John Henry Mackay 1864 - 1933
John Henry Mackay war ein deutscher Schriftsteller.
John Henry Mackay wurde zwar 1864 in Schottland geboren, aber nach dem frühen Tod des Vaters 1865 zog seine deutsche Mutter mit ihm zurück nach Deutschland. Mackay verbrachte seine frühe Kindheit in Saarbrücken, besuchte die Gymnasien in Burgsteinfurt und Birkenfeld bei Trier, nahm in Stuttgart eine Lehre als Verlagsbuchhändler auf und hörte einige Semester Philosophie an den Universitäten Kiel, Leipzig und Berlin. Im Jahre 1885 trat Mackay erstmals mit literarischen Werken an die Öffentlichkeit.
In Berlin verkehrte er im Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises. Mit Hilfe von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis wurde er sich seiner homosexuell-päderastischen Neigung bewusst. Mit dem 1888 unter dem gemeinsamen Titel Moderne Stoffe erschienenen Novellen Existenzen und Nur eine Kellnerin wurde er zu einem der Wegbereiter der Literaturrichtung des Naturalismus. Während eines einjährigen London-Aufenthalts (1887/88) entdeckte er für sich Max Stirner, dessen 1844 erschienenes Buch Der Einzige und sein Eigentum infolge der Restauration nach 1848 in Vergessenheit geraten war. Stirner wurde bald sein Lebensthema. Über ihn, der nur mühsam aus der Verschollenheit zu bergen war, schrieb er die erste und bis heute einzige Biographie (1898, erw. 1910, erw. 1914), die allerdings wegen fehlender Quellennachweise und ihres oft als hagiographisch empfundenen Tones gelegentlich kritisiert wurde. Die Quellenlage ist jedoch einwandfrei, wie der Stirnerforscher Bernd A. Laska bestätigt, der den Mackay-Nachlass in Moskau geprüft hatte. Weiterhin spürte Mackay Stirners verstreute Artikel auf und gab sie als Kleinere Schriften neu heraus. Weil Mackay der bekannteste Anhänger Stirners war, entstand der Eindruck, dass seine Konzeption des individualistischen Anarchismus, die er in den „Büchern der Freiheit“ (Die Anarchisten, Der Freiheitsucher) präsentierte, auf Stirners Ideen basiere. Inhaltlich stimmt sie jedoch weit besser mit dem in Nordamerika – in der Tradition von Thomas Jefferson, Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und anderen – entstandenen radikalen Liberalismus seines Freundes Benjamin R. Tucker überein.
Anfang der 1890er-Jahre lernte er die damals noch unbekannte Schriftstellerin Gabriele Reuter kennen, der er 1895 einen Kontakt zu dem Verleger Samuel Fischer vermittelte. Reuters Roman Aus guter Familie wurde über Nacht zum Bestseller – was nicht zuletzt an dem von Mackay vorgeschlagenen, provokant-sozialkritischen Titel lag (Reuter selbst wollte den Roman, wie sie in ihren Memoiren schreibt, nur schlicht Agathe Heidling nennen).
Im Jahre 1898 befreundete sich Mackay näher mit Rudolf Steiner, der damals noch allem Okkulten oder Theosophischen feindlich gesinnt war und sogar die Gedanken Max Stirners „in Übereinstimmung“ mit seiner Philosophie der Freiheit (1894) befand. Mackay und Steiner waren zu dieser Zeit die einzigen publizistischen Vertreter des individualistischen Anarchismus in Deutschland; gemeinsam gaben sie die Propagandaschrift „Sind Anarchisten Mörder ?“ heraus. Außerdem gab er von 1907 bis 1919 gemeinsam mit Bernhard Zack die Schriftenreihe „Propaganda des individualistischen Anarchismus“ heraus. Als Steiner Ende 1899 seine langjährige Wirtin Anna Eunike heiratete, war Mackay Trauzeuge. Seine enge Verbindung mit Steiner zerbrach, als dieser sich mit seinen bisherigen Ideen plötzlich „in eine Art Abgrund gerissen“ erlebte und sich der Theosophie zuwandte.
