Saturday, August 27, 2016

DIE MENSCHEN DER EHE Schilderungen aus der kleinen Stadt - von JOHN HENRY MACKAY (der zweite Teil)


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VII

Auf hohen Terrassen erhob sich vor ihm das "Schloß", ein massives, altes Gebäude mit vielen Anbauten aus neuerer Zeit. Uralter Efeu hing an den Mauern nieder, von einem Garten in den anderen, bis er die Dächer der Häuser an ihrem Fuße fast berührte.

Das Schloß hatte keine Bestimmung mehr. Seine einzelnen Stockwerke
mit ihren vielen Flügeln und unzähligen Zimmern waren an einige
Familien vermietet, an die reichsten der "Alldahiesigen" und 
"Hiesigen", welche keine eigenen Häuser besaßen.

Der Fremde, der hier nicht fremd war, stieg langsam den steilen Weg hinauf, der an der alten, düsteren Kirche, sie stand in seltsamen unterirdischen Gängen, die längst verschüttet waren, mit dem Schlosse in Verbindung, zu dem weiten, totenstillen Platze hinauf, der die Flügel des Schlosses gleichsam bis an die Ränder der Anhöhe auseinandergedehnt hatte. Gras, das eine glühende Sonne gelb sengte, wucherte hier zwischen den plumpen, unregelmäßigen Pflastersteinen; nie spielte hier die Jugend der Stadt, auf diesem weiten Platze, der wie geschaffen war zum Umhertummeln. Zuweilen nur bewegte sich eine der weißen Gardinen hinter den hohen Fenstern, und ein behaubter Kopf lugte zwischen ihnen durch, um bald wieder zu verschwinden, denn die leere Oede dieses weiten Raumes wurde selten unterbrochen durch eine Gestalt, die ihren Weg über ihn hinweg nahm, um die andere Seite zu erreichen. Die meisten gingen an den langen Fluchten entlang, um plötzlich in einer der Türen zu verschwinden, öfter während des Tages, in den Nachmittagsstunden geschah es, daß Wagen - moderne, elegante Geschirre mit vortrefflichen Pferden - an den Toren hielten.

Und wieder mußte Grach lächeln, als er diesen weiten, toten Platz überschritt, auf dem die Sonne ungestört die Spiele ihrer Schatten trieb, den er als Kind nie betreten hatte und von dem er nie geglaubt hätte, daß er ihn je betreten würde.

Aber hier mußte sie der Adresse in ihrem Briefe nach jetzt wohnen.

Er ging langsam. Und doch war er neugierig geworden auf das
Wiedersehen. So lange war es her, daß er keine Blicke mehr in das
Heimwesen deutschen Bürgertums getan hatte. Er ein Fremder und
alles ihm fremd geworden, was von dorther kam . . .

VIII

Er klingelte an der Tür, von welcher er glaubte, daß es die richtige sei.

Schrill hallte der Klang der Glocke. Dann kamen schlürfende
Schritte, und ein Diener in Livree, aber mit vorgebundener blauer
Schürze, öffnete. Es war keine Besuchsstunde. Aber das war dem
Fragenden jetzt natürlich ganz gleichgültig.

"Ist Frau Boehmer zu Hause ?"

"Wen darf ich melden ?"

"Ist Frau Boehmer zu Hause ?" wiederholte er noch einmal.

"Ja, aber, ich weiß nicht gnädige Frau "

"Sagen Sie ihr, ein Herr wünsche sie zu sprechen."

"Gnädige Frau sind im Garten. Ich werde ihr melden"

Der Diener war völlig außer Fassung und Würde gebracht durch den energischen Ton des Besuchers.

"Dann werde ich Frau Boehmer selbst im Garten aufsuchen. Wo ist der
Garten ?"

Der Diener wagte keine Einwendung mehr. Er warf seine Schürze fort und ging voran.

"Hier, bitte."

Sie durchschritten hohe und kühle Gänge, über große Steinfliesen hin, mit denen der Boden belegt war, vorbei an breiten und vornehmen alten Treppen, deren Stufen niedrig und deren Geländer mit weißer, sauberer Oelfarbe gestrichen waren.

Dann öffneten sich die Terrassen der Gärten vor ihnen, die da lagen: still, wie im Schlummer, in der brütenden Nachmittagssonne, weite Blicke in das Tal nach Osten und Westen eröffnend, wo die Schlote qualmten und das Leben hämmerte.

Von wohlgepflegten, üppigen Beeten stiegen die Düfte von reifen
Blüten empor. Der Kies der geharkten Wege war so fein, daß er die
Tritte der Hinschreitenden lautlos aufnahm.

"Ich habe mich anders besonnen," sagte der Fremde plötzlich, "gehen Sie voran und melden Sie Frau Boehmer, ein Herr wünsche sie zu sprechen."

Der Diener versagte es sich jetzt nicht, mit den Achseln zu zucken, aber er ging.

Vor einem Tulpenbeet blieb Grach zögernd stehen und sah nachdenkend in die purpurnen, weitgeöffneten Kelche nieder.

IX

Der Diener kam zurück.

"Gnädige Frau lassen bitten" schnarrte er.

Aus einer Laube im Hintergründe des Gartens schimmerte ein weißes
Kleid.

Dort, in einem Modejournal blätternd, das sie sichtlich unlustig bei Seite warf, lag in einen Schaukelstuhl hingestreckt eine junge Frau von ungewöhnlicher Schönheit.

Sie blinzelte dem Nähertretenden zu, aber sie machte keine Miene, sich zu erheben.

Erst als er ihr die Hand hinstreckte und lächelnd sagte: "Ich habe deinen Brief erhalten, Clara, und bin selbst gekommen, ihn zu beantworten" sprang sie mit einem Ruf der Ueberraschung in sichtlicher Verlegenheit auf.

"Nein, wie du dich verändert hast, Franz !" rief sie ein paar Mal; dann aber, nachdem sie sich gesetzt hatten, und während sie ihn mit jener prüfenden Neugier, die nur der Frau eigen ist, musterte, folgte ein Schwall von Fragen, deren Antworten nicht abgewartet wurden, weil sie gestellt waren, ohne daß der Verstand sich etwas bei ihnen dachte und das Herz das Geringste bei ihnen fühlte.

