SIEBENTES BUCH
1
Was ist Schlechtigkeit? Nichts
anderes, als was du schon oft gesehen hast. Und
so halte bei jedem Zufall den Gedanken bereit:
“Es ist nur etwas, das du schon oft gesehen
hast.” Dann wirst du erkennen, daß alles,
wovon die Geschichte alter, mittlerer und neuer Zeit
handelt, und womit sich der Staat wie die Familie
jetzt beschäftigt, in jeder Beziehung das nämliche
sei. Nichts Neues, alles gewöhnlich und von kurzer
Dauer.
2
Deine Lebensgrundsätze werden stets
ihre Gültigkeit für dich behalten, solange dir die
ihnen entsprechenden Grundbegriffe nicht abhanden
gekommen sind. Das aber kannst du verhindern,
indem du dieselben immer wieder zu neuem Leben in
dir anfachst und über das, was notwendig ist, nicht
aufhörst nachzudenken — : wobei dich
nichts zu stören vermag, weil alles, was zu deinem
Gedankenleben von außen hinzutritt, als solches keinen
Einfluß auf dasselbe hat. Halte dich also nur
so, daß es dir äußerlich bleibt! Hast du aber
deine Lebenshaltung einmal eingebüßt: Du kannst
sie wieder gewinnen. Sieh die Dinge wieder gerade
so an, wie du sie angesehen hattest! Darin besteht
alles Wiederaufleben.
3
Das Leben ist freilich weiter nichts
als ein eitles Jagen nach Pomp, als ein Bühnenspiel,
wo Züge von Last- und anderem Vieh erscheinen, oder
ein Lanzenrennen, ein Herumbeißen junger Hunde um
den hingeworfenen Knochen, ein Geschnappe der Fische
nach dem Bissen, die Mühen und Strapazen der Ameisen,
das Hin- und Herlaufen unruhig gemachter Fliegen, oder
ein Guckkasten, wo ein Bild nach dem andern abschnurrt:
aber mitten in diesem Getreibe festzustehen mit ruhigem
und freundlichem Sinn, das eben ist unsere Aufgabe.
4
Bei einer Rede gilt es achtzuhaben
auf die Worte, bei einer Handlung auf den erstrebten
Erfolg. Dort ist die Frage nach der Bedeutung
jedes Ausdrucks, hier handelt sich´s um den Zweck,
der verfolgt wird.
5
Die Frage ist, ob meine Einsicht ausreicht,
was ich mir vorgenommen, auszuführen oder nicht.
Genügt sie, so brauche ich sie als ein Werkzeug, das
die Natur mir an die Hand gegeben. Reicht sie
nicht aus, dann überlasse ich entweder das Werk dem,
der besser imstande ist es zu vollbringen, wofern
dies nicht für mich geradezu unziemlich ist, oder
ich handle so gut ich kann mit Zuziehung dessen, den
zur Vollendung eines gemeinnützigen Werkes eben meine
Einsicht als Ergänzung bedarf. Denn alles, was
ich tue, mag ich es nun durch meine eigene Kraft oder
mit Hilfe eines andern zustande bringen — dem
Wohl des Ganzen muß es immer dienen.
6
Wieviel Hochgepriesene sind bereits
der Vergessenheit überantwortet und wie viele, die
ihnen Loblieder sangen, sind schon hinweggeräumt!
7
Du hast dich nicht zu schämen, wenn
du Hilfe brauchst. Tu nur dein Mögliches! wie
bei der Erstürmung einer Mauer jeder Soldat eben auch
nur sein Möglichstes tun muß! Denn wenn du gelähmt
auch die Brustwehr allein nicht erklimmen kannst,
bist du es mit Hilfe eines andern wohl imstand.
8
Laß dich das Zukünftige nicht anfechten!
Du wirst, wenn´s nötig ist, schon hinkommen, getragen
von derselben Geisteskraft, die dich das Gegenwärtige
beherrschen läßt.
9
Alles ist wie durch ein heiliges Band
miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich
fremd. Eines schließt sich dem anderen an und
schmückt mit ihm vereint dieselbe Welt. Aus allem,
was ist, bildet sich doch nur die eine Welt; in allem,
was ist, lebt nur der eine Gott. Es ist nur ein
Stoff und ein Gesetz, in den vernunftbegabten Wesen
die eine Vernunft. Nur eine Wahrheit gibt´s und
für die Wesen derselben Gattung auch nur eine Vollkommenheit.
10
Alles Stoffliche verschwindet gar
bald im Urstoff des Ganzen und jede wirkende Kraft
wird gar bald in die Vernunft des Ganzen aufgenommen.
Aber ebenso schnell findet die Erinnerung an alles
ihr Grab im ewigen Zeitlauf.
11
Für die vernünftigen Wesen ist eine
naturgemäße Handlungsweise auch immer zugleich eine
vernunftgemäße.
12
Von selbst stehe aufrecht — nicht aufrecht
gehalten!
13
Was in dem einzelnen Organismus die
Glieder des Leibes, das sind in dem Gesamtorganismus
die einzelnen vernunftbegabten Wesen. Auch sie
sind zum Zusammenwirken geschaffen. Sagst du
dir nur recht oft: Du seist ein Glied in dem
großen System der Geister, so kann ein solcher Gedanke
nicht anders als dich aufs tiefste berühren. Siehst
du dich aber nur als einen Teil dieses Ganzen an,
so liebst du die Menschen auch noch nicht von Herzen,
so macht dir das Gutestun noch nicht an sich selbst
Freude, so übst du es nur als eine Pflicht, so ist
es noch keine Wohltat für dich selber.
14
Mag den Teilen, die durch den Stoß
berührt werden können, von außen her zustoßen, was
da will, dann mögen sich die beschädigten Teile, wenn
sie wollen, beschweren. Ich habe jedoch, solange
ich ein Ereignis nicht für ein Übel halte, noch nicht
dabei gelitten. Es aber nicht dafür zu halten,
steht mir ja ganz frei.
15
Der Smaragd spricht: was auch
einer tun oder sagen mag, ich muß Smaragd sein und
meine Farbe bewahren. So sprech auch ich:
mag einer tun und sagen, was er will, ich muß die
Tugend bewahren.
16
Die Seele beunruhige und erschrecke
sich nicht. Kann´s ein anderer, mag er´s tun.
Sie selbst für sich sei solchen Regungen unzugänglich.
Daß aber der Leib nichts leide, dafür mag er, wenn
er kann, selbst sorgen, und wenn er leidet, mag er´s
sagen. Doch die Seele, der eigentliche Sitz der
Furcht und jeder schmerzlichen Empfindung, kann nicht
leiden, wenn du ihr nicht die Meinung, daß sie leide,
erst beibringst. Denn an und für sich, und wenn
sie sich nicht selbst die Bedürfnisse schafft, ist
die Seele bedürfnislos und deshalb auch, wenn sie sich
nicht selbst beunruhigt, unerschütterlich.