Im Jahre 1905 trat Mackay in Verbindung mit Benedict Friedlaender, dessen Sezessionsbewegung aus dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee Magnus Hirschfelds er unterstützte. Dadurch verstärkten sich seine Differenzen mit Hirschfeld, die in seiner grundlegenden Ablehnung von dessen Theorie über Homosexualität als „Drittes Geschlecht“ gründeten. Seine unter dem Pseudonym Sagitta veröffentlichten Schriften über die „namenlose“ oder „griechische“ Liebe, das heißt die Zuneigung erwachsener Männer zu männlichen Adoleszenten, waren im Deutschland der Kaiserzeit und auch noch in der Weimarer Republik nach § 175 StGB strafbar. Seine Arbeiten über den „individualistischen Anarchismus“ fanden demgegenüber größere Verbreitung – dank der Aktivitäten seiner Freunde Benjamin Tucker, George Schumm und Clarence Swarts auch in den Vereinigten Staaten.
Die Inflation der frühen 1920er Jahre verschlang Mackays ererbtes Geldvermögen. Neue Veröffentlichungen in den folgenden Jahren scheiterten oft an den Praktiken seiner verlegerischen Geschäftspartner. Auch seine alten literarischen Arbeiten, die – von dem Kriminalroman Staatsanwalt Sierlin abgesehen – nicht für ein „breites Publikum“ geschrieben waren, trugen ihm nur noch wenig ein. Die von Kurt Zube 1931 gegründete Mackay-Gesellschaft konnte den verarmten Schriftsteller in der Zeit der Weltwirtschaftskrise nur unzulänglich unterstützen.
Mackay starb am 16. Mai 1933, möglicherweise durch eine Überdosis Morphin, obwohl er auch schon seit mehreren Jahren an verschiedenen Krankheiten litt. Seine Urne wurde auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf bei Berlin beigesetzt. Seine restliche Bibliothek – einen Großteil, die Stirner betreffenden Stücke, hatte er 1925 an das Marx-Engels-Institut in Moskau verkauft – wurde im Oktober 1933 durch das Auktionshaus Rudolph Lepke in Berlin versteigert.
Die Erinnerung an Person und Werk wird von der Mackay-Gesellschaft gepflegt. Sie wurde von Kurt Zube, der Mackay noch persönlich kannte, 1974 in Freiburg/Br. neu gegründet. Die erste Biographie über Mackay, von dem amerikanischen Germanisten Thomas A. Riley, erschien 1972. Zube wollte eine deutsche Übersetzung im Verlag der Mackay-Gesellschaft herausbringen. Da aber mit dem US-Verlag keine Einigung zustande kam, schrieb er selbst eine und veröffentlichte sie 1979 unter dem Verfasser-Pseudonym „K.H.Z. Solneman“ (Initialen seines Namens und Palindrom von „namenlos“).
Ich lache nicht über sie, weil sie so sind, wie sie sind; ich lache über sie, weil sie sich einbilden, ihr Leben sei ein Muster und ein Beispiel, und daß es wert sei, zu leben, wie sie leben.
John Henry Mackay
I.
Der Dunst der brennenden Kohle erfüllte die Luft weithin. Aus tausend Schloten qualmte der Rauch, gelb, schwarz, grau und weiß, empor, und all' diese dicken Wolken lösten sich unmerklich auf in die ungeheure Dunstwelle welche unablässig auf Meilen hin das Flußtal in seiner ganzen Breite beschattete.
Ueber der kleinen Stadt lag sie wie ein dünner Schleier. Zuweilen lüftete diesen Schleier ein frischerer Windhauch, der von Süden das Tal heraufzog. Aber es dauerte nicht lange und er war wieder herniedergefallen auf die reizlosen Züge, die er wie in Mitleid verhüllte.
Eigentlich waren es zwei Städte, die hier zusammenlagen. Aber nur der Fluß, ein träger, gelber Fluß, trennte sie, und zwei Brücken verbanden sie: eine alte massive aus Stein, mit mächtigen Pfeilern und Quadern, die noch alles lautlos ertragen hatte, was über sie hinweggezogen war, und eine neue aus modernem Eisen, welche ächzte und bebte, wenn die großen Lastwagen über sie hin fuhren, und gräßliche Massen Staub unter den schweren Rädern hervorhustete.