Bei dem ersten Wort, das sie gesprochen, merkte er, daß diese Frau geistig um keinen Schritt weitergerückt war und ganz wie früher  hörte er gutmütig und geduldig eine Zeit lang ihrer Neugierde zu, beantwortete kaum etwas, und begnügte sich damit, hier und da mit einem Ja oder Nein, oder höchstens einem kurzen Wort sein Schweigen zu unterbrechen.

So kam es, daß sie ihn nach einer halben Stunde nach allem gefragt, aber nichts von ihm erfahren hatte. Später pflegte sie sich dann darüber zu beklagen, daß sie allen Menschen alles, keiner aber ihr etwas erzähle.

Dann fiel ihr ein, daß sie noch nicht wußte, wo er abgestiegen war :

"Du wirst doch bei uns wohnen, Franz ? gewiß, nicht wahr ?"

Sie hatte bisher vermieden, ihn voll anzusehen, nun aber begegneten sich ihre Augen. Sie errötete leicht, als sie seine Antwort vernahm.

"Unter diesen Umständen ?" sagte er ernst und fragend zugleich.

Als sie nun, die Hände erst abwehrend von sich streckend, dann sie vor dem Gesicht zusammenschlagend in gemachtem Schmerze, in ihren Schaukelstuhl zurücksank, hätte er hundert gegen eins wetten mögen, daß sie sich erst in diesem Augenblicke genauer dessen erinnerte, was sie ihm geschrieben . . .

Sie kam nicht auf ihre Frage zurück. Ihre Gedanken weilten bereits bei anderem.

"O laß uns jetzt noch nicht davon sprechen, von meinem Unglück, du bleibst doch länger hier, nicht wahr ? Einige Tage, einige Wochen . . . Du mußt doch alle wiedersehen, deine alten Freunde und Schulkameraden, denke dir, die kleine Ehrling, neben der ich in der Schule saß und die so oft zu uns kam—du mußt dich doch erinnern ? -  hat einen Landgerichtsrat geheiratet und schon drei Kinder, und dein dicker Freund Rempe, der mit den vielen Schmissen doch das weißt du nicht, du kanntest ihn ja nur auf der Schule, und da schlägt man sich noch nicht, ja, was wollte ich sagen . . . ja, der dicke Rempe hat die reiche Krüger gekriegt, die mit den Simpelfranzen und den seidenen Kleidern. Ach ja, es hat sich viel verändert hier"

Sie scheute sich, ihn wieder zu fragen, denn sie fürchtete seinen Blick, seine ernste, fast harte Stimme, mit welcher er eben gesagt hatte: "Unter diesen Umständen?"

Und so sprach sie weiter: Von dem langen Lenz, der sich " ach ja, das war es ja, was ich sagen wollte" wegen einer Frau habe schießen müssen und eine Kugel in den Unterleib bekommen habe; von den Schicksalen der großen Familie Neuhaus, wo so viele Söhne gewesen seien einer habe sich vergiftet, und der andere sei nach Amerika, denn der Vater sei so hart, aber es sei doch ein rechtes Elend, wenn die Söhne ihren Eltern nicht folgten; und von - und immer so weiter, ein seichtes, unerquickliches Geschwätz, das den Zuhörer betäubte, ängstigte und seine Nerven folterte.

Der hörte zuletzt überhaupt nicht mehr hin. Während sie so vor ihm saß, in der üppigen Schönheit einer reiferen Frau, dachte er daran, daß er es gewesen war, der die Knospe dieser Blüte mit dem ersten Kusse geweckt hatte.

X

Ihre Schönheit hatte alles gehalten, was sie versprochen. Schon als Kind war sie gradezu auffallend gewesen, obwohl dieses Kind weder graziös und fein, noch von irgendwie eigenartigem Liebreiz gewesen war. Aber das blonde Haar konnte heute kaum reicher sein, als es damals gewesen war, und der feuchte Glanz dieser blauen Augen, der ihm heute nur ein Zeichen trübseliger Langeweile schien, war ihm und anderen denn die halbe Klasse war in sie verliebt damals schwärmerische Idealität und echt weibliches Hingebungsbedürfnis gewesen.

Nicht für lange.

Aber es gab eine kurze Zeit in seiner Jugend es war zwei Jahre vor ihrer Trennung, da war ihm das ständige Zusammenleben mit seiner Halbschwester unter den blinden Augen der Mutter sehr gefährlich geworden.

Seine Sinne erwachten und verlangten nach ihr. Ihre beständige Nähe brachte sie in Aufruhr und hielt sie wach.

Den ganzen Sommer hindurch verbrachte er in qualvoller Aufregung, in einem beständigen Zwiespalt, der seiner energischen Natur schwerer zu ertragen war als alles andere.

Sie war ihm gleichgültig. Alles, was sie sprach, ließ ihn kalt. Ihr Benehmen gegen ihre Mutter empörte ihn mehr als je, wenn er sich auch niemals tätlich darum kümmerte, was zwischen diesen beiden Personen vorging. Ihr Kokettieren mit seinen Kameraden, die sich über das eitle Mädchen lustig machten, fand er lächerlich und doch beschäftigte sie ihn. Er träumte von ihr. Er glaubte sie in den Armen zu halten. Er haschte nach ihrer Hand, wenn sie allein waren, und er war ruhiger, wenn sie ihm dieselbe nicht entzog. Er war öfter um sie, als je zuvor. Die Mutter freute sich darüber, daß das sonst so kühle Verhältnis zwischen Schwester und Bruder sich besserte.

Eine unheimliche Glut ging von ihr aus, die ihn wahnsinnig machte. Tage konnten vergehen, ohne daß sie ihm gefährlich war, aber dann kam immer wieder eine Stunde, in der er von ihrer Seite aufspringen mußte, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie zu sehen, ohne sie an sich zu reißen.

Er fürchtete sich vor sich selbst; aber vor ihr graute ihm.