17
Glücklich sein heißt einen guten Charakter
haben. Was machst du also hier, Einbildung?
Geh um der Götter willen, wie du kamst, denn ich brauche
dich nicht! Du bist gekommen nach deiner alten
Gewohnheit Ich zürne dir nicht, nur geh fort!
18
Wäre es möglich, daß dir der Wechsel,
dem alles unterworfen ist, Furcht einjage? Was
könnte denn geschehen, wenn sich die Dinge nicht veränderten?
Was gibt es Angemesseneres für die Natur als diese
Veränderung? Könntest du dich denn nähren, wenn
die Speisen sich nicht verwandelten? Überhaupt hängt
von dieser Eigenschaft der Nutzen jedes Dinges ab.
Und siehst du nun nicht, daß die Veränderung, der du
unterworfen bist, von derselben Art und ebenso notwendig
ist für das Ganze?
19
Alle Körper nehmen durch das Weltall,
wie durch einen reißenden Strom, ihren Lauf und sind,
wie die Glieder unseres Leibes untereinander, so mit
jenem Ganzen innig verbunden und wirken mit ihm.
Wie manchen Chrysipp, wie manchen Sokrates, wie manchen
Epiktet hat schon die Welle verschlungen! Diesen
Gedanken hege beim Anblick jedes Menschen und jedes
Gegenstands.
20
Das eine liegt mir am Herzen, daß
ich nichts tue, was dem Willen dermenschlichen Natur
zuwider ist, oder was sie in dieser Art oder was sie
gerade jetzt nicht will.
21
Bald wird alles bei dir und bald wirst auch du bei
allen vergessen sein.
22
Es ist ein dem Menschen eigentümlicher
Vorzug, daß er auch die liebt, die ihm weh getan haben.
Und es gelingt ihm, wenn er bedenkt, daß Menschen
Brüder sind, daß sie aus Unverstand und unfreiwillig
fehlen, daß beide, der Beleidigte und der Beleidiger
nach kurzer Zeit den Toten angehören werden, und vor
allem: daß eigentlich niemand ihm schaden, d.h.
sein Inneres schlechter machen kann als es vorher gewesen.
23
Wie man aus Wachs etwas formt, so
formt die Allnatur aus den Urstoffen die verschiedenen
Wesen; jetzt das Roß, dann, wenn dieses zerschmolz,
den Baum, bald den Menschen, bald etwas anderes, und
ein jegliches nur zu kurzem Bestand. Aber wie
es dem Kistchen gleichgültig war, daß man´s gezimmert,
so auch, daß man es nun wieder auseinander nimmt.
24
Ein zorniges Gesicht ist widernatürlich.
Wenn die Sanftmut im Innern erstirbt, erlischt auch
die äußere Zier, daß sie nicht überall wieder angefacht
werden kann. Schon daraus geht hervor, daß jeder
grollende Blick vernunftwidrig ist. Wem das Gewissen
ausgegangen, der hat keine Ursache zu leben.
25
In kurzem wird die allwaltende Natur
alles, was du siehst, verwandeln und aus demselben
Stoff andere Dinge bereiten und aus deren Stoff wieder
andere Dinge, damit sich die Welt immer verjüngt.
26
Sobald dir jemand weh getan hat, mußt
du sogleich untersuchen, welche Ansicht über Gut und
Böse ihn dazu vermochte. Denn sowie dir dies klar
geworden wirst du Mitleid fühlen mit ihm und dich weder
wundern noch erzürnen. Entweder nämlich findest
du, daß du über das Gute gar keine wesentlich andere
Ansicht hast als er; und dann mußt du ihm verzeihen.
Oder du siehst den Unterschied; dann aber ist´s ja
nicht so schwer, freundlich zu bleiben dem, der — sich
geirrt hat. —
27
Denke nicht so oft an das, was dir
fehlt, als an das, was du hast. Und wenn dir
bewußt wird, was von diesem das Allerbeste sei, mußt
du dir klarmachen, wie du´s gewinnen könntest, im
Fall du es nicht besäßest. Je zufriedener dich
aber sein Besitz macht, um so mehr mußt du dich hüten,
ihn mit einem solchen Wohlgefallen zu betrachten, daß
dich sein Verlust beunruhigen könnte.
28
Ziehe dich in dich selbst zurück!
Die uns beherrschende Vernunft ist ja so beschaffen,
daß sie am Rechttun und an der daraus hervorgehenden
Ruhe Genügen findet.
29
Mache den Einbildungen ein Ende!
Hemme den Zug der Leidenschaften! Behalte die
Gegenwart in deiner Gewalt! Mache dich mit dem
vertraut, was dir oder einem anderen begegnet.
Trenne und zerlege alles in seine Urkraft und seinen
Stoff. Gedenke der letzten Stunde! Fehler,
die andere begehen, laß ruhen, wo sie begangen sind.
30
Richte deine ganze Aufmerksamkeit
auf das, wovon gesprochen wird, versenke deinen Geist
in die Betrachtung der Begebenheiten und ihrer Ursachen.
31
Dein Schmuck sei Einfalt, Bescheidenheit
und Gleichgültigkeit gegen alles, was zwischen Tugend
und Laster in der Mitte liegt. Liebe das Menschengeschlecht,
folge der Gottheit! Alles, sagt jemand, geschieht
nach bestimmten Gesetzen, ob Götter sind oder ob aus
Atomen alles entsteht, gleichviel. Genug eben,
daß alles gesetzmäßig ist.
32
Vom Tod: Der Tod ist Zerstreuung oder Auflösung
in Atome oder
Vernichtung, ein Auslöschen oder ein Versetzen.
Vernichtung, ein Auslöschen oder ein Versetzen.
33
Vom Schmerz: Ist er unerträglich,
führt er auch den Tod herbei; ist er anhaltend, so
läßt er sich auch ertragen. Wenn nur die Seele
dabei an sich hält, bewahrt sie auch ihre Ruhe und
leidet keinen Schaden. Die vom Schmerz getroffenen
Glieder mögen dann, wenn sie können, sich selbst darüber
aussprechen.
34
Vom Ruhm: Betrachte die Gesinnungen
der Ruhmsüchtigen, von welcher Art sie sind und was
sie einerseits meiden und andererseits suchen!
Bedenke ferner: Wie bei den übereinandergewirbelten
Sandhügeln, die früher hergewehten von den später
aufgehäuften bedeckt werden, so wird auch im Leben
das Frühere vom Späteren bedeckt.
35
Plato fragt: “Wem hoher
Sinn und Einsicht in die Zeiten und in das Wesen der
Dinge verliehen ward — glaubst du, daß der
das menschliche Leben für etwas Großes halten kann?”
und er antwortet: “Unmöglich kann ich´s.”
Nun, und ebenso unmöglich ist´s, daß ich den Tod für
etwas Furchtbares halte.
36
Ein Ausspruch des Antisthenes: “Königlich
ist´s, wohlzutun und
Schmähungen ruhig über sich ergehen zu lassen.”
