
jemandem die Hungerkunst zu erklären ! Wer es nicht fühlt, dem
kann man es nicht begreiflich machen. Die schönen Aufschriften
wurden schmutzig und unleserlich, man riß sie herunter, niemandem
fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten
Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneut
worden war, blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den
ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig
geworden; und so hungerte zwar der Hungerkünstler weiter,
wie er es früher einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe
ganz so, wie er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die
Tage, niemand, nicht einmal der Hungerkünstler selbst wußte, wie
groß die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer. Und
wenn einmal in der Zeit ein Müßiggänger stehen blieb, sich über
die alte Ziffer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das
in diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und
eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn nicht der Hungerkünstler
betrog, er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog ihn um
seinen Lohn.
Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende.
Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener,
warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten
Stroh drinnen unbenützt stehen lasse; niemand wußte es, bis sich
einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man
rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin.
»Du hungerst noch immer ?« fragte der Aufseher, »wann wirst du denn
endlich aufhören ?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler;
nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiß,«
sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um
damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten,
»wir verzeihen dir.« »Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern
bewundert«, sagte der Hungerkünstler. »Wir bewundern es auch«,
sagte der Aufseher entgegenkommend. »Ihr sollt es aber nicht bewundern«,
sagte der Hungerkünstler. »Nun, dann bewundern wir es
also nicht,« sagte der Aufseher, »warum sollen wir es denn nicht bewundern ?«
»Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal einer,« sagte der Aufseher, »warum
kannst du denn nicht anders?« »Weil ich,« sagte der Hungerkünstler,
hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten
Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren
ginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.
Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht
und mich vollgegessen wie du und alle.« Das waren die letzten Worte,
aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch
nicht mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungre.
»Nun macht aber Ordnung !«, sagte der Aufseher, und man begrub
den Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man
einen jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare
Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich
herumwerfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm
schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht
einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem
Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch
die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie
zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut
aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr
standzuhalten. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und
wollten sich gar nicht fortrühren.
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