Ein später Abend brachte die Erlösung. Sie saßen zusammen in der Laube bei einer trübe brennenden Lampe. Die Mutter hatte sich gähnend und seufzend zur Ruhe begeben. Es war ein Abend voll wunderbarer Weichheit der Luft. Der Glanz der Sterne war feucht und tief.

Sie wagte es zu bleiben. Sie spielte mit dem Feuer in verzehrender
Neugier.

Er las in einem Buche und hielt den Kopf gesenkt, um sie nicht ansehen zu müssen. Er hatte noch zu lernen und glaubte, sie würde gehen.

Sie aber ging nicht, sondern beugte sich noch weiter vor, mit ihrer weichen Stimme, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, eine gleichgültige Frage stellend.

Fast berührten sich ihre Stirnen. Da riß er ihren Kopf mit einer jähen Bewegung an sich und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen Küssen: er küßte ihre Augen, ihre Wangen, ihren Mund, ihren Hals.

Sie wehrte sich, aber nur schwach. Während sie sich indessen, ein halb ernstliches, halb freudiges Erschrecken heimlich überwindend in der Ueberlegenheit der Frau fragte, ob sie ihn gewähren lassen solle, fühlte sie, wie er sie plötzlich losließ und von sich stieß.

Wenn sie oft nachher nachdenklich über diese jähe Veränderung seines Wesens in dieser Minute sich einbilden wollte, es sei ein moralischer Antrieb gewesen, der ihn so plötzlich von ihr gerissen, so irrte sie sich völlig.

Ein Duft war von ihr ausgegangen, als er an ihren Lippen hing, und in ihren Haaren wühlte, der ihn plötzlich ernüchtert hatte. Derselbe Duft, der ihn betäubt hatte in der Ferne und ihn angezogen, stieß ihn ab, als er in nächster Nähe auf seine Sinne wirkte. Es war direkter Widerwille, der ihn erfaßte unerklärlich, aber zwingend.

Eben noch über alles begehrenswert, war sie ihm jetzt so gleichgültig, wie nur je zuvor.

Hurtig raffte er seine Bücher zusammen und eilte mit einem schnellen
"Gute Nacht!" in das Haus.

Sie sah ihm nach und verstand ihn nicht.

Ihr Zauber war völlig gebrochen.

Sie merkte es sofort am nächsten Tage.

Sie bot viel auf, um ihn wieder zu gewinnen. Aber nichts mehr gelang ihr.

Im Laufe der nächsten beiden Jahre, in denen sie wieder nebeneinander herlebten, vergaßen sie fast die Szene dieses Abends.

Auch er wurde ihr gleichgültig.

Sie dachte bereits an ihren zukünftigen Gatten, wenn sie die Männer sah, die sich um ihre Schönheit drängten.

Sie wählte sich einen der ältesten unter ihnen und fast den reichsten.

An ihren Halbbruder dachte sie erst wieder, als die Langeweile ihrer
Tage sie nach neuen Sensationen suchen ließ, und die Neugierde neue
Nahrung für ihre klatschhafte Zunge verlangte.

XI

Der Zauber war gebrochen.

Sie war ihm nur noch eine Studie, wie sie dort vor ihm saß: die kleinen Füße in den eleganten Schuhen vorgestreckt, ermüdet durch Nichtstun, scherzend, liebäugelnd mit der Wohlhabenheit ihrer Umgebung, denn sie fand, daß er es doch wenig weit gebracht hatte, seiner einfachen, fast unmodernen Kleidung nach zu schließen.

Doch sie begann es zu merken, daß auch er sie beobachtete, obwohl er sie nicht ansah und offenbar nicht hörte, was sie sagte.

Sie wurde unruhig.

"Aber du hörst mir ja gar nicht zu, und ich sitze hier und erzähle dir alle Neuigkeiten von Bedeutung, die seit zehn Jahren hier geschehen sind"

Er sah auf. Und wieder errötete sie unter seinem Blick.

Wieder suchte sie ihn abzulenken.

"Und nächsten Mittwoch ist Harmonie-Abend im Kasino: Musik und Ball, da wirst du alle wieder sehen, die du kennst, unsere ganze Gesellschaft"

Zum erstenmal sprach sie von ihrem Mann:

"Er hat mir zwar verboten, hinzugehen, ersagt, es sei zu viel für mich", sie stampfte mit dem Fuße auf, "aber jetzt, wo du hier bist, muß er es mir erlauben, muß es, muß es !"

Sie hielt einen Augenblick inne, etwas erschöpft und erhitzt von dem langen Sprechen, aber schon ging es weiter.

"Oder besser noch, wir geben eine Gesellschaft, eine große 
Gesellschaft dir zu Ehren" sie klatschte in die Hände vor 
Vergnügen und wartete offenbar auf einen ähnlichen Ausbruch des 
Entzückens bei ihm.

Aber er erkannte jetzt, daß es die höchste Zeit war, dieser Komödie ein Ende zu machen.

Er rückte seinen Stuhl näher und beugte sich etwas vor, so daß er gerade vor ihr saß.

Sie fühlte, nun kam es.

Fast scherzend begann er.

"Ich glaube, du langweilst dich, Clara."

"Ach ja, ich langweile mich" seufzte sie.

"Nun, so solltest du dir Tätigkeit suchen"

Sie antwortete nicht. Er lächelte unmerklich und fuhr fort: "Oder aber Zerstreuung"

Da sah sie auf und richtete ihre schwimmenden Augen auf ihn.

"Zerstreuung - aber wie ? Was gibt es hier für Zerstreuung ?"

"Reise."

"Reisen, ich kann ja nicht, er hat ja nie Zeit."

"Wer ?"

"Nun, er, mein Mann."

"Daran dachte ich nicht. Ich meinte natürlich, du solltest allein reisen."

"Allein ?!" wiederholte sie mit dem Ausdruck des Erstaunens, des
Erschreckens. "Wie kann eine verheiratete Frau allein, ohne ihren 
Mann, reisen?"

"Weshalb kann denn eine verheiratete Frau nicht allein, ohne ihren 
Mann, reisen ?" Unwillkürlich brauchte er dieselben Worte wie sie. 
Aber es geschah ganz ohne spottende Absicht.