Schmähungen ruhig über sich ergehen zu lassen.”
37
Schändlich ist´s, wenn die Seele nur
Macht hat über unsere Mienen, nicht über sich selbst,
wenn sie nur jene, nicht aber sich selber umzugestalten
vermag.
38
Wie kann dich denn bald dies, bald
jenes ärgern, das dich doch nichts angeht?
39
Freude den ewigen Göttern! doch uns auch Freude verleihe!
40
Die Früchte sind zum Pflücken, so
das Leben auch. Hier keimt das Leben, dort der
Tod.
41
Wenn ich samt Kind von den Göttern
einmal verlassen bin, Grund ist auch dafür. —
42
Was recht und gut, trag´ ich mit mir herum.
43
Mit andern weinen oder jubeln, nicht geziemt´s.
44
Blicke oft zu den Sternen empor — als wandeltest
du mit ihnen. Solche
Gedanken reinigen die Seele von dem Schmutz des Erdenlebens.
Gedanken reinigen die Seele von dem Schmutz des Erdenlebens.
45
Platonische Aussprüche: “Diesem
würde ich mit Recht antworten: du urteilst unrichtig,
o Mensch, wenn du meinst, daß ein Mann, der auch nur
einigen Wert hat, die bedenkliche Wahl zwischen Leben
und Sterben ins Auge fassen und nicht vielmehr nur
das erwägen soll, ob, was er tue, recht oder unrecht
und die Tat eines Guten oder Schlechten sei.”
46
“So verhält es sich in der Tat,
ihr Männer von Athen. Den Posten, auf den einer,
in der Meinung, daß es der beste sei, sich selbst gestellt
hat oder auf den er von seinem Feldherrn gestellt worden
ist, muß er — dünkt mich — auch
in Gefahr behaupten und dabei weder Tod noch irgend
etwas anderes mehr in Betracht ziehen, als die Schande.”
47
“Sieh gut zu, mein Freund, ob
das Edle und Gute nicht in etwas anderem bestehe als
in Erhaltung eines fremden oder des eigenen Lebens!
Denn wer wirklich ein Mann ist, soll nicht wünschen,
so oder so lange zu leben, noch mit feiger Liebe am
Leben hängen, sondern die Bestimmung hierüber Gott
überlassen und glauben, was selbst die Weiber wissen,
daß auch nicht einer seinem Schicksal entrinne, er
denke nur daran, wie er die ihm noch beschiedene Lebenszeit
so gut als möglich verbringe.”
48
Schön ist, was Plato gesagt hat, daß,
wer vom Menschen reden wolle, das Irdische gleichsam
von einem höheren Standpunkt aus betrachten müsse.
So die Versammlungen, Kriegszüge, Feldarbeiten, Ehen,
Friedensschlüsse, Geburten, Todesfälle, lärmenden
Gerichtsverhandlungen, verödeten Ländereien, die mancherlei
fremden Völkerschaften, ihre Feste, Totenklagen, Jahrmärkte,
diesen Mischmasch aus den fremdartigsten Bestandteilen.
49
Betrachte die Vergangenheit, den steten
Wechsel der Herrschaft. Daraus kannst du auch
die Zukunft vorhersehen, denn sie wird durchaus gleichartig
sein und kann unmöglich von der Regel der Gegenwart
abweichen. Daher ist es auch einerlei, ob du das
menschliche Leben vierzig oder zehntausend Jahre hindurch
erforschest. Was wirst du mehr sehen?
50
“Zur Erde muß, was von der Erde stammt;
Doch zu des Himmels Pforte drängt
Jegliche Art, die seiner Flur entsprossen — ”
Was nichts anderes besagt, als daß sich die ineinander verschlungenen
Atome trennen und die empfindungslosen Elemente sich zerstreuen.
Doch zu des Himmels Pforte drängt
Jegliche Art, die seiner Flur entsprossen — ”
Was nichts anderes besagt, als daß sich die ineinander verschlungenen
Atome trennen und die empfindungslosen Elemente sich zerstreuen.
51
“Durch Essen, Trinken und durch
andres Gaukelwerk Sind wir bemüht, den Tod uns fern
zu halten. Doch müssen wir den Fahrwind, der von
oben streicht, Sei´s auch zu unserm Leid, hinnehmen
ohne Weh.”
52
Mag jemand immerhin kampfgeübter sein
als du! Er sei nur nicht menschenfreundlicher,
nicht anspruchsloser, nicht ergebener in das Schicksal,
nicht nachsichtsvoller den Fehlern der Nebenmenschen
gegenüber.
53
Bei einer Wirksamkeit, die sich nach
göttlichem und menschlichem Gesetz vollzieht, ist
niemals Gefahr. Nichts hast du zu befürchten,
sobald deine Tätigkeit, ihr Ziel in aller Ruhe verfolgend,
sich nur auf eine deiner Bildung angemessene Art entfaltet.
54
Immer steht es bei dir, das gegenwärtige
Geschick zu segnen, mit denen, die dir grade nahe
stehen, nach Recht und Billigkeit zu verfahren, und
die Gedanken, die sich dir eben darbieten, ruhig durchzudenken,
ohne dich an das Unbegreifliche zu kehren.
55
Sieh dich nicht nach den leitenden
Grundsätzen anderer um, sondern halte den Blick auf
das Ziel gerichtet, worauf dich die Natur hinweist,
sowohl die Allnatur durch das Schicksal als deine
eigene durch deine Pflichten. Jeder aber hat
die Folgen seiner Natur zu tragen. Nun sind aber
die übrigen Wesen wegen der Vernünftigen geschaffen,
wie überhaupt alles weniger Edle für das Edlere.
Die Vernunftwesen aber sind eines um des anderen willen
da. Der erste Trieb des Menschen ist sein Trieb
zur Geselligkeit, das zweite in ihm die Überlegenheit
gegenüber sinnlichen Reizen. Denn vernünftiger
und verständiger Tatkraft ist es eigen, sich selbst
zu beschränken und weder den Anforderungen der Sinne
noch der Triebe je zu unterliegen. Beide sind
tierisch. Die Vernunft will aber den Vorrang
haben und sich nicht von jenen meistern lassen und
das mit Recht. Denn sie ist von Natur dazu da,
sich jener überall zu ihren Zwecken zu bedienen.
Der dritte Vorzug in der Einrichtung eines vernünftigen
Wesens besteht darin, nicht blindlings beizupflichten,
noch sich täuschen zu lassen. Mit diesen Vorzügen
ausgestattet, gehe die herrschende Vernunft vorwärts.
Und sie hat, was ihr gebührt.
56
Lebe so, als solltest du jetzt scheiden
und als wäre die dir noch vergönnte Zeit ein überflüssiges
Geschenk.
57
Liebe das, was dir begegnet und zugemessen
ist, denn was könntest du ziemlicher tun?
