Rabindranath Tagore - 1861 - 1941
Thakur revolutionierte in einer als „Bengalische Renaissance“ bekannten Zeit die bengalische Literatur mit Werken wie Ghare baire (dt. Das Heim und die Welt) oder Gitanjali und erweiterte die bengalische Kunst mit einer Unzahl von Gedichten, Kurzgeschichten, Briefen, Essays und Bildern. Als engagierter Kultur- und Sozialreformer sowie Universalgelehrter modernisierte er die Kunst seiner Heimat durch den gezielten Angriff auf deren strikte Struktur und klassische Formensprache. Zwei seiner Lieder sind heute die Nationalhymnen von Bangladesch und Indien: Amar Shonar Bangla und Jana Gana Mana. Thakur wurde als Gurudeb bezeichnet, ein Ehrentitel, der sich auf Guru und Deva bezieht.
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http://de.wikipedia.org/wiki/Rabindranath_Thakur
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In dem Zimmer, neben welchem wir Knaben
zu schlafen pflegten, hing ein menschliches
Skelett. In der Nacht pflegte die Brise, die durch
das geöffnete Fenster hereinstrich, mit seinen
Knochen zu rasseln. Am Tage rasselten wir mit
diesen Knochen. Wir hatten Osteologie bei
einem Studenten der Medizin, denn unser Vormund
war entschlossen, uns in alle Wissenschaften
einzuweihen. Wieweit es ihm gelang,
brauchen wir denen, die uns kennen, nicht zu
sagen, und den andern bleibt es besser ein Geheimnis.
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen
ist das Skelett aus dem Zimmer verschwunden
und auch die Osteologie aus unserm
Gehirn, ohne eine Spur zurückzulassen.
Neulich war das Haus voll von Gästen, und
ich mußte die Nacht in demselben alten Zimmer
zubringen. Der Schlaf wollte in dieser ungewohnten
Umgebung nicht kommen, und während
ich mich ruhelos von einer Seite auf die
andere warf, hörte ich die Kirchenuhr in der
Nähe eine Stunde nach der andern schlagen. Das
Licht der Nachtlampe in der Ecke wurde immer
matter, endlich sprühte und flackerte es noch
ein paarmal auf und ging dann ganz aus.
Wir hatten kürzlich mehrere Verluste in der
Familie gehabt, so war es natürlich, daß das
Erlöschen der Lampe mich auf Todesgedanken
brachte. Ich stellte die Betrachtung an, daß es in
der großen Arena der Natur doch eigentlich derselbe
Vorgang sei, wenn eine Lampe erlischt, und
wenn das Lichtlein eines Menschenlebens sich
in ewiges Dunkel verliert.
Meine Gedanken riefen das Skelett wieder in
meiner Erinnerung wach. Während ich versuchte
mir vorzustellen, wie der Leib, der es
einst umhüllt hatte, wohl ausgesehen haben
könnte, war es mir plötzlich, als ob etwas immer
um mein Bett herumginge, wobei es an den Wänden
entlang tastete. Ich konnte sein rasches
Atmen hören. Es schien nach etwas zu suchen,
was es nicht finden konnte, und es ging mit immer
hastigeren Schritten im Zimmer umher. Ich
war ganz sicher, daß dies alles nur eine Einbildung
meines schlaflosen, aufgeregten Hirns war
und daß, was mir als laufende Tritte erschien,
in Wahrheit das Pochen der Adern in
meinen Schläfen war. Doch trotzdem überlief
es mich kalt. Um diese Halluzination loszuwerden,
rief ich laut: „Wer ist da ?“ Die Tritte
schienen neben meinem Bett anzuhalten, und
jemand antwortete: „Ich bin es. Ich bin gekommen,
um mich nach meinem Skelett umzusehen.“
Es wäre doch lächerlich gewesen, einem Geschöpf
meiner Einbildung gegenüber Furcht zu
zeigen; daher sagte ich – indem ich aber doch
die Bettdecke etwas fester faßte – mit erheuchelter
Ruhe: „Eine nette Beschäftigung zu
dieser nächtlichen Stunde ! Was wollen Sie denn
mit dem Skelett anfangen ?“
Die Antwort schien fast unmittelbar aus
meinem Moskito-Vorhang zu kommen. „Welche
Frage ! In dem Skelett waren die Knochen, die
mein Herz einschlossen; der jugendliche Reiz
meiner sechsundzwanzig Jahre umblühte es.