Er wartete auf ihre Antwort. Sie wich ihm aus.

"Ja, ich weiß, daß du so seltsame Ansichten über die Ehe hast. Wie heißt doch dein Buch darüber ? Eine Freundin, die Frau von Redlich, du kennst sie nicht, sie sind erst drei Jahre hier, der Mann ist Hauptmann ja, sie hat es mir gesagt. Sie wollte mir auch das Buch leihen, sie hat es mir ganz fest versprochen, aber sie hat es mir immer noch nicht gebracht, denn sie muß erst den Professor Hastrich vom Gymnasium fragen, dem gehört es . . ."

Grach hatte Mühe, nicht loszulachen.

Daß man ein Buch auch kaufen könne, war dieser Frau offenbar noch nicht bekannt, und sie, die gewohnt war, auf Damast zu schlafen und von silbernen Schüsseln zu speisen, scheute sich nicht, die schmutzigsten Leihbibliotheksbände durch ihre weißen Hände gleiten zu lassen. Auf dem Tische vor ihm lagen einige Exemplare dieser Art.

Die Sonne brannte durch die Blätter der Laube. Ihre Glut hatte die höchste Höhe erreicht. Ihn dürstete. Er bat um etwas Wein und Wasser. Während der Diener es brachte, schwiegen sie. Da sie sah, daß er nicht antwortete, sagte sie: "Könntest du mir nicht sagen, was du in deinem Buche geschrieben hast über die Ehe, nur ganz kurz , ich komme so selten dazu, ein Buch zu lesen"

Er beugte sich wieder zu ihr hin.

"Ich glaube, daß es so viel verschiedene Neigungen und Bedürfnisse gibt, als es Menschen gibt, und ich wünsche, daß jeder Mensch diesen seinen Neigungen ungestört nachlebe, aus dem einfachen Grunde, um selbst ungestört den meinen folgen zu können.

Ich maße mir nicht an, die Menschen zu verstehen. Wir verstehen überhaupt wenig von einander. Aber frech greifen wir täglich und stündlich in das Leben unserer Mitmenschen ein, unter dem lügenhaften Vorgeben, ihnen helfen zu wollen. Ich möchte, daß ein jeder nach seiner Façon glücklich werde hier auf der Erde.

So ungefähr ist der Grundgedanke meines Buches. Du hast es nicht gelesen; ich mußte ihn dir daher schnell herzeichnen.

Wovon man dir aber wahrscheinlich erzählt haben wird, das ist das Kapitel, welches ich 'Die Menschen der Ehe' betitelt habe. Ohne irgendwie zu klassifizieren oder zu schematisieren, habe ich in ihm die Frage gestellt, ob es nicht einen größeren Teil Menschen gäbe in unserer Zeit, auf welche diese Bezeichnung mit Recht sich anwenden ließe; Menschen der Enge im Gegensatz zu den Menschen der Weite; Menschen, die nie in Konflikt kommen mit ihrer Umgebung, da sie alle Geschicke alle, die aus der Menschen Hände kommen als von Gott ihnen auferlegt betrachten; Menschen der kleinen Zufriedenheit, die ihr Glück finden in den Winkeln des Tages, immer an dem einen Tische und immer an derselben Brust: Menschen, die nicht wissen, was es heißt, ein Versprechen auf Lebenszeit zu geben, weil sie nicht wissen, was es heißt: zu leben; Menschen der Stagnation, nicht Menschen der Bewegung; Nummern, aber Nummern, welche zu Zahlen werden, und welche ich deshalb hasse !

Menschen der Gewöhnlichkeit ! Menschen der Ehe !"

Er hatte fast langsam, mit Ruhe und ohne äußere Leidenschaft gesprochen.

Aber während er sprach, hatte er vergessen, zu wem er sprach.

Als er geendet hatte und es merkte, verdroß es ihn. Seit so langer
Zeit war er gewohnt, zu sprechen, wie er wirklich dachte, so daß er
es verlernt hatte, seine Gedanken zu modeln nach dem Ohr seiner
Zuhörer.

Es hätte ihn nicht zu verdrießen brauchen. Denn er hatte zu tauben
Ohren gesprochen.

"Verzeih," sagte er, er glaubte, sehr lange gesprochen zu haben "verzeih, daß ich so lange sprach. Ich möchte nicht mißverstanden werden in dem, was ich dir jetzt sagen muß."

Wieder zwang er sie, ohne es zu wollen, zu erröten. Er hatte bis jetzt kaum den Mund aufgetan, sie hatte unaufhörlich geplappert: er bat sie um Entschuldigung.

Sie begann ihn zu hassen.

Verstanden hatte sie kaum etwas von dem, was er gesagt hatte. Sie hatte ihm fast so wenig zugehört, wie er ihr. Ihre Gedanken waren jetzt damit beschäftigt, wie sie ihn auf die beste Manier loswerden könne.

Für sie gab es keine bedeutenden und unbedeutenden Menschen. Für sie gab es nur Menschen, die ihr zuhörten. Und die Männer zumal ! Von denen war sie ja gar nichts anderes gewohnt, als daß sie ihr zu Füßen lagen.

Daher beleidigten sie diese Ruhe und Sicherheit.

"Ach, ich bin sehr unglücklich!" rief sie und deckte mit den Händen die Augen. "Ich weiß nicht, was ich tun soll . . ."

Es war ihr zweites Mittel, mit diesem Manne fertig zu werden. Ihr drittes und letztes waren die Tränen. Aber zu diesem wollte sie erst greifen, wenn alle anderen erschöpft waren.

"Ja, Clara, wenn du nicht weißt, was du tun sollst, wer soll es dann wissen ?"

Sie sah ihn an mit ihren hellen Augen, wie ein hilfloses Kind.

"Du bist doch hergekommen, um mir zu helfen."

Er stand auf. Diese Frau verstand nichts, sie konnte und wollte nichts verstehen.

Er mußte sie zwingen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, vor denen sie floh, feig, jammernd und haltlos.

Er blieb vor ihr stehen.