58
Bei allem, was dir widerfährt, stelle
dir diejenigen vor Augen, denen dasselbe widerfahren
ist, und die sich dabei widerwillig, voll eitler Verwunderung
oder höchst vorwurfsvoll bewiesen haben. Denn
wolltest du diesen wohl gleichen? oder wolltest du
nicht lieber solche ungehörige Eigenschaften anderen
überlassen, selbst aber nur darauf achten, wie du
deine Erfahrungen zu benutzen hast? Und du wirst
sie aufs beste benutzen, sie werden dir einen herrlichen
Stoff liefern, wenn du keine andere Absicht hast,
als dich bei allem, was du tust, als edler Mensch
zu zeigen, dessen eingedenk, daß alles andere gleichgültig
für dich ist nur nicht, wie du handelst!
59
Blicke in dein Inneres! Da drinnen
ist eine Quelle des Guten, die nimmer aufhört zu sprudeln,
wenn du nur nicht aufhörst nachzugraben.
60
Auch der Körper muß eine feste Haltung
haben und weder in der Bewegung noch in der Ruhe diese
Festigkeit verleugnen. Denn wie deine Seele auf
deinem Gesicht zu lesen ist und eben darum deine Mienen
zu beherrschen und zu formen weiß, so soll auch der
ganze Körper ein Ausdruck der Seele sein. Aber
wohlgemerkt! ohne gesuchte Pose!
61
Dieselbe Kunst, die in den Kampfspielen
gilt, wo man gerüstet sein muß auch auf solche Streiche,
die unvorhergesehen, plötzlich kommen, herrscht auch
im Leben.
62
Kenntest du die Quellen, aus denen
bei so vielen Urteile und Interessen fließen, du würdest
nach der Menschen Lob und Zeugnis nicht begierig sein.
63
Keine Seele, heißt es irgendwo, kommt
anders um die Wahrheit als wider ihren Willen.
Nicht anders also auch um die Gerechtigkeit und Mäßigkeit
und Güte, um alle diese Tugenden. — Je mehr
man das beherzigt, desto milder wird man gegen alle.
64
Bei jeder Unlust sei dir der Gedanke
zur Hand, daß sie nichts Entehrendes sei, noch die
herrschende Denkkraft verschlimmere. Denn weder
an und für sich als etwas Körperliches betrachtet,
noch in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft, kann diese
von jener zerrüttet werden. Doch möge dir bei
den meisten schmerzlichen Empfindungen der Ausspruch
Epikurs dienlich sein, daß sie ebensowenig unerträglich
als ewig dauernd sind, wofern du nur ihrer Grenzen
eingedenk bist und nichts hinzudichtest. So manches
ist dem Schmerze eng verwandt, was nur mehr auf verborgene
Weise lästig wird, z.B. Schläfrigkeit, innere
Glut, Appetitlosigkeit. Drum sage dir, wenn so
etwas dich trifft, nur geradezu: du erliegst
ja dem Schmerz.
65
Hüte dich selbst gegen Unmenschen so gesinnt zu sein,
wie Menschen gegen
Menschen gesinnt zu sein pflegen.
Menschen gesinnt zu sein pflegen.
66
Woher wissen wir, ob nicht Telauges
eine edlere Denkungsart hatte, als Sokrates?
Denn hier ist es nicht genug, daß Sokrates auf ruhmvollere
Art starb, daß er in seinen Unterredungen mit den
Sophisten größere Gewandtheit zeigte, daß er mit mehr
Geduld die Nacht unter dem eiskalten Himmel zubrachte,
daß er dem Befehle, den Salaminier herbeizuführen,
sich, wie es schien, mit noch größerer Seelenstärke
widersetzte, daß er, was man, selbst wenn es wahr
wäre, allermeist bezweifeln möchte, auf den Straßen
stolz einherschritt, sondern man muß vielmehr folgende
Fragen in Erwägung ziehen: Wie war Sokrates´
Seele beschaffen? Genügte ihm die Gerechtigkeit
gegen Menschen und die Frömmigkeit gegen die Götter?
Hat er sich nie ohne Grund über die Schlechtigkeit
anderer geärgert, nie ihrer Unwissenheit nachgegeben?
Hat er die vom Ganzen ihm zugeteilten Geschicke nie
mit Befremden ausgenommen oder unter sie, als unter
ein unerträgliches Joch, sich gebeugt? Nie seine
Vernunft zur Genossin der Leiden des armseligen Fleisches
gemacht?
67
Die Natur hat dich nicht so dem großen
Teig einverleibt, daß du dich nicht eingrenzen und
das deinige allein aus dir selbst heraus tun könntest.
Du kannst fürwahr ein göttlicher Mensch sein, ohne
von irgendeiner Seele gekannt zu werden. Und
magst du daran verzweifeln, in der und jener Wissenschaft
oder Kunst jemals dich auszuzeichnen: ein freier,
edler, hilfreicher, gottesfürchtiger Mensch kannst
du immer werden.
68
Unverrückt kannst du dein Leben in
höchster Geistesfreudigkeit hinbringen, wenn auch
alle Menschen nach Herzenslust ein Geschrei wider
dich erheben und wenn auch wilde Tiere die schwachen
Glieder dieses um dich angesammelten Fleischgemenges
zerreißen sollten. Denn was hindert dich, deiner
denkenden Seele trotz alledem ihre Heiterkeit, ein
richtiges Urteil über die Umstände und eine erfolgreiche
Benutzung der ihr dargebotenen Gelegenheiten zu bewahren?
Dann sagt das Urteil zum Ereignis: “Das
bist du dem Wesen nach, auch wenn du der Meinung nach
anders erscheinst!” und die Benutzung spricht
zur Gelegenheit: “Dich suchte ich eben;
denn immer bietet mir die Gegenwart Stoff zur Ausübung
einer vernünftigen und staatsbürgerlichen Tugend und
überhaupt einer Kunst, die eines Menschen oder Gottes
würdig ist.” Steht ja doch jedes Begegnis
im innigsten Bezuge zu Gott oder zum Menschen und ist
mithin nichts Unerhörtes oder schwer zu Behandelndes,
sondern vielmehr etwas Bekanntes und Leichtes.
69
Die sittliche Vollkommenheit bringt
es mit sich, daß wir jeden Tag leben können, als wäre
er der letzte, frei von Zorn, Schlaffheit und Verstellung.
70
Den unsterblichen Göttern ist es keine
Last, die ganze Ewigkeit hindurch fortwährend eine
solche Masse Nichtswürdiger zu dulden — vorausgesetzt,
daß sie sich um sie kümmern. Und du — du
wolltest ungeduldig werden? und bist vielleicht gar
selbst einer von den Bösen?
71
Lächerlich ist es, der Schlechtigkeit
anderer aus dem Wege gehen zu wollen, was unmöglich
ist, aber der eigenen nicht, was doch möglich ist.
72
Was die vernünftige und zu staatsbürgerlicher
Tugend berufene Tatkraft nicht vernünftig, noch gemeinnützig
findet, das hält sie mit gutem Grund unter der Würde.