Der Fremde, der auf den Höhen des Tales hinwandernd die roten und schwarzen Giebel zu seinen Füßen sah, glaubte nicht anders, als sie gehörten alle zu dem Bezirke einer Stadt. Aber die, welche unter diesen Giebeln wohnten, waren anderer Meinung. Und auf sie kam es doch an.
Seit undenklichen Zeiten lagen die Schwesterstädte einander in den Haaren. Die kleinen Reibereien endeten nie; die letzten Wahrzeichen der großen entscheidenden Schlachten aber waren die leeren Augenhöhlen der Gaslaternen auf der "alten" Brücke: unter den Steinwürfen der den Alten nachzwitschernden, nein, nachheulenden Jugend beider Städte waren sie dahingesunken, unter Würfen, die ihre edleren Ziele leider verfehlt hatten.
In Dialogen von gleich klassischer Kürze und Schönheit endeten diese
Kämpfe:
"Wart' nur, ich sahns abber meinem Vatter !" der eine.
"Und ich sahns meiner Mutter, die packt dei Mutter !" der andere.
"Aber mei Vatter is stärker wie dei Vatter."
"O du Dürmel, kumm nure nit dohär . . ."
II
Die Gesellschaft der Stadt setzte sich leicht erkennbar aus drei
Grundelementen zusammen: aus Großhändlern, Beamten und aus Militär.
Seit sehr langen Jahren saßen die Ersteren hier fest. Sie waren der Urstamm des Bürgertums. So lange hatten sie fast nur untereinander geheiratet, daß sie gewissermaßen eine große Familie geworden waren, welche sich in ererbten Anschauungen und Bräuchen so lange wie irgend möglich fortzubewegen suchte und unter sich mit einem harten Anklang an den Dialekt der Gegend sprach.
Million zu Million häufend hatten sie hier eine moderne Zwingburg des Kapitals errichtet, gegen die anzukämpfen eine Unmöglichkeit schien. Noch nie war es versucht worden.
So hatten sie, die unumschränkten Herrscher dieser Stadt, ihr lange den Stempel aufgedrückt; den Stempel eines souveränen, starren, fortschrittfeindlichen Willens.
Das waren die "Alldahiesigen !" . . .
Dann hatte der Staat große Betriebe errichtet, und eine unzählige Schar von Beamten jeder Art war hier zusammengeströmt, aus allen Teilen des Reiches, neue Sprachen, neue Sitten, neue Kochrezepte mit sich führend. Neues Leben kam mit ihnen nicht. Machtlos zu irgend einer Initiative hatten sie sich willenlos einzuschmiegen als Räder in das Werk der großen Maschine Staat, welche sie verbrauchte. Aber die Luft begann zu schwirren von neuen Titeln, vom Morgengang zum Büro bis zum letzten - immer sehr späten - Abendschoppen im "Münchener Kindl", und die Eingesessenen zogen sich mürrisch mehr und mehr zurück unter die dicke Haut ihrer sicheren Privilegien . . .
Waren sie zehn Jahre hier gewesen, alle diese Fremden, ohne nach
einer anderen Stadt weiterversetzt zu sein, so wurden sie zu
"Hiesigen". Bis dahin blieben sie, was sie waren: die "Hergeloffenen".
Unweit der Grenze lag die Stadt. Seit dem gräßlichen Kriege mit dem "Erbfeind" war unablässig Militär über Militär hergezogen, bis zwei Regimenter hier festlagen. Ueberall an den sich erweiternden Grenzen der Stadt entstanden weißgetünchte Baracken von Holz und große, rote, viereckige Ziegelhaufen von abscheulicher Häßlichkeit, hinter deren Umfassungsmauern die rohen Flüche brutaler Unteroffiziere und die stampfenden Schritte schwerer und keuchender Menschenmassen hervortönten, und die bis dahin so friedlichen Straßen der Städte erzitterten unter dem Klirren rasselnder Schleppsäbel.
Furchtbarer aber noch waren die Verheerungen, welche diese neue Macht in den Herzen der Großbürgertöchter der Stadt anrichtete, und murrend nur sahen die Väter, wutschnaubend aber die betrogenen Vettern der großen Familie eine der lieblichen Blüten nach der anderen gepflückt von der kecken Hand eines adeligen Sekonde-Leutnants, der die Geldsäcke nicht nur zu verachten, sondern auch mit Grazie zu leeren verstand.