"Nach deinem Briefe mußte ich annehmen, daß du den unwiderruflichen Entschluß gefaßt hattest, dich von deinem Manne auf immer zu trennen, da du ein Weiterleben mit ihm als unmöglich erkannt hast. In der Ausführung dieses Entschlusses, dir zu helfen, bin ich hergekommen, nicht aber, um dich in deinen Entschlüssen zu beeinflussen. Und auch nicht, wie du dir vorhin glauben zu machen suchtest, um diese Stadt, die mir ganz uninteressant ist, und alte Bekannte, von denen ich nichts mehr weiß, und die nichts mehr von mir wissen wollen, wiederzusehen, oder auf eure Bälle und in eure Gesellschaften zu gehen, denn ich verkehre überhaupt nicht in bürgerlichen Kreisen. Meine Zeit ist sehr bemessen "

Er ging hastig umher. Sie fürchtete sich vor ihm.

"Aber du hast mich gerufen mit dem Schrei nach Hilfe. Läßt man den Sinkenden vor seinen Augen untergehen, wenn man seine verzweifelnde Stimme vernimmt? Und wenn" so unterbrach er sich unwillkürlich lächelnd"ich dich auch nicht auf dem offenen Meere kämpfen sah, so sah ich dich doch ringen mit der trüben Flut dieses Teiches."

Er wurde wärmer.

"Deine verstorbene Mutter ist sehr gut gegen mich gewesen. Sie hat mir, dem Verwaisten, ein Dach und einen Tisch geboten viele Jahre lang. Und dann haben wir beide unsere Jugend nebeneinander verlebt, wenn auch nicht miteinander. Das vergißt sich nicht so leicht. Darum bin ich gekommen, nur darum."

Er hatte eine Rose vom Strauch gerissen und zerstreute während des
Sprechens ihre Blätter achtlos umher.

"Wie er die Blume behandelt !" dachte sie. Sie hatte nur noch einen Wunsch: diese erbarmungslos klare und schneidende Stimme nicht mehr zu hören. Aber diese Stimme klang weiter.

"Ich komme hierher in dem festen Glauben, dich bereit zu finden, den entscheidenden Schritt zu tun. Ich finde dich völlig schwankend, ohne jeden Entschluß sage mir doch, weshalb du mich eigentlich gerufen hast ?"

Sie sah sich bis auf den letzten Punkt gedrängt und verließ ihn, um sich zu retten, indem sie zum Angriff überging.

"Du sprichst so viel", klagte sie, "von den Mißständen in der Ehe.
Willst du mir nicht sagen, wie du dir denn die Ehe denkst ? Wenn du
etwas beseitigen willst, so mußt du doch etwas anderes an dessen
Stelle setzen können."

Diesen letzten Satz hatte sie einmal irgendwo gehört, und er däuchte ihr gut und passend, um ihn jetzt anzuwenden. Kein Weib ist ganz ohne Schlauheit. Auch sie war es nicht.

Grach antwortete sofort.

"Ich kenne nur ein Verhältnis wie zwischen Mensch und Mensch, so zwischen Mann und Weib, das ich würdig nenne: das auf gegenseitiger Unabhängigkeit beruhende; denn es ist zugleich das einzige, das die gegenseitige Achtung ermöglicht. Der Herr verachtet den Knecht, und der Knecht haßt den Herrn."

Mit verständnislosen Augen sah sie vor sich hin.

"Und in der Ehe ?" fragte sie unsicher.

"Bemitleidet der Mann heimlich die Frau, während die Frau ihn heimlich belächelt."

Verstohlen blickte sie ihn von der Seite an.

Woher weiß er das ? war ihr erster Gedanke.

"Es gibt doch so viele glückliche Ehen"

"Wie viele kennst du ?"

"Nein,  aber..."

"Nun, ich leugne es. Es gibt verschwindend wenige. Was Glück genannt wird, ist Zufriedenheit. Und was Zufriedenheit scheint, ist nur Gewöhnung jene Gewöhnung der schwächlichen Ohnmacht, die davor zurückschaudert, Ketten zu brechen, und in feiger Nachgiebigkeit Schritt für Schritt zurückweicht, Stück um Stück ihrer eigenen Würde, ihrer eigenen Freiheit und, was das Traurigste ist, ihres eigenen Glückes opfert, um das zu werden, was eine alberne Oeffentlichkeit einen guten Ehegatten, ein treues Eheweib nennt."

"Aber wie denkst du dir denn" begann sie zu wiederholen.

"Das Verhältnis zwischen Mann und Frau in der Freiheit ? Ich verstehe eine solche Frage kaum. Vernünftige Menschen kommen zusammen, wenn sie sich lieben und gehen auseinander, wenn sie sich nicht mehr lieben. Mag sein, daß sie bis an ihr Lebensende zusammenbleiben in Liebe und Einigkeit. Oft wird es nicht der Fall sein."

Auch sie stand nun auf.

"Aber um Gotteswillen, das ist ja im höchsten Grade unmoralisch, was du da sagst!" rief sie. "Es ist ja unanständig !"

Er lachte nur, laut und rücksichtslos.

Er hatte ihr so viel Klugheit zugetraut, daß sie ihn fragen würde, was aus den Kindern der freien Verbindung werden würde. Aber er täuschte sich auch diesmal. Sie rief wie alle Schwachköpfe die Moral zu Hilfe, wo ihr Verstand nicht mehr ausreichte.

Gleichmütig sagte er:

"Ja, über Anständigkeit und Ehrenhaftigkeit gehen meine Anschauungen und die deiner Klasse, welche du teilst, wie ich sehe, weit auseinander. Ich weiß, daß es noch viele, viele Menschen gibt, die eine Vereinigung erst dann für anständig halten, wenn sie sich dieselbe gegenseitig erlaubt haben: Standesamt - Kirche und Pfaffe - Hochzeitsreise; die es anständig nennen, wenn zwei Menschen zusammenbleiben, die sich nicht mehr sehen können und die erkannt haben, daß auch das leiseste Gefühl sie nicht mehr zusammenhält, sondern nur noch das gegebene Wort. Ich weiß aber auch, daß es Menschen gibt, welche jede Umarmung, die aus anderen Gründen erfolgt als aus gegenseitiger Liebe, gemein nennen, und zu diesen Menschen gehöre auch ich. Und eins möchte ich dir und allen, die die Ehe verteidigen und unsere Anschauungen der freien Liebe so laut und emphatisch beschreien, eins Möchte ich euch allen, euch Menschen der Ehe, sagen: Tut, was ihr wollt, aber zeigt uns durch eure eigenen glücklichen Ehen, daß wir im Unrecht sind und ihr im Recht seid mit eurer Heiligsprechung der Ehe ! Dann werden wir euch vielleicht glauben, eher nicht !"