Sollte ich nicht den Wunsch haben, es noch einmal
zu sehen ?“
„Gewiß,“ sagte ich, „das ist ein ganz berechtigter
Wunsch. Suchen Sie nur weiter, während
ich versuche, etwas zu schlafen.“
Die Stimme sagte: „Aber ich glaube, Sie sind
einsam. Nun, da werde ich mich ein Weilchen
zu Ihnen setzen, und wir wollen ein wenig plaudern.
Vor Jahren pflegte ich so bei Menschen
zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten.
Aber während der letzten fünfunddreißig Jahre
habe ich nur auf den Verbrennungsplätzen der
Toten im Winde gestöhnt. Ich möchte gern einmal
wie in früheren Zeiten mit einem Menschen
plaudern.“
Ich fühlte, wie sich jemand ganz dicht bei
meinem Vorhang niedersetzte. So ergab ich mich
denn in diese Situation und erwiderte mit soviel
Herzlichkeit, wie ich aufbringen konnte: „Ja,
das wird sehr nett sein. Lassen Sie uns von etwas
Lustigem reden.“
„Das Lustigste, was ich kenne, ist meine
eigene Lebensgeschichte. Die will ich Ihnen erzählen.“
Die Kirchenuhr schlug die zweite Stunde.
„Als ich noch im Lande der Lebendigen und
jung war, fürchtete ich eins wie den Tod selbst,
und das war mein Gatte. Was ich fühlte, läßt
sich nur mit dem vergleichen, was ein Fisch empfindet,
der an einem Angelhaken gefangen ist.
Denn es war, als hätte mich ein Fremder mit
dem schärfsten aller Haken aus dem friedlich
stillen Heim meiner Kindheit gerissen – und ich
hatte kein Mittel, ihm zu entrinnen. Mein Gatte
starb zwei Monate nach unsrer Heirat, und
meine Freunde und Verwandten beklagten mich
mit vielem Pathos. Der Vater meines Gatten
aber, nachdem er mir lange forschend ins Gesicht
geblickt hatte, sagte zu meiner Schwiegermutter:
‚Siehst du nicht, daß sie den bösen
Blick hat ?‘ – Nun, hören Sie auch zu ? Ich
hoffe, Sie finden die Geschichte unterhaltend ?“
„Sehr unterhaltend“, sagte ich. „Der Anfang
ist wirklich äußerst lustig.“
„Lassen Sie mich also fortfahren. Ich war sehr
froh, als ich wieder in meines Vaters Haus zurückkam.
Die Leute versuchten, es mich nicht
merken zu lassen, aber ich wußte wohl, daß ich
von der Natur mit einer seltenen, blendenden
Schönheit ausgestattet war. Was meinen Sie ?“
„Ich glaube es wohl“, murmelte ich. „Aber Sie
müssen bedenken, daß ich Sie nie gesehen habe.“
„Was ? Sie haben mich nicht gesehen ? Und
mein Skelett ? Hahaha ! Nun gut. Ich scherzte
nur. Wie kann ich Sie je davon überzeugen, daß
jene zwei höhlenartigen Löcher das strahlendste
dunkle, schmachtende Augenpaar enthielten ?
Und daß die grinsenden Zähne, die Sie zu
sehen pflegten, nichts ahnen ließen von dem
Lächeln, das jene rubinroten Lippen umspielte ?