Und war es nicht in Ordnung so ? Das Kapital verband sich mit der
Gewalt, welche seine Privilegien schützte.
Dazwischen lebte ein träges Kleinbürgertum und ein machtloser Handwerkerstand so hin, von Tag zu Tag, kleine Kannegießer und schlechte Musikanten. Sie verlangten kaum etwas anderes, als beständig über etwas brummen zu dürfen . . .
Das waren die Leute der Städte.
Von geistigen Bedürfnissen verspürte man hier noch nichts.
Draußen aber, dort, wo die Schlote dampften und die Feuer lohten, wo die Erde bis in ihre Tiefen hinein durchwühlt wurde in rastlosem Kampfe, dort wo kolossale Arbeitermassen aneinander gekettet durch den Schweiß ihrer furchtbaren Arbeit lagen, dort fielen die Gedanken der Zeit in den Boden der Fruchtbarkeit.
III
Mit dem Schnellzug, der um elf Uhr vormittags eintraf, kam der Reisende an. Er wies die Kofferträger von sich, als er ausstieg, und trug seine Handtasche selbst die Treppe hinab bis zu dem Ausgang.
Vier oder sechs Portiers nahmen dort die Reisenden in Empfang. Er überflog die Schilder ihrer Mützen, und da er den Namen nicht fand, den er suchte, nannte er ihn selbst: "Zur alten Post".
Man grinste, man sah sich fragend an, indem man mit den Augen zwinkerte. Endlich sagte der älteste der Leute: "Es gibt hier keine 'alte Post' mehr; sie ist seit sechs Jahren eingegangen. Wollen der Herr hier gleich am Bahnhof bleiben, dort unten liegt unser Haus, ganz neu eingerichtet"
Der Fremde zögerte einen Augenblick, aber als sie nun alle nach seiner Handtasche griffen, überließ er sie achselzuckend dem Sprecher, gab ihm den Auftrag, seinen Koffer sofort zu besorgen, und ging den Weg hinab, der sich in die Stadt hinunterzog. Es war ein schwüler und staubiger Tag. Er war müde, denn er war die halbe Nacht gereist, und er war bestaubt von der langen Fahrt. Er fühlte Hunger und Durst, und die Zunge klebte ihm am Gaumen.
Doch nachdem er ein Bad genommen und sich umgezogen hatte, fühlte er sich frisch und gesund wie immer. Er stieg die Treppe hinab und schrieb in das ihm vorgelegte Fremdenbuch: Franz Grach. Während er sich für eine Minute in der Loge des Portiers befand, erkannte er plötzlich das Haus wieder.
Er vermied die Table d'hote. Die langen, weißen Tische mit den
Reihen von schmatzenden und schwatzenden Menschen waren ihm zuwider.
Man deckte ihm in einem Nebenzimmer.
Einmal ließ er Messer und Gabel sinken, so schreiend-deutlich stand plötzlich eine Szene aus seiner Jugendzeit vor seinen Augen, die sich vor langen Jahren hier in diesem selben Räume abgespielt hatte.
Nicht das saubere Frühstückszimmer eines modernen Hotels, das trübe
Hinterzimmer eines übelbeleumdeten Gasthofs zweiten Ranges war der
Raum damals gewesen. Die Möblierung hatte sich geändert, wie der
Wirt und die Gäste, und doch wurde dem Fremden alles wieder
lebendig:
Sie waren alle noch jung, kaum einer von ihnen hatte das zwanzigste Jahr erreicht. Alle hatten sie dieselben Schulbänke gedrückt, und sich, nun vielfach getrennt den größten Teil des Jahres hindurch auf auswärtigen Schulen, in den Ferien wieder zusammengefunden zu lustigen Tagen und ausgelassenen Nächten eine tolle, von Jugendmut und Lebenskraft überschäumende, zu allen tollen Streichen immer aufgelegte Gesellschaft, deren Zahl jahrelang auf sieben, acht Mann beschränkt blieb . . .
An jenem Abend nun waren sie alle nach einer langen Wanderung hier herein gestürmt, wie sie wahllos in alle Wirtschaften, wo "noch Licht war", drangen. Eine dicke Kellnerin war aus dem Vorderzimmer mit hereingezogen worden, durch die Tür wurde niemand mehr hereingelassen, und eine jener nächtlichen, dem Dunst des Bieres und dem Qualm des Tabaks entstiegenen Szenen entrollte sich, die dem Alter so widerlich, der Jugend so reizvoll erscheinen.