Er griff nach Hut und Stock.

"Adieu, Clara," sagte er und gab ihr die Hand, "leb' wohl ! Ich habe gesehen, daß du nicht unglücklich bist. Du bist unzufrieden, natürlich, du bist ja nicht frei. Aber wer kann dir da helfen, wenn du es nicht selbst tust ?"

Sie war vollständig verwirrt. Sie wollte ihm noch etwas entgegnen, sie hatte den glühenden Wunsch, ihn noch zu demütigen, aber sie fand kein Wort mehr seiner kalten Ueberlegenheit gegenüber. Nicht einmal ihr letztes Mittel jetzt anzuwenden, schien ihr zweckmäßig. O, wenn sie das vorher gewußt hätte, nie hätte sie ihm geschrieben !

Und sie kämpfte mit ihren Tränen der Wut und des Zornes, als sie ihm gegen ihren Willen die Hand geben mußte. Er aber ergriff sie und schüttelte sie freundlich. Dann ging er mit seinen schnellen Schritten den Kiesweg entlang, durch den hohen und kühlen Flur an der weißen Treppe vorbei und über den weiten Platz, der verlassen lag wie vor einigen Stunden.

Als er in seiner Mitte angelangt war, kam von der anderen Seite her ein älterer Herr. Er ging schon gebeugt.

Grach sah ihn in die Tür treten, die er soeben verlassen. War das ihr Mann ?

Wenn er mit den Blicken die Wände hätte durchdringen können, wäre ihm folgendes Bild erschienen: Frau Clara Boehmer hing am Halse dieses älteren Herrn, küßte ihn stürmisch und bettelte ihm die Erlaubnis ab, am nächsten Mittwoch den Ball im "Kasino" besuchen zu dürfen (in einem ganz neuen Kleide), während sie in ihrem Innern beschlossen hatte, ihm fürs Erste noch nichts von dem Besuch zu erzählen, den sie so schnell und dazu noch auf eine verhältnismäßig so gute Art und Weise losgeworden war.

XII

Grach ging, ohne eigentlich zu wissen, wohin. Während er noch in Gedanken versunken war, die ihm in diesen Stunden gekommen und die er nun weiter und zu Ende dachte, während er so in Gedanken zu Boden sah, ging er ganz instinktiv die Wege, die zur Höhe des Berges zwischen den Gärten und ihren Mauern hinführten, und die er so zahllose Male als Kind und als Knabe im Spiele gelaufen, lernend, erzählend, mit Kameraden und allein, traurig und fröhlich gegangen war.

Er sah nicht, wohin er ging. Nur ins Freie, hinaus, fort aus der Albernheit dieser Enge, die ihn eben stundenlang umschnürt gehalten hatte !

Er war wie zerschlagen.

Seit Jahren hatte ihn nichts, keine Unterredung, keine Diskussion, keine Verhandlung, so ermüdet, wie die Unterhaltung dieses Nachmittags.

Ihm war, als habe er Zuckerwasser trinken müssen, in großen Quantitäten, ein Glas nach dem andern. Ihm war als sei er umhergetappt in schwülen und haltlosen Nebeln, als habe er etwas Weiches, Zerrinnendes zwischen seinen Fingern gehalten, etwas, das formlos war und keine Gestalt annehmen wollte, er mochte bilden, wie er wollte.

Es war die Moral der Bourgeoisie gewesen, mit der er eben diesen Kampf gekämpft hatte, diese satte, selbstgefällige, verächtliche Moral, die keinem Gedanken Stand hielt, an jeder Wahrheit genäschig schleckte und alles, alles, alles herunterzog in den Staub ihrer Mittelmäßigkeit. Er haßte sie, diese Menschen, er fühlte erst jetzt, wie sehr er sie immer gehaßt hatte: ihre Anschauungen, ihre Sitten, ihre Gewohnheiten, ihr heuchlerisches Weinen und ihr oberflächliches, humorloses Lachen.

Was wollte denn diese Frau eigentlich ?

Hatte sie nicht alles, was ein Mensch nur an äußerlichem Glück begehren konnte ?

Sie war schön. Sie war noch jung. Sie war reich. Aber sie hatte einen Mann, der wohl zuweilen eine eigene Meinung zu haben sich erlaubte; einen Mann, der sie nicht so befriedigte, wie ihre Natur es verlangte. Nun, warum ging sie nicht von ihm, wenn sie es bei ihm nicht mehr "aushalten" konnte ?

Nichts hielt sie, als die kindischen Anschauungen ihrer Klasse von
Ehre und Sittlichkeit.

Die Welt lag vor ihr. Warum ging sie nicht hinein, lernte kennen, was dem Suchenden so interessant, so geheimnisvoll, so neu und so unendlich reizvoll erscheinen muß ?

Weshalb genoß sie nicht die Schönheit dieser Welt, von der sie nichts kannte ?

Sie konnte nicht allein sein. Zu flach, um sich selbst auch nur auf eine Stunde zu genügen, konnte sie auf eine Stunde nicht die Gesellschaft entbehren, deren Leben ihre Nahrung war. Machtlos, sich durch ihre eigene Persönlichkeit neue Verbindungen zu schaffen, wäre sie draußen in der weiten Welt gestorben vor Langeweile, verzehrt von Sehnsucht nach dem kleinlichen Getriebe ihrer früheren Tage.

Deshalb mußte sie bleiben, wo sie war, auf dem Platze, auf den sie ihr eigener freier Wille gestellt, und den zu verlassen sie nicht die Kraft besaß.