73
Wenn du ein gutes Werk getan und dem
anderen wirklich wohl getan hast, warum bist du dann
gar so töricht, ein Drittes zu begehren, nämlich den
Ruhm ob solcher Tat oder irgendeine Vergeltung?
74
Niemand wird es überdrüssig, sich
Vorteile zu verschaffen. Vorteil verschaffen
aber ist eine Tätigkeit an die wir von Natur gewiesen
sind. Darum werde nie müde, dir Vorteile zu verschaffen,
indem du selber Vorteil schaffst.
75
Die Allnatur fühlte den Drang zur
Weltschöpfung. Nun aber geschieht alles, was
geschieht, nach dem Gesetz der notwendigen Folge, oder
es ist auch das Wichtigste dessen Verwirklichung die
weltbeherrschende Vernunft eigens anstrebt, ohne Grund
vorhanden. In vielen Fällen wird es deine Seelenruhe
erhöhen, wenn du dessen eingedenk bist.
ACHTES BUCH
1
Mag es immerhin deinen Ehrgeiz herabdrücken,
daß du nicht allezeit, daß du zumal in deiner Jugend
nicht wie ein Philosoph gelebt hast, sondern vielen
anderen und dir selbst auch als ein Mensch erschienen
bist, der von der Philosophie weit entfernt ist, so
daß es dir nicht leicht sein dürfte, dir noch das
Ansehen eines Philosophen zu verschaffen. Ein
solcher Strich durch deine Rechnung ist nur heilsam.
Genügen muß es dir nun, von jetzt an so zu leben,
wie es deine Natur vorschreibt. Achte also darauf,
was sie will, und laß dich durch nichts davon abbringen.
Du hast so manches versucht, dich hierhin und dorthin
gewendet, aber nirgends dein Glück gefunden, nicht
im Spekulieren nicht im Reichtum, nicht in der Ehre,
nicht in der Sinnenlust, nirgends. Wo ist es denn
nun wirklich? Nur im Tun dessen, was die menschliche
Natur begehrt. Und wie gelangt man dazu?
Dadurch, daß man die Grundsätze festhält, aus denen
ein solches Streben und Handeln mit Notwendigkeit hervorgeht,
die Grundsätze, daß dem Menschen nichts gut sei, was
ihn nicht gerecht, mäßig, standhaft und frei macht,
und daß nichts böse sei, was nicht das Gegenteil von
alledem hervorbringt.
2
Bei jeder Handlung frage dich:
wie steht es eigentlich damit? wird es dich auch nicht
gereuen? Eine kurze Zeit nur noch, und du bist
tot und alles hat aufgehört. Wenn aber das, was
du vorhast, einem Wesen geziemt, das Vernunft hat,
auf die Gemeinschaft angewiesen ist und nach denselben
Gesetzen wie die Götter leben soll, was verlangst du
mehr?
3
Was sind Alexander, Cajus und Pompejus
gegen Diogenes, Heraklit und Sokrates? Denn diese
hatten die Welt der Dinge erforscht und kannten den
Grund und die Weise ihres Bestehens, und ihre Seelen
blieben sich immer gleich. Bei jenen aber, welche
Furcht vor den Dingen und welche Abhängigkeit von
ihnen!
4
Nur fein ruhig und gelassen:
sie werden dasselbe tun, auch wenn du dich zerrissest!
5
Zunächst laß dich nicht beunruhigen,
alles geht seinen Gang, wie es der Natur gemäß ist.
Noch eine kurze Frist und du bist nirgends mehr, wie
Hadrian und Augustus. Dann fasse deine Lebensaufgabe
unverwandten Blicks ins Auge und denke daran, daß
du ein guter Mensch sein sollst. Was die menschliche
Natur von dir fordert, tue unbeirrt, sage nur, was
dir durchaus gerecht erscheint und dies auf wohlwollende,
bescheidene und offenherzige Art.
6
Es ist Aufgabe der großen Natur, das
Vorhandene von einer Stelle zur anderen zu versetzen,
es umzumodeln wegzuräumen und neu einzupflanzen.
Alles ist Wechsel! Man darf also das Neue nicht
bang erwarten. Alles ist Gewohnheit, aber auch
alles gleichmäßig verteilt.
7
In der gesamten Natur liegt die Tendenz,
sich wohlzuverhalten. Die Natur der vernunftbegabten
Wesen ist aber nur dann in ihrem normalen Zustande,
wenn sie, was das Gedankenleben betrifft, weder der
Unwahrheit, noch dem Unerkannten beifällt, wenn sie
die Strebungen der Seele nur auf gemeinnützige Werke
richtet, unseren Neigungen und Abneigungen nur solche
Gegenstände gibt, die in unserer Macht stehen, und
wenn sie alles billigt, was die gesamte Natur über
uns verhängt. Denn sie ist ein Teil dieser Allnatur,
wie die Natur des Blattes ein Teil der Baumnatur ist,
nur daß diese als fühllose und vernunftlose in ihrem
Bestehen gehemmt werden kann, während die menschliche
Natur ein Teil der ungehinderten, vernünftigen und
gerechten Natur ist, vor der die zu ihr gehörigen
Einzelwesen untereinander gleich sind, indem sie jedem
von Zeit und Stoff und Form und Fähigkeit so viel
gibt, als seinem Wesen entspricht, eine Gleichheit,
die wir freilich nicht sehen, wenn wir die Einzelwesen
untereinander vergleichen, sondern nur, wenn wir deren
Gesamtheit mit der der andern Ordnung zusammenhalten.
8
So manches geziemt sich nicht zu jeder
Zeit. Wohl aber geziemt sich´s immer, den Stolz
zurückzudrängen, Freud und Leid gering zu achten, über
ehrgeizige Gelüste erhaben zu sein, gefühllosen und
undankbaren Menschen nicht zu zürnen, ja vielmehr
sich ihrer anzunehmen.
9
Niemand höre hinfort von dir, daß
du das Leben am Hofe überhaupt oder nur das deinige
tadelst.
10
Die Reue ist eine Selbstanklage darüber,
daß man sich einen Vorteil hat entgehen lassen.
Das Gute aber ist notwendigerweise vorteilhaft und
somit auch die Sorge des guten und edlen Menschen.
Dagegen hat wohl noch nie der edle Mensch darüber
Reue gefühlt daß er sich ein Vergnügen hat entgehen
lassen; woraus zu entnehmen ist, daß die Lust nichts
Vorteilhaftes und nichts Gutes ist.
11
Was ist dieser Gegenstand hier seinem
Wesen und seinen Eigenschaften nach? Was ist
er nach seinem Stoff? Welche Kraft wirkt in ihm?
Was tut er in der Welt und wie lange ist seine Dauer?
12
Sooft du verdrossen vom Schlaf erwachst,
bedenke, daß gemeinnützige Handlungen deinen Anlagen
und deinem Charakter entsprechen, der Schlaf dir aber
mit den vernunftlosen Tieren gemeinsam ist. Was
nun der Natur eines jeden Wesens entspricht, ist demselben
verwandter, angemessener, ja sogar angenehmer.