Auch der Einzelheiten erinnerte sich der, vor dessen Auge sie wieder stand nach so langen Jahren, noch: wie er selbst in eine vorhanglose Fensternische gepreßt ihr zugesehen hatte, die Beine heraufgezogen und das Glas auf einem Stuhle neben sich, damals schon noch in der Trunkenheit erkennend, was er sah, beobachtend, was ihn umgab, und Sieger so auch noch über die Stunde, die ihn mit sich gerissen hatte: wie der "Dicke" das Klavier bearbeitete und seine schaurigen Baßtöne in den hellen Jubel und Lärm der anderen mischte; wie die ganze Bande plötzlich im Kreise um das grobe Frauenzimmer und den "Kleinen" - einen schmächtigen Menschen mit wasserblauen Augen, voll Gelehrsamkeit trotz, und voll Schüchternheit wegen seiner Jugend, herumgetanzt war, und die Vermählung des ungleichen Paares proklamiert hatte . . .
Die Gläser klirrten; die Stimmen schrieen durcheinander; schwere Füße stampften den Boden; an der Decke lagerte sich der Rauch; einer, in einer trüben Erinnerung an Nana leerte sein Bierglas in das Klavier; ein anderer riß die rotgestreiften Decken von den Tischen und hüllte darin ein, was ihm unter die Hände kam, indes die letzten - mit der zähen Hartnäckigkeit der halben Trunkenheit - nicht abließen, sondern auf der Erfüllung ihrer tollen Idee bestanden - und bereits war die Grenze überschritten, wo das Verzeihliche aufhört, um der Sinnlosigkeit zu weichen, als er mit einem großen Satze aus seiner Fensternische aufgesprungen war, mitten unter die Schreienden und sie überrief:
"Aber seid ihr denn ganz verrückt !"
Und er schob die Kellnerin zur Türe hinaus, ungeachtet aller schreienden Proteste, setzte seinen Hut auf, und ihm nach war die ganze Gesellschaft gestolpert, einer anderen Kneipe, einer anderen Torheit zu, die stille Straße mit neuem Singen und Lärmen erfühlend, daß friedliche Bürger aus dem Schlaf ihrer Ruhe fuhren und das träumende Gespons mit der Frage weckten: ob es denn etwa brenne . . .
Nein, es waren diesmal nur die Kinder ihrer eigenen Liebe.
IV
Sollte er sie aufsuchen, die Genossen jener Tage ? Fast wandelte ihn die Lust dazu an, wie nun Gestalt um Gestalt vor ihm emportauchte.
Was war aus ihnen geworden ? Wie waren sie geworden ? Wo waren sie gelandet ?
Von den meisten war es nicht schwer, es zu ahnen.
Denn die meisten waren schon damals in ihrer Jugend dazu bestimmt, ein vorgeschriebenes Leben zu leben: das Leben herunterzuleben, wie Grach es nannte.
Nachdem ein Examen - ein Tor, welches unwiderruflich passiert werden mußte, wollte man in dieses Leben eintreten - sie gezwungen hatte, sich den Kopf mit einer unglaublichen Menge modernden Gerümpels zu füllen, wurden ihnen einige Jahre gegönnt, ihn von diesem Wuste zu befreien.
Sie hatten zu vergessen, was sie gelernt hatten. Nach diesen Jahren einer ungebundenen Freiheit auf der Hochschule aber steckte sie der Vater unerbittlich in das von dem Großvater gemachte, und von ihm selbst wohlgewärmte Bett, und "niemals wieder sah sie die Welt."
Sie wählten unter den Töchtern des Landes eine—jeder eine—und begannen, sich zu vermehren in Züchten und Ehren.
Sie traten in die "Harmonie" oder in die Dilettantengesellschaft "Urania" ein und tanzten im Winter im "Kasino", solange sie noch jung waren.
Wurden sie älter, so begann das einzige Gefühl von Würde, dessen der Philister fähig ist: ein Bürger des Staates zu sein, ihre Brust zu schwellen, und sie glaubten sich an den Geschicken des Landes zu beteiligen, wenn sie von Zeit zu Zeit einen Zettel in die Wahlurne warfen und abends beim Biere endlose Debatten über die gleichgültigsten und belanglosesten Fragen innerer und äußerer Politik - dieses Tummelgebietes aller Menschen ohne Geist und Kraft - führten, bis die Stunde schlug, wo die Angst vor der Frau sie nach Haus und in das gemeinsame Bett trieb . . .
Sie waren Menschen der Ehe geworden.
Nein, er wollte keinen von ihnen wiedersehen. Man würde sich doch nur gegenseitig eine traurige Enttäuschung bereiten, und in einer so veränderten Sprache über Menschen und Dinge reden, daß man sich nicht mehr verstehen würde . . .
V
Während der Neuangekommene seinen Kaffee trank und die Wolken seiner Zigarre in die Luft blies, war die flüchtige Erinnerung schon wieder versunken, und andere, dem heutigen Tage angehörende Gedanken beschäftigten ihn.
Ein Brief hatte ihn wieder in diese Stadt gerufen, die er seit länger als zehn Jahren nicht gesehen. Auf vielen Umwegen hatte er ihn erreicht, und nachdem er ihn gelesen, war sein erstes Gefühl gewesen, ihn in die Ecke zu werfen.
Er lachte erst; dann ärgerte er sich.
Aber zugleich dachte er an mancherlei Freundlichkeit, welche er von der Mutter der Frau - sie war lange tot, die ihn geschrieben, empfangen vor langen Jahren und an ihre größte Freundlichkeit: daß sie ihn meist unbehelligt gelassen, und er bemaß Zeit und Geld, sah, daß beides reichte, und war kurzentschlossen hierhergereist.
Er stand früh allein und wurde, fast noch ein Kind, von einer entfernten Verwandten aufgenommen, in deren Heim er lange Jahre lebte, nicht abhängig von ihrer Gnade, aber doch angewiesen auf ihre Freundlichkeit. Sie hatte eine einzige Tochter, die ihr Abgott war; er beanspruchte nichts von der sentimentalen Zärtlichkeit, mit der das verzogene, launische Kind einer kurzen und sehr unglücklichen Ehe überschüttet wurde.
Fast von dem Augenblick an, in dem er diese Stadt verlassen, hatte sich sein Leben so von Grund aus geändert, waren Kreise und Beziehungen desselben so andere geworden, daß er selten veranlaßt worden war, zurückzudenken, um so mehr, als ihm die Muße behaglicher, lässiger Einkehr und Umschau fast nie beschieden und kaum ein Tag gewesen war, der ihm Zeit gelassen hätte, ihn einzuspinnen zwischen die weißen Träume der Vergangenheit und der Zukunft.
Zweimal nur noch schrieb er den Namen dieser Stadt auf die Adresse eines Briefes: das erste Mal, als seine Verwandte gestorben war, und er der Tochter freundliche Worte des Beileids sagte, das zweite Mal, als er sie zu ihrer eigenen Verheiratung kurz beglückwünschte.
Dann kam dieser Brief, unerwartet und unerwünscht.
Er lag vor ihm, und noch einmal las er ihn, aufmerksam, Wort für
Wort.
Von dem blaßrosa Papier stieg der starke Duft eines eigentümlichen Parfüms auf. Die Schrift, mit der seine vier Seiten bedeckt waren, war liegend, sinnlich und weibisch-schwach.
Er las ihn zum vierten Male, und zum vierten Male suchte er hinter den leblosen Worten nach der lebendigen Seele derer, die sie geschrieben: er fand sie nicht.
Das war es, was sie ihm mitteilte.
Erstens: daß sie sehr unglücklich sei; zweitens: daß sie so unglücklich sei daß sie es nicht mehr "aushalten" könne; drittens: daß ihr Mann der Grund ihres Unglücks sei; viertens: daß sie gehört habe, er, ihr Bruder, der "Freund ihrer Jugend", habe ein Buch geschrieben, in welchem er sich "freisinnig" über die Ehe geäußert habe; fünftens: daß er sie "retten" möge; sechstens: daß sie sehr unglücklich sei; und siebentens: daß sie so unglücklich sei, daß sie es nicht mehr "aushalten" könne . . .
Das alles war sehr albern.
Er sagte sich mit Recht, daß das Unglück so nicht nach Hilfe ruft.
Aber er sagte sich auch, und er sagte es sich immer wieder, daß Frauen dieser Art nicht imstande sind, einen individuellen Ausdruck für ihre Gefühle - und wären es ihre wahrsten - zu finden. Wie sie gelehrt wurden zu sprechen, so sprachen sie: immer in denselben Ausdrücken und Redewendungen ihrer spezifischen Kreise, die Männer so und die Frauen so und waren sich daher so ähnlich, wie immer nur es möglich ist.
Und daher waren sie meistens auch so langweilig.
Wie sie sprachen, so schrieben sie auch.
Es ist, als fürchteten sie sich davor, ein neues Wort zu gebrauchen, und sorgsam verbergen sie, kommt ihnen einmal, nicht ein neuer Gedanke, nein, nur eine eigene Anschauung über irgend Etwas, die verbrecherische Regung hinter der gewohnten Gewöhnlichkeit.
Er wußte, daß das Unglück ein großer Befreier ist. Und er dachte weiter, und seine Augen sahen den gegen die Ketten der Tage ringenden und in diesem Ringen blutenden Menschen vor sich, wie er schreien will, aber seine ungewohnten Lippen finden nur die alten, kleinen Worte für den neuen, großen Schmerz, und das Schreien des selbständigen Herzens - es klingt auf dem Mund nur wie das Stammeln der Unselbständigkeit und Gleichgültigkeit.
Konnte es so nicht hier sein ?
Er strengte die Augen an, um hinter die Worte sehen zu können. Was lag da ?Ein zu Boden gestürztes, mit Füßen getretenes Weib ? Oder eine faule, unzufriedene Frau der Welt, die sich einfach langweilte ?
Fand er denn nicht ein Wort, ein einziges ungefügiges, in seiner
Hilflosigkeit rührendes, in seiner Einfachheit erschütterndes Wort ?
Er fand keines. Und dennoch folgte er den Rufen dieser platten und nichtssagenden Sprache.
Es gibt Menschen, von denen wir nie glauben können, daß sie unglücklich zu werden imstande sind.
So ging es ihm mit ihr.
Und dennoch kam er hierher.
Er tat es in letzter Linie seiner selbst wegen, um ganz sicher zu sein vor den Vorwürfen des eigenen Herzens.
VI
Die letzte Rauchwolke seiner Zigarre verflog an der Decke, und er sah nach der Uhr.
Es war nach zwei. Ein langer Nachmittag lag jetzt vor ihm. Er ging daher auf sein Zimmer, warf sich auf das Bett und schlief länger als eine Stunde, bleiern und traumlos.
Verwundert fuhr er in die Höhe, als er erwachte. Er mußte sich darauf besinnen, wo er war, und es war mit einem Gefühl des Mißbehagens, daß er die Treppe hinunterstieg. Ihm war, als solle er nun an die Erfüllung einer unangenehmen Pflicht gehen, und er wünschte hinter sich zu haben, was ihm bevorstand.
Dann trat er vor die Tür.
Die Hitze war noch gestiegen. Um diese Stunde des Nachmittags stockte das Leben.
Eine lange Straße zog sich vor ihm hin, die Hauptstraße der
Schwesterstadt, die längste und belebteste in beiden Städten und der
Mittelpunkt des Handels und Wandels beider.
Wie oft er sie als Knabe durchschritten hatte, hinauf und wieder hinunter, und wieder hinauf !
Wenig schien sich an dem äußeren Ansehen der Stadt verändert zu haben. Einige Lücken, wo früher auf steinigem Rasen Zirkus- und Karussellbesitzer ihre flüchtige Leinwand gespannt, waren ausgebaut worden, und nur die Nebenstraßen noch öffneten sich dem Blicke nach dem Flusse hin. Die neuentstandenen Häuser zeigten das Bestreben, Schritt zu halten mit modernem Stil. Gesimse und Balkone hingen überall an ihnen herum, und in ihren Erdgeschossen waren Läden und Bierhallen entstanden mit hohen Fensterscheiben und lauten Aushängeschildern, die mit dem leuchtenden Gold ihrer Lettern die armen, verblaßten und altertümlichen Inschriften der alten Firmen verdrängten . . .
Der Schwindel des Handels, welcher die Arbeit mordet, trieb sein
Unwesen diese ganze Straße entlang.
Arme Arbeiter ! Des Sonntags kamen sie, weither aus den Dörfern und Flecken, mit ihren schweren Schuhen, die Männer mit plumpen Stöcken und die Weiber mit ungeheuren, unförmigen Parapluies, halb noch bedeckt mit dem Schweiße und dem Staub der Woche, ganz noch erdrückt unter der Wucht ihrer Sklaverei, kamen sie, um einzukaufen, was sie brauchten, das heißt, drei-, vier-, fünf- und zehnfach verteuert einzutauschen, was sie selbst erschaffen hatten in anderer Form: die Arbeit. Verlegen, unsicher, bittend und schüchtern traten sie in die "Geschäfte" und ließen sich von schwatzenden Juden, und Christen, die schlimmer waren als die Juden, das Fell über die Ohren ziehen, daß es nur so flutschte.
In erschreckender Menge hatten sich die offenen Geschäfte in diesen paar Jahren vermehrt. Gleich aber war der trostlose, nüchterne Eindruck dieser Straße geblieben, und vom Morgen bis zur Dämmerung glich sie noch immer in ihrem reizlosen, staubigen Grau einem alternden, ungekämmten und ungewaschenen Weibe.
Grach ließ seine Blicke überall hin gehen. Eigentümlich verändert schien ihm alles: fremd und doch bekannt. Aber alles war kleiner geworden, zusammengeschrumpft und, wie alte Leute, in sich zusammengesunken.
Größer sieht das Kind die Welt, kleiner sieht sie der Mann.
Vor den Läden lungerten die Kommis, an den Brunnen standen die Mägde und schrieen sich an. Warum schrieen sie so laut ? Stritten sie sich ? Nein, es war nur eine "gemütliche Unterhaltung". Aber dieser Dialekt war breit, geeignet nur zu einem lauten Sprechen, und schwer verständlich für den Fremden. Grach bemühte sich, Worte und Sätze der Vorübergehenden aufzufangen und verstand meist, was sie sagten. Hatte er selbst früher so gesprochen ?
Und wie die Menschen sich grüßten ! Mit beängstigender Sorgfalt überspähten sie die Straße, knickten, den Arm nach auswärts in einem spitzen Winkel und zogen oder rissen dann den Hut herab, entweder steil in die Luft hinaus oder hinunter bis fast auf den Boden. "Ihr Diener", sagten sie dabei, "Ihr Diener" und ein langer Titel folgte.
Die unverhüllte Neugier, mit der die Menschen ihn an- und ihm nachsahen, begann Grach zu ärgern. Ihre Blicke wurden ihm lästig, und er bildete sich ein, von ihnen erkannt werden zu müssen. Er hatte vergessen, daß kein Fremder diesen Blicken entging.
Er ging schneller. Diese Nebenstraße mußte über die Brücke nach dem jenseitigen Ufer führen. Er schlug sie ein.
Eine junge Dame kam ihm entgegen. Sittsam die Blicke zu Boden gesenkt, den Schirm in der Länge einer kleinen Ulanenlanze gegen die Brust gedrückt, eingeschnürt und aufgeputzt mit Bändern und Bauschen, trippelte sie daher, und gegen seinen Willen mußte er lachen, erst heimlich, dann herzlich und offen.
So war, genau so war schon damals alles gewesen: diese ängstliche Unsicherheit im Verkehr, diese feige Rücksichtnahme auf tausend und abertausend in Watte sorgsam gehegter Vorurteile, diese engbrüstige Steifheit, die pappedeckelne Würde wie kannte er das alles, wie erkannte er das alles wieder!
Und über all dies lachte er, hatte er gelernt zu lachen.
Und abermals lachte er, als er über die Brücke ging, die alte Brücke, und sah, daß alle Scheiben in den Gaslaternen heil und unverletzt waren.
Wie, wurden sie nicht mehr geschlagen, die Schlachten der Ehre ? War Waffenstillstand zwischen den erschöpften Schwestern geschlossen ? Oder aber war Versöhnung, Friede aber nein, es war ja Wahnsinn, daran zu denken ! . . .
Eine komische Stadt ! Eine komische, kleine Stadt! murmelte Grach vor sich hin.
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