Sie mußte ihr "Unglück" weitertragen.

Er glaubte nicht an dieses Unglück. In Wirklichkeit hatte er nie geglaubt, daß diese Frau jemals unglücklich werden könne.

Außerdem würde sie ihren Mann allmählich besiegen. Eine echte Frau, die sie war, würde sie ihn mürbe machen: langsam, nach und nach, mit aller Zähigkeit, würde sie ihm Locke auf Locke seiner Kraft rauben, bis er willenlos geworden war ihr gegenüber.

Der Mann war mehr zu bedauern als sie.

Für ihn aber war sie eine abgetane Sache. Es war eine Dummheit gewesen, daß er hierher gekommen war. Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich schämen, ihren Dummheiten ins Gesicht zu sehen. Aber er glaubte doch, nun sagen zu dürfen, daß er so bald keine neue machen würde.

Am liebsten wäre er noch heute Abend abgereist. Doch er wußte nicht, wann die Züge gingen. Und außerdem er war nun einmal hier. Die Hitze des Tages begann langsam nachzulassen. Er wollte noch einige Stunden verbringen auf dieser Höhe mit dem Blick auf die Stadt zu seinen Füßen. Irgendwo würde er schon ein grünes und kühles Plätzchen finden.

Und mit dem charakteristischen Ruck seiner Schultern schüttelte er die Erlebnisse dieses Nachmittages von sich: aus seiner Stirn und von seiner Brust.

Nun waren sie ihm erledigt für immer.

XIII

"Eine komische, kleine Stadt!" hatte er noch vor drei Stunden zu sich selbst gesagt.

Aber von dieser Höhe aus gesehen schien die Stadt weder klein noch komisch, und er dachte, es müsse gräßlich sein, in ihr zu leben und zu sterben.

Gewiß man wußte nicht mehr, was der Nachbar kochte und aß, aber was er trieb und ließ, man kümmerte sich darum noch immer bis in die kleinsten Einzelheiten hinein.

Daher wagte sich keiner zu rühren, und bei jeder Handlung, die er beging, sah er zuerst den anderen an, ob dieser dasselbe je getan oder je tun würde.

Es gab Männer von Genie in dieser Stadt: aber ihr Genie war völlig einseitig. Es war einzig darauf gerichtet, Geld in möglichst großen Massen zusammenzuspeichern. Ein schlechterer Gebrauch konnte von demselben nicht gemacht werden, wie es hier geschah: es blieb oft einfach liegen und vermehrte sich dann - infolge der Privilegien, die es schützten - von selbst. Es zog alle Kraft und alle Energie dieses ganzen Landes an sich. Es war ein kaltes, grausames, sinnloses Ungetüm, unersättlich und gierig.

Auch denen, die es besaßen, gab es nichts. Denn sie hatten keinen
Geist. Sie hatten keine Spur von Geist. Sie machten alle Jahre eine
vierwöchentliche Reise und schickten ihre Söhne einige Jahre in die
Freiheit des Lebens.

Außerdem gaben sie alle paar Wochen ihrer ganzen Familie große Essen, bei denen es hoch herging. Man sprach im heimischen Dialekt und ergänzte die Familienchronik.

Das war aber auch alles. Für kein Vergnügen feinerer Art hatte man hier den geringsten Sinn. Man besaß kein Theater, keine Konzerthalle, und man kaufte nie ein Buch. Die Kunst war hier so heimatlos wie die Wissenschaft.

So war es vor zehn Jahren noch gewesen.

Ob es heute noch so war, wußte Grach nicht. Es war ihm auch gleichgültig. In der Zeitung der einen Stadt die der einen war konservativ, die der anderen freisinnig, und sie lagen sich natürlich beständig in den Haaren hatte sich noch kein Wort geändert gegen früher. Er hatte sie beim Essen durchflogen.

Nein, es war keine komische Stadt, wenigstens nicht für den, der in ihr zu leben gezwungen war.

Es war auch eigentlich keine kleine Stadt, denn sie füllte, wie er jetzt sah, die ganze Breite dieses Tales. Sie hatte sich vergrößert. Man hatte - traurig genug - zu den drei alten noch zwei neue Kirchen gebaut.

Dieses Tal entbehrte der Anmut nicht. Der träge Fluß durchschnitt üppige Wiesen, und die Hügel waren bedeckt mit dichtem Tannen und Laubholz. Aus einer dieser dunklen Kuppen ragten die schlanken Turmspitzen eines modernen Schlosses in den sonnenheißen Himmel. Dort wohnte der König der Gegend. Er wußte, daß er das war: er redete seine Arbeiter mit Ihr an und sorgte für sie, wie "ein Vater für seine Kinder." Ihm ging es gut dabei; seinen "Kindern" weniger. Never mind !

Und immer wieder wandten sich Grachs Augen nach rechts und nach links, dorthin, wo an den Grenzen seiner Blicke die Wolken des Rauches sich ballten zu seltsamen, fremdartigen, formlosen Gebilden.

Ideen schienen es zu sein, die nach Gestaltung rangen. Und er sah im Geiste den Tag, wo diese Ideen, nicht am hellen Nachmittag in heißer Sonne, nein, am kühlen Abend, beim Beginn der Nacht, in rußige, markige Gestalten verkörpert, von beiden Seiten dieses Tales herangezogen kamen und diese ganz abgelebte Gewöhnlichkeit, dieses ganze Nest von Aemtern, Titeln und Würden, diese ganze Uniformität der Gesinnung so durcheinander rüttelten, daß die friedlichen Schläfer dieser guten Städte am nächsten Morgen nicht mehr wissen würden, auf welcher Seite des Flusses sie eigentlich waren.

Dann würde er vielleicht endlich geendet sein, der erbitterte Streit um die Oberherrschaft.

Aber dann würde es auch zu spät sein.

***

Eine komische kleine Stadt !

Nein, es war weder eine komische, noch eine kleine Stadt.

Trotz der Hitze fröstelte Grach.

Die Sonne quälte ihn, und seine undankbaren Gedanken quälten ihn ebenfalls.