Wenn ich nur versuche, Ihnen eine Vorstellung
zu geben von der Anmut, dem Reiz, der in der
Fülle der Jugend in weichen, wundervoll geschwungenen
Linien jene trocknen alten Knochen
umwuchs und umblühte, so muß ich
lächeln. Aber es macht mich auch zornig. Die
hervorragendsten Ärzte meiner Zeit hätten sich
nicht träumen lassen, daß meine Knochen dazu
gut seien, um Osteologie daran zu lernen.
Wissen Sie, daß ein junger Arzt, den ich kannte,
mich tatsächlich mit einer goldenen Tschampakblüte
verglich ? Er meinte, daß die ganze übrige
Welt nur der Kelch sei, der die Blüte meiner
Schönheit umschloß. Denkt irgend jemand bei
dem Skelett an eine Tschampakblüte ?
Wenn ich ging, so hatte ich das Gefühl, daß,
wie ein Diamant Glanz um sich verbreitet, jede
meiner Bewegungen nach allen Seiten Wellen
von Schönheit ausstrahlte. Ich konnte stundenlang
meine Hände betrachten – Hände, die
spielend leicht den unbändigsten aller Männer
gezügelt hätten.
Aber jenes starre, starrende alte Gerippe hat
falsch Zeugnis von mir abgelegt, während ich unfähig
war, die schamlose Verleumdung zurückzuweisen.
Darum hasse ich von allen Menschen
Sie am meisten ! Ich möchte durch ein Traumbild
von meiner einstigen lebenswarmen Schönheit
auf immer allen Schlaf aus Ihren Augen
bannen und mit ihm den ganzen osteologischen
Krimskrams, mit dem Ihr Hirn angefüllt ist.“
„Ich könnte bei Ihrem Leibe schwören, wenn
Sie ihn noch hätten,“ rief ich aus, „daß auch
keine Spur von Osteologie mehr in meinem Kopf
ist, und daß das einzige, was ihn jetzt erfüllt,
ein strahlendes Bild vollkommener Schönheit
ist, das sich leuchtend vom schwarzen Hintergrund
der Nacht abhebt. Das ist alles, was ich
sagen kann.“
„Ich hatte keine weiblichen Gefährten“, fuhr
die Stimme fort. „Mein einziger Bruder war entschlossen,
nicht zu heiraten. Im Frauengemach
war ich allein. Allein pflegte ich im Garten zu
sitzen, im Schatten der Bäume, und zu träumen,
daß die ganze Welt in mich verliebt sei; daß die
Sterne schlaflos mit durstigen Blicken meine
Schönheit tränken, daß der Wind schmachtende
Seufzer ausstieße, wenn er unter irgendeinem
Vorwande an mir vorbeistrich, und daß der Rasen,
auf dem meine Füße ruhten, wenn er Bewußtsein
gehabt, es bei ihrer Berührung wieder
verloren hätte. Ich träumte, daß alle jungen
Männer in der ganzen Welt wie Grashalme zu
meinen Füßen lägen; und mein Herz wurde
von einer unbestimmten Traurigkeit erfaßt.
Als meines Bruders Freund Schekhar seine
medizinischen Studien beendet hatte, wurde er
unser Hausarzt. Ich hatte ihn schon oft durch
einen Spalt des Vorhangs gesehen. Mein Bruder
war ein Sonderling und mochte die Welt nicht
mit offenen Augen ansehen. Sie war ihm zu
bunt und kraus. Und so rückte er allmählich
immer mehr von ihr ab, bis er ganz allein in einer
dunklen Ecke saß. Schekhar war sein einziger
Freund und daher der einzige junge Mann, den
ich je zu sehen bekam. Und wenn ich des Abends
im Garten meinen Hof hielt, so war das ganze
Heer von eingebildeten Anbetern, die zu meinen
Füßen lagen, jeder ein Schekhar. – Hören Sie
zu ? Woran denken Sie ?“
Ich erwiderte mit einem Seufzer: „Ich
wünschte eben, ich wäre Schekhar.“
„Warten Sie ein Weilchen. Hören Sie erst die
Geschichte zu Ende. Eines Tages, in der Regenzeit,
bekam ich Fieber. Der Arzt kam, um nach
mir zu sehen. Das war unsre erste Begegnung.
Ich lag dem Fenster gegenüber, so daß der rosige
Abglanz des Abendhimmels auf mein blasses
Antlitz fallen mußte. Als der Doktor eintrat
und mich anblickte, versetzte ich mich an seine
Stelle und betrachtete mich selbst. Ich sah im
herrlichen Abendlicht das zarte blasse Gesicht
wie eine welke Blume auf dem weichen, weißen
Kissen liegen, während die Locken lose um die
Stirn fielen und die schüchtern gesenkten Lider
dem ganzen Gesicht einen rührenden Ausdruck
gaben.
Der Doktor fragte in zaghaft leisem Tone meinen
Bruder: ‚Dürfte ich wohl ihren Puls fühlen ?‘
Ich zog ein müdes, schön geformtes Handgelenk
unter der Decke hervor. ‚Ach,‘ dachte
ich, als ich darauf blickte, ‚könnte ich doch
nur ein Saphirarmband daran haben.‘ Ich habe
nie gesehen, daß ein Doktor sich so ungeschickt
anstellte, wenn er den Puls eines Patienten
fühlte. Seine Finger zitterten, als sie mein Handgelenk
faßten. Er maß mein Fieber und ich seinen
Herzschlag. – Glauben Sie mir das nicht?“
„Das glaube ich Ihnen gern,“ sagte ich, „der
Herzschlag des Menschen ist verräterisch.“
„Nachdem ich mehrmals erkrankt und wiederhergestellt
war, bemerkte ich, daß die Zahl
der Höflinge, von denen ich des Abends im
Garten träumte, bald auf einen einzigen zusammengeschmolzen
war. Und zuletzt bestand
meine kleine Welt nur noch aus einem Doktor
und einem Patienten.
An solchen Abenden kleidete ich mich heimlich
in einen goldgelben Sari, wand um den Knoten,
in den ich mein Haar schlang, einen Kranz
von weißen Jasminblüten und begab mich, mit
einem kleinen Spiegel in der Hand, zu meinem
gewohnten Platz unter den Bäumen.
Nun, glauben Sie etwa, daß man es bald
müde wird, seine eigene Schönheit anzustaunen ?
Ach nein ! Ich sah mich gar nicht mit meinen
eigenen Augen. Ich war damals ein Doppelwesen.
Ich sah mich, als ob ich der Doktor wäre;
ich starrte mich an, war entzückt, verliebte mich
zum Wahnsinn. Aber trotz all der Liebkosungen,
mit denen ich mich überhäufte, irrte doch ein
Seufzer in meinem Herzen umher, wie der ruhelose
Nachtwind.
Jedenfalls war ich von dieser Zeit ab nie
mehr allein. Wenn ich ging, beobachtete ich mit
gesenkten Lidern das Spiel meiner zarten kleinen
Zehen auf der Erde und fragte mich, was
der Doktor wohl sagen würde, wenn er es sehen
könnte. Am Mittag, wenn die Luft von Sonnenglut
erfüllt war und nichts zu hören als hin und
wieder der ferne Ruf einer Gabelweihe; wenn
draußen an unsrer Gartenmauer der Händler
vorüberging mit seinem singenden Ruf: ‚Kauft
Ringe, kristallene Ringe!‘, dann breitete ich ein
schneeweißes Tuch auf den Rasen und legte
mich darauf, den Kopf auf den Arm gestützt.
Mit gesuchter Nachlässigkeit ruhte der andere
Arm leicht auf dem weichen Tuch, und dann
stellte ich mir vor, jemand erblickte mich in dieser
wundervollen Pose, ergriffe meine Hand mit
beiden Händen ehrfürchtig, drückte einen Kuß
auf ihre rosige Fläche und ginge dann langsam
fort. – Wie wäre es wenn ich die Geschichte hier
enden ließe? Wie würde sie Ihnen gefallen?“
„Das wäre kein schlechter Abschluß“, erwiderte
ich nachdenklich. „Sie würde zwar nicht
ganz vollständig sein, aber ich könnte ja leicht
den Rest der Nacht damit zubringen, sie irgendwie
abzurunden.“
„Aber auf diese Weise würde die Geschichte
zu ernst. Wo bliebe das Lustige dabei ? Und wo
bliebe das Skelett mit seinen grinsenden Zähnen ?
Lassen Sie mich daher fortfahren. Sobald der
Doktor eine kleine Praxis hatte, mietete er im
Erdgeschosse unseres Hauses ein Zimmer als
Sprechzimmer. Ich befragte ihn damals mitunter
im Scherz über Medizinen und Gifte, und
wieviel von dieser oder jener Arznei dazu gehören
würde, um einen Menschen zu töten. Dieser
Gegenstand interessierte ihn, und er wurde
beredt. Durch solche Gespräche wurde ich mit
dem Gedanken an den Tod vertraut, und so waren
Liebe und Tod die beiden Dinge, die meine
kleine Welt ausfüllten. – Meine Geschichte ist
jetzt bald zu Ende. Es ist nicht viel mehr übrig.“
„Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß der Doktor
merkwürdig zerstreut geworden war, und es
schien, als ob er mir etwas zu verbergen suchte,
dessen er sich schämte. Eines Tages kam er herein.
Er war sorgfältiger als gewöhnlich gekleidet
und lieh sich meines Bruders Wagen für den
Abend.
Ich konnte meine Neugier nicht länger bezwingen
und ging hinauf zu meinem Bruder, um
zu erfahren, was der Doktor vorhatte. Nachdem
ich erst über andere Dinge geredet hatte, fragte
ich ihn endlich: ‚Übrigens, Dada, wohin will
der Doktor heute abend in deinem Wagen?‘
‚In den Tod‘, antwortete mein Bruder kurz.
‚Ach, sag' es mir doch‘, drängte ich. ‚Wohin
will er in Wirklichkeit?‘
‚Er will sich verheiraten‘, war die etwas deutlichere
Antwort.
‚Ach, wirklich!‘ sagte ich und brach in ein
langes, lautes Gelächter aus.
Ich erfuhr allmählich, daß die Braut eine
reiche Erbin sei, die dem Doktor ein großes Vermögen
mitbringen würde. Aber warum kränkte
er mich, indem er mir dies alles verbarg ? Hatte
ich ihn je gefleht und gebeten, sich nicht zu verheiraten,
weil es mir das Herz brechen würde ?
Man darf den Männern nie trauen. Ich hatte in
meinem Leben nur einem einzigen Manne getraut,
und nun machte ich diese Entdeckung.
Als der Doktor nach getaner Arbeit hereinkam
und im Begriff war aufzubrechen, sagte
ich lachend zu ihm: ‚Nun Doktor, Sie wollen
sich heute abend verheiraten ?‘
Meine Heiterkeit brachte ihn nicht nur aus
der Fassung, sie verletzte ihn auch.
‚Aber wie kommt es denn,‘ fuhr ich fort,
‚daß wir keine Illumination und keine Musikkapelle
haben?‘
Er erwiderte mit einem Seufzer: ‚Ist eine
Hochzeit denn ein so froher Anlaß ?‘
Ich brach in ein erneutes Gelächter aus.
‚Nein, nein,‘ rief ich, ‚dies geht wirklich nicht.
Hat man je von einer Hochzeit ohne Lichter und
Musik gehört ?‘
Ich quälte meinen Bruder so sehr, daß er sofort
alles bestellte, was zu einer vergnügten
Hochzeit gehört.
Die ganze Zeit schwatzte ich in einem fort
lustig von der Braut, von dem bevorstehenden
Fest und was ich tun wollte, wenn die Braut ins
Haus käme. ‚Und, Doktor,‘ fragte ich, ‚werden
Sie nun noch fortfahren, den Leuten den
Puls zu fühlen?‘ Hahaha! Wenn man auch nicht
sehen kann, was in einem Menschen, besonders
in einem Mann, vorgeht, so will ich doch darauf
schwören, daß meine Worte den Doktor wie
Dolchstöße ins Herz trafen.
Die Hochzeitsfeierlichkeit sollte spät am
Abend stattfinden. Bevor der Doktor aufbrach,
sollte er mit meinem Bruder draußen auf der
Terrasse ein Glas Wein trinken, wie sie es alle
Tage zu tun pflegten. Der Mond war gerade
aufgegangen.
Ich kam lächelnd zu ihnen und sagte: ‚Haben
Sie denn Ihre Hochzeit vergessen, Doktor?
Es ist Zeit aufzubrechen.‘
Ich muß hier noch eine Kleinigkeit erwähnen.
Ich war inzwischen in die Apotheke hinunter
gegangen und hatte ein kleines Pulver geholt,
das ich unbemerkt in des Doktors Glas
geschüttet hatte.
Der Doktor leerte sein Glas auf einen Zug
und sagte dann mit vor Erregung erstickter
Stimme und mit einem Blick, der mir in die
Seele schnitt: ‚Dann muß ich fort.‘
Die Musik begann zu spielen. Ich ging in
mein Zimmer und kleidete mich in meine Brautgewänder
von Seide und Gold. Ich nahm meine
Juwelen und Schmucksachen aus dem verschlossenen
Schrank und legte sie alle an; ich
malte das rote Abzeichen meiner Frauenwürde
auf den Scheitel meines Haares. Und dann bereitete
ich mir unter dem Baum im Garten mein
Lager.
Es war eine wundervolle Nacht. Der sanfte
Südwind küßte die Müdigkeit der Welt hinweg.
Der Duft des Jasmins und der Quittenblüten
füllte den Garten mit berauschender Freude.
Als die Klänge der Musik leiser und leiser
wurden und das Licht des Mondes blasser und
blasser; als die Welt mit ihren altvertrauten
Vorstellungen von Heim und Verwandten meinem
Bewußtsein wie ein Traum zu entschwinden
begann, – da schloß ich die Augen und
lächelte.
Ich glaubte, daß, wenn die Leute kommen
und mich finden würden, jenes Lächeln noch
auf meinen Lippen weilen würde wie die Spur
von rotem Wein, daß ich jenes Lächeln mit mir
nehmen und daß es mein Antlitz verklären
würde, wenn ich so hinüberschlummerte in mein
ewiges Brautgemach. Aber ach, wo blieb das
Brautgemach ? Wo die Brautgewänder von Seide
und Gold ? Als ich von einem rasselnden Geräusch
in mir erwachte, fand ich drei kleine
Buben, die an meinem Skelett Osteologie lernten.
Wo einst in meinem Busen Freude und Leid
pochten und die Blütenknospen der Jugend sich
eine nach der andern erschlossen, da war jetzt
der Lehrer geschäftig mit seinem Zeigestock und
zählte meine Knochen auf. Und jenes letzte
Lächeln, das ich mir so sorgfältig einstudiert
hatte, haben Sie davon eine Spur bemerkt ?
Nun, sagen Sie mir, wie gefällt Ihnen die
Geschichte ?“
„Sie war wundervoll“, sagte ich.
In diesem Augenblick begann der Hahn zu
krähen. „Sind Sie noch da ?“ fragte ich. Niemand
antwortete. Durchs Fenster dämmerte
der Morgen.
Gemälde von Rabindranath Tagore
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