13
Ohne Unterlaß und womöglich bei jedem Gedanken wende
die Lehren der
Physik, der Ethik und der Dialektik an!
Physik, der Ethik und der Dialektik an!
14
Sobald du weißt, was für Ansichten
und Grundsätze einer hat über Gut und Böse, über Lust
und Schmerz und über die Wirkungen beider, über Ehre
und Schande, Leben und Sterben, kann dir nicht wunderbar
und fremdartig vorkommen, was er tut; du weißt alsdann:
er ist gezwungen, so zu handeln. Und ferner wenn
sich doch kein Mensch darüber wundert, daß der Feigenbaum
Feigen trägt, und der Arzt nicht, wenn jemand das Fieber
hat, noch der Steuermann wenn der Wind entgegensteht;
warum also befremdlich finden, daß das Weltganze hervorbringt,
was dem Keime nach in ihm liegt?
15
Seine Meinung zu ändern, und dem,
der sie berichtigt, Gehör zu schenken, ist nichts,
was unsere Selbständigkeit aufhebt. Es ist ja
doch auch dann dein Trieb und Urteil, dein Sinn, aus
welchem deine Tätigkeit hervorgeht.
16
Lag´s an dir, warum hast du´s getan?
War ein anderer schuld, wem willst du Vorwürfe machen?
Den Atomen oder den Göttern? Beides ist Unsinn.
Du hast niemand Vorwürfe zu machen. Suche den,
der schuld war, eines Besseren zu belehren, oder wenn
dies nicht möglich, bessere an der Sache selbst.
Aber auch, wenn dieses nicht angeht, wozu dienen die
Vorwürfe? Man muß eben nichts ohne Überlegung
tun.
17
Was stirbt, kommt darum noch nicht
aus der Welt. Aber wenn es auch hier bleibt,
verändert es sich doch und löst sich auf in seine Grundstoffe,
in die Elemente der Welt und in deine. Und auch
diese ändern sich — ohne Murren.
18
Jedes Wesen, z.B. ein Pferd, ein Weinstock,
dient irgendeinem Zweck. Was Wunder? Auch
die Sonne wird dir sagen: “Ich muß wirken”
und ebenso die übrigen Gottheiten. Wozu gibt´s
dich? Etwa zu sinnlichen Freuden? Sieh doch
einmal zu, ob vernünftiges Nachdenken das gestattet!
19
Es ist mit jedem Dinge, seinem Ende,
Ursprunge und Bestehen nach nicht anders wie mit einem
Ball, den jemand wirft. Ist´s etwas Gutes, wenn
er in die Höhe steigt, oder etwas Schlimmes, wenn
er niederfährt und zur Erde fällt? Was ist´s
für eine Wohltat für die Wasserblase, wenn sie zusammenhält,
und was für ein Leid, wenn sie zerplatzt? Und
ebenso das Licht, wenn es brennt und wenn es verlischt?
20
Drehe einmal das Innere deines Körpers
nach außen und sieh, welcher Art es ist, wenn Alter,
Krankheit Ausschweifung ihn aufreiben! Kurz dauert
sowohl das Leben dessen, der lobt, als dessen, der
gelobt wird, dessen, der eines anderen gedenkt und
dessen gedacht wird. Überdies geschieht dies ja nur
in einem kleinen Winkel der Erde und selbst da stimmen
nicht alle überein. Und die ganze Erde ist nur
ein Punkt.
21
Was du tust, setze stets in Beziehung
auf der Menschen Wohlfahrt; was dir widerfährt, nimm
hin und beziehe es auf die Götter, als auf die Quelle
aller Dinge, aus der jegliches Geschehen herausfließt.
22
Habe acht auf das, was dir gerade
vorliegt, sei es eine Ansicht oder ein Geschehnis
oder ein Ausdruck! Sonst geschieht dir ganz recht.
Du willst lieber erst morgen gut werden, als es heute
schon sein.
23
Was siehst du beim Baden? Öl, Schweiß,
Schmutz, klebriges Wasser — lauter ekelerregende
Dinge. Von ebender Art ist jeder einzelne Teil
des Lebens und was darin vorkommt.
24
Lucilla sah den Verus sterben, nachher
starb auch Lucilla, Secunda den Marimus und dann folgte
ihm Secunda, Epitynchanus den Diotimus und bald folgte
diesem Epitynchanus, Antoninus die Faustina und dann
folgte ihr Antoninus nach, Celer den Hadrian und dann
starb auch Celer. So ging´s mit allen.
25
Jene scharfsinnigen Menschen, jene
Zukunftsdeuter, jene Hohlköpfe — wo sind
sie? Wo, z.B., die scharfsinnigen Männer wie Charax,
Demetrius, die Platoniker, Eudämon und andere der
Art? Alle vergänglich und längst schon tot.
Von einigen hat sich nicht einmal auf kurze Zeit ein
Andenken erhalten. Aus anderen wurden Helden
der Fabel; andere wiederum verschwanden bereits aus
dieser Reihe. Gedenke also dessen, daß auch dein
Körperbau sich auflösen, sein Lebensgeist erlöschen
oder auswandern oder sich versetzen lassen muß.
26
Die Freude der Menschen besteht darin, wahrhaft menschlich
zu handeln.
Wahrhaft menschlich ist aber das Wohlwollen gegen seinesgleichen,
Verachtung der Sinnenreife, Unterscheidung bestechender Vorstellungen,
Betrachtung der Allnatur und ihrer Wirkungen.
Wahrhaft menschlich ist aber das Wohlwollen gegen seinesgleichen,
Verachtung der Sinnenreife, Unterscheidung bestechender Vorstellungen,
Betrachtung der Allnatur und ihrer Wirkungen.
27
Für den Menschen sind dreierlei Beziehungen
wichtig, erstens die zu seiner eigenen, ihn umgebenden
Körperhülle, zweitens die zu seinem göttlichen Ursprung
der alles bewirkt, und drittens zu den Zeitgenossen.
28
Der Schmerz ist entweder für den Leib
ein Übel — dann geht er nur diesen etwas
an — oder eines für die Seele. Die Seele
kann aber ihre Heiterkeit und Ruhe bewahren und den
Schmerz deshalb für kein Übel nehmen. Denn Urteil,
Trieb, Neigung und Abneigung haben sämtlich ihren Sitz
im Innern. Und kein Übel kann da eindringen.
29
Unterdrücke deine Einbildungen und
sage dir bei jeder Gelegenheit: Nun steht es
doch bei mir allein, keine Bosheit, keine Begierde
und überhaupt keine Leidenschaft in der Seele aufkommen
zu lassen. Dagegen will ich alles nach seinem
Wesen betrachten und seinem Wert entsprechend benutzen.
Vergiß nicht diese dir von der Natur geschenkte Gabe!
30
Rede würdevoll im Senat wie im geselligen
Verkehr, ohne affektiert zu werden. Rede mit
gesunder Vernunft!
31
Der Hof des Augustus, seine Gemahlin,
seine Tochter, seine Enkel, seine Stiefsöhne, seine
Schwester, Agrippa, seine Verwandten, Hausgenossen
und Freunde, Arius, Mäcenas, seine Leibärzte und Priester,
kurz sein ganzer Hof — eine Beute des Totes!
Von da geh weiter, nicht etwa zum Tod eines Einzelmenschen,
sondern zum Aussterben ganzer Familien, wie der der
Pompejer. Manches Grabmal trägt die Aufschrift:
“Der Letzte seines Stammes.” Und
nun stelle dir vor, wie sehr sich die Vorfahren bemühten,
einen Stammhalter zu hinterlassen und doch mußte einer
notwendig der letzte sein. Überdies denke an das Vergehen
ganzer Geschlechter.
32
Wir müssen in unser Leben Ordnung
und Planmäßigkeit bringen, und jede unserer Handlungen
muß ihren bestimmten Zweck haben. Wenn sie den
erreicht ist es gut; und eigentlich kann sie niemand
daran hindern. Äußere Hemmnisse können wenigstens
nichts tun, um sie minder gerecht, besonnen, überlegt
zu machen, und wenn sie sonst deiner Tätigkeit etwas
in den Weg legen, bietet sich wohl gerade durch ein
Hindernis, wenn man´s nur gelassen aufnimmt und begierig
acht hat auf das, was zu tun übrigbleibt, ein neuer
Gegenstand der Tätigkeit, dessen Behandlung sich in
die Lebensordnung fügen läßt, von der wir reden.
33
Sei bescheiden, wenn du empfangen,
und frisch bei der Hand, wenn du etwas weggeben sollst!
34
Solltest du einmal eine abgehauene
Hand, einen Fuß, einen Kopf, getrennt vom übrigen
Körper zu sehen bekommen: siehe, das sind Sinnbilder
solcher Menschen, die nicht zufrieden sein wollen
mit ihrem Schicksal, oder deren Handlungsweise bloß
ihrem eigenen Vorteil dient, ein Sinnbild auch deines
Wesens, wie du manchmal bist. Doch sieh, es steht
dir frei, dich wieder mit dem großen Ganzen zu vereinigen,
von dem du dich geschieden hast. Anderen Gliedern
des Weltalls verstattet die Gottheit nicht, nachdem
sie sich abgelöst haben, wieder zusammenzukommen.
Aber dem Menschen hat es ihre Güte gewährt. Sie
legte es von Haus aus in des Menschen Hand, in dem
Zusammenhang mit dem Ganzen zu verbleiben und wenn
er daraus geschieden war, zurückzukehren, aufs neue
mit ihm zu verwachsen und den alten Platz wieder einzunehmen.
35
Wie die Natur jegliches Hindernis
als solches zu beseitigen, in ihre Notwendigkeit hereinzuziehen
und zu einem Bestandteil ihrer selbst zu machen weiß,
so kann auch das vernunftbegabte Wesen jede Hemmung
in seinen eigenen Stoff verwandeln und sie benutzen
zur Verwirklichung seines Strebens, worauf dasselbe
auch gerichtet sein möge.
36
Wenn du dein Leben im ganzen vor dir
hättest, wenn du sähest, was dir alles bevorsteht,
welche Entmutigung müßte dich ergreifen! Aber
wenn du ruhig wartetest, bis es kommt, und bei jedem
einzelnen, wenn es da ist, dich fragtest, was denn
dabei eigentlich nicht zu ertragen sei — du
müßtest dich deiner Verzagtheit schämen. Kümmern
sollten wir uns immer nur um das Gegenwärtige, da
uns nur dieses, nicht Zukünftiges und nicht Vergangenes,
wirklich lästig fallen kann. Und unfehlbar wird
diese Last gemindert, wenn wir das Gegenwärtige rein
so nehmen, wie es ist, ihm nichts Fremdes hinzudichten
und uns selber widerlegen, wenn wir meinen, auch dies
nicht einmal ertragen zu können.
37
Sitzen etwa auch jetzt noch Panthea
und Pergamus am Sarge des Verus? Oder Chaurias
und Diotimus an Hadrians Grab? Das wäre lächerlich.
Würden es aber jene fühlen, wenn sie daneben säßen
und, wenn sie es fühlten, würden sie sich freuen,
und wenn sie sich freuten, würden diese dadurch unsterblich
sein? War es nicht auch ihre Bestimmung zuerst,
alte Frauen und Männer zu werden und dann zu sterben?
Und können denn die Klagenden dem Tod entrinnen?
Der ganze Körper ist ein Schlauch voll Unrat und Moder.
38
Ist dir Scharfsinn eigen, verwende ihn zu klugem Urteil.
39
Unter den Anlagen vernunftbegabter Wesen finde ich
keine, die der
Gerechtigkeit gegenübersteht, wohl aber eine, die der Wollust das
Gleichgewicht hält: die Enthaltsamkeit.
Gerechtigkeit gegenübersteht, wohl aber eine, die der Wollust das
Gleichgewicht hält: die Enthaltsamkeit.
40
Könntest du deine Ansicht über das,
was dich zu schmerzen scheint, ändern, so würdest
du vollständig in Sicherheit sein. Wer ist das
du, frage ich: die Vernunft. Aber
ich bin nicht die Vernunft, entgegnest du. Mag
sein, wenn sich die Vernunft nur eben nicht betrübt.
Alles übrige, wenn es sich schlecht befindet, mag
denken und fühlen, was es will.
41
Jede Hemmung des Empfindungslebens
sowohl, wie die eines Triebes ist für die tierische
Natur ein Übel. Anders die Hemmungen und Übel
im Pflanzenleben. Für die geistbegabten Wesen
aber kann nur das ein Übel sein, was das Geistesleben
stört. Hiervon mache die Anwendung auf dich selbst.
Leid und Freude berühren nur die Sphäre des Empfindens.
Eine Hemmung des Triebes kann allerdings auch schon
für die vernünftige Kreatur ein Übel sein; allein
nur dann, wenn es ein absoluter Trieb ist. Dann
aber, wenn du so nur das Allgemeine ins Auge fassest,
was sollte dir schaden und was dich hindern können?
Denn in die dem Geiste eigentümliche Sphäre kann nichts
anderes störend eingreifen, nicht Feuer, nicht Eisen,
kein Despot, keine Lästerung, nichts, was nicht vom
Geiste selber herrührt. Solange eine Kugel besteht,
so lange bleibt sie eben rund nach allen
Seiten.
42
Habe ich noch niemals einen andern
absichtlich betrübt so ziemt es mir auch nicht, mich
selber zu betrüben.
43
Mögen andere ihre Freude haben, woran
sie wollen; meine Freude ist, wenn ich eine gesunde
Seele habe, ein Herz, das keinem Menschen zürnt, nichts
Menschliches sich fernhält, sondern alles mit freundlichem
Blick ansieht und aufnimmt und jedem begegnet, wie´s
ihm gebührt.
44
Nütze die Gegenwart aus. Wer
dem Nachruhm lieber nachgeht, bedenkt nicht, daß die
kommenden Geschlechter ebenso beschaffen sein werden,
wie jene, unter denen er leidet. Auch sie sind
ja sterblich. Überhaupt was kümmert es dich, ob unter
ihnen diese und jene Stimmen über dich laut werden
oder ob sie diese und jene Meinung von dir haben?
45
Nimm mich und versetze mich, wohin
du willst! Bringe ich doch überall den Genius
mit, der mir günstig ist, den Geist, der seine Aufgabe
darin erkennt, sich so zu verhalten und so zu wirken,
wie es seine Bildung verlangt. Und welche äußere
Lebensstellung wäre es wert, daß um ihretwillen meine
Seele sich schlecht befinde und herabgedrückt oder
gewaltsam erregt, gebunden oder bestürzt gemacht ihres
Wertes verlustig ginge? Was kannst du finden,
das solcher Opfer wert wäre?
46
Keinem kann etwas begegnen, das nicht
Menschenschicksal wäre, so wenig als dem Stier etwas
zustößt, das nicht der Stiernatur, oder dem Weinstock
etwas, das nicht dem Wesen des Weinstocks, oder dem
Stein etwas, das nicht der Natur des Steins angemessen
wäre. Wenn nun jedem begegnet, was gewöhnlich
oder natürlich ist, warum solltest du dich darüber
ärgern? Denn die Natur durfte nichts Unerträgliches
über dich verhängen.
47
Wenn in deiner Gemütsverfassung etwas
ist, was dich bekümmert, wer hindert dich, den leitenden
Gedanken der die Störung verursacht, zu berichtigen?
Ebenso wenn es dir leid ist, das nicht getan zu haben,
was dir als das einzig Richtige erscheint, warum tust
du es nicht lieber noch, sondern gibst dich dem Schmerz
darüber hin? Du vermagst es nicht, ein Hindernis,
stärker als daß du´s beseitigen könntest, hält dich
ab? Nun so wehre der Traurigkeit nur um so mehr:
der Grund, warum du´s unterließest, liegt ja dann
nicht in dir! Aber freilich, wenn man nicht so
handeln kann, ist´s nicht wert zu leben. Und darum
scheide du aus dem Leben mit frohem Mut und — da
du ja auch sterben müßtest, wenn du so gehandelt — freundlichen
Sinnes gegen die, die dich gehindert!
48
Die Seele des Menschen ist unangreifbar,
wenn sie in sich gesammelt daran sich genügen laßt,
daß sie nichts tut, was sie nicht will, auch wenn
sie sich einmal unvernünftigerweise widersetzen sollte,
am meisten aber, wenn sie jederzeit mit Vernunft zu
Werke geht. Darum, sage ich, ist die leidenschaftslose
Seele eine wahre Burg und Festung. Denn der Mensch
hat keine stärkere Schutzwehr. Hat er sich hier
geborgen, kann ihn nichts gefangen nehmen. Wer
dies nicht einsieht, ist unverständig; wer es aber
einsieht und dennoch seine Zuflucht dort nicht sucht,
unglücklich.
49
Zu dem, was dich ein erster scharfer
Blick gelehrt, füge weiter nichts hinzu. Du hast
erfahren, der und jener rede schlecht von dir.
Nun gut. Aber, daß du gekränkt seist, das hast
du nicht gehört. Du siehst, dein Kind ist krank.
Nun gut. Aber daß es in Gefahr schwebe, das siehst
du nicht. Und so lasse es immer bei dem ersten
bewenden, und füge nichts aus deinem Innern hinzu,
so wird dir auch nichts geschehen. Hast du aber
dennoch deine weiteren Gedanken dabei, so beweise dich
hierin gerade als ein Mensch, der, was im Leben zu
geschehen pflegt, durchschaut hat.
50
“Hier, diese Gurke ist bitter.”
Lege sie weg! “Hier ist ein Dornstrauch.”
Geh ihm aus dem Weg! Weiter ist darüber nichts
zu sagen. Wolltest du fortfahren und fragen:
aber wozu in aller Welt ist solches Zeug? so würde
dich der Naturforscher gründlich auslachen, ebenso
wie dich der Tischler und der Schuster auslachen würde,
wenn du´s ihnen zum Vorwurf machtest, daß in ihren
Werkstätten Späne und Überbleibsel aller Art herumliegen.
Mit dem Unterschiede, daß diese Leute einen Ort haben,
wohin sie diese Dinge werfen, die Natur aber hat nichts
draußen. Sondern das Bewunderungswürdige ihrer
Kunst besteht eben darin, daß sie, die sich lediglich
selber begrenzt, alles, was in ihr zu verderben, alt
und unnütz zu werden droht, so in sich hinein verwandelt,
daß sie daraus wieder etwas anderes Neues macht, daß
sie keines Stoffes außer sich selbst bedarf und das
faul Gewordene nicht hinauswerfen muß. Sie hat
an ihrem eigenen Raume, an ihrem eigenen Material
und an ihrer eigenen Kunst völlig genug.
51
Sei in deinem Tun nicht fahrlässig,
in deinen Reden nicht verworren, in deinen Gedanken
nicht zerstreut; laß dein Gemüt nicht eng werden, noch
leidenschaftlich aufwallen, noch laß dich von Geschäften
vollauf in Beschlag nehmen. Mögen sie dich ermorden,
zerfleischen, verfluchen, was tut´s? Deine denkende
Seele kann dessenungeachtet rein, verständig, besonnen
und gerecht bleiben. Hört denn die reine süße
Quelle auf, rein und süß zu quellen, wenn einer, der
dabei steht, sie verwünscht? Und wenn er Schmutz
und Schlamm hineinwürfe, würde sie´s nicht sofort
ausscheiden und hinwegspülen, um rein zu bleiben wie
zuvor? Du auch bist im Besitz einer solchen ewig
reinen Quelle, wenn du die Seele frei, liebevoll,
einfältig ehrfurchtsvoll dir zu bewahren weißt.
52
Wer nicht weiß, was die Welt ist,
weiß nicht, wo er lebt. Aber nur, der da weiß,
wozu er da ist, weiß, was die Welt ist. Wem aber
eins von diesen Stücken fehlt, der kann auch wohl
seine eigene Bestimmung nicht angeben. In welchem
Lichte erscheint dir nun der Mensch, der um den lauten
Beifall jener buhlt, die nicht wissen, wo noch wer
sie sind?
53
Soll dich ein Mensch loben, der sich
in einer Stunde dreimal verflucht? Wie oft strebst
du danach, einem Menschen zu gefallen, der sich selber
nicht gefällt? Oder kann sich der gefallen, der
fast alles, was er tut, bereut?
54
Hinfort verkehre du nicht bloß mit
der dich umgebenden Luft, sondern ebenso auch mit
dem alles umgebenden Geiste! Denn der Geist ergießt
und verteilt sich nicht minder überall dahin