Hatte er nicht Grund, dankbar zu sein ?

Dankbar dafür, daß er nicht mehr hier zu leben brauchte ?

Er wandte sich ab und stieg den Weg weiter hinauf. Ein Blechschild fiel ihm in die Augen:

"Gartenwirtschaft". Das war, was er suchte. Bäume und Schatten und
Stille.

Er stieg eine Treppe empor und durchschritt die Tür. Da stutzte er plötzlich.

Vor ihm her ging eine Frau.

XIV

Er erkannte sie sofort.

Nur eine Frau war ihm im Leben begegnet, der dieser feste, stolze
Gang, diese aufrechte, und doch graziöse Haltung eigen war: Dora
Syk. Sie mußte seine Schritte gehört haben, denn sie wandte sich um.

Zu gleicher Zeit streckten ihre Hände sich einander entgegen und faßten sich mit starkem, freundschaftlichem Druck.

Die Freude, sich wiederzusehen, war auf beiden Seiten gleich groß und ehrlich. Gleich war aber auch bei beiden eine gewisse Verlegenheit: man war hier auf fremdem Boden und wußte im ersten Augenblick nicht recht, wie man es dem anderen klar machen sollte, weshalb man hier war . . .

Dort, wo ihre eigentliche Heimat war, in der großen, weiten Welt, in dem Getriebe der ungeheuren Stadt, in den schrankenlosen Verhältnissen, deren Physiognomie wechselte wie der schwankende Tag, in der großen, geistigen Bewegung, waren sie sich zuerst begegnet, hatten sie sich gesehen, sich gesprochen, waren sie schnell wieder auseinander gerissen, hatten sich nicht vergessen, aber auch kaum mehr aneinander gedacht, vielleicht nur deshalb, weil sie keine Zeit dazu hatten.

Seinen Namen hörte sie oft: er wurde überhaupt viel genannt; ihren
Namen hatte er lange gekannt, ehe er sie sah, denn er war eine
Zeitlang viel genannt worden. Es war gewesen, als sie einundzwanzig
Jahre alt war und ihr erstes Werk Aufsehen erregte. Vor etwa sechs
Jahren.

"Franz Grach"

"Dora Syk"

Sich hier wiederzusehen, war für beide eine ganz außergewöhnliche Ueberraschung, und indem sie nach einem Wort suchten, um dieselbe auszudrücken, fingen sie beide plötzlich an zu lachen und gaben sich nochmals die hand, wie um sich zu vergewissern, daß sie es wirklich waren.

"Fräulein Dora Syk !" rief er aus. "Also deshalb hört man nichts mehr von Ihnen"

"Es ist sehr eigentümlich, daß wir uns hier treffen," sagte sie, indem sie ihre Hand zurückzog.

"Nicht so sehr, was mich betrifft: bin ich doch hier in der Stadt meiner Jugend. Ich bin nämlich hier erzogen."

"So. Und ich erziehe jetzt hier."

Er fuhr zurück.

"Das ist schrecklich. Wen erziehen Sie denn ?"

Sie lachte herzlich. "Kinder", sagte sie, "Mädchen von zwölf und dreizehn Jahren."

"In der höheren Töchterschule ?"

"Ja, in derselben", entgegnete sie, und immer noch lag Lachen um ihren Mund. "Ich bewundere die Treue Ihres Gedächtnisses. Wie lange waren Sie nicht hier ?"

"Fast ein Jahrzehnt nicht.Hören Sie:

Der Herr segne Deinen Ausgang und"

"Und deinen Eingang - ja, so steht es über dem Tor geschrieben."

"Lachen Sie doch nicht, Fräulein Syk ! Ich weiß, was es heißen will,
Lehrerin an dieser Schule zu sein für Sie ist es unwürdig."

"Nein," sagte sie schnell und wurde ernst, "es ist nicht unwürdig, um sein Brot zu arbeiten. Aber eines ist sicher: es ist lähmend, weil es unnütz, total unnütz ist. Denn ich bin gehindert, das zu sagen, was ich sagen möchte, wenn ich auch nicht gezwungen bin, zu sagen, was ich nicht sagen will . . . Unwürdig ? Nein, das Schweigen der Machtlosigkeit ist nie unwürdig."

Er sah sie inmitten dieser Gesellschaft, die er kannte die Personen konnten sich geändert haben, die Tendenzen nie: der Direktor ein Pietist, die Lehrer zu halben Weibern geworden in ihrer falschen Stellung zwischen lauter Unterröcken, die Lehrerinnen alte Jungfern, verbittert die einen, emanzipiert im unguten Sinne die anderen und er hörte nicht auf das, was sie ihm entgegnete.

"Wie können Sie hier leben ?" rief er fast heftig. "Wie können Sie sich stellen zu diesen Mumien"

"Sehr gut. Sie hassen mich so, daß wir fast nie zusammen sprechen"

"Ja, was sollten Sie auch zusammen sprechen!" rief er. "Und machen Sie mir nur nicht vor, daß es anders ist mit dieser entzückenden Jugend, ich kenne sie, diese unreife Gesellschaft, schlimmer als die Buben sind sie: kokett schon, noch mit der Puppe im Arm, neugierig, naschhaft, und ganz schon von dieser entsetzlichen Schwatzhaftigkeit der Alten, dieser Schwatzhaftigkeit der Leere, die nichts zu sagen weiß und immer plappert, plappert o, ich habe sie eben drei Stunden lang gehört !"

Sie ging ruhig weiter, aber sie antwortete ihm nicht mehr. Ihr Beispiel, dachte er da, dieses herrliche Beispiel der Kraft und Gesundheit, der Vorurteilslosigkeit und Schönheit, des Geschmacks und der Gesundheit der Harmonie, ihr Beispiel, sollte wenigstens nicht dieses schweigend wirken ? Und er fragte sie danach.

Mit einiger Ungeduld lehnte sie seine weiteren Fragen ab. Auch ihr
Beispiel nicht, sie sagte es schon. Es war kein Boden bereitet.

Er merkte plötzlich, daß sie litt, und ward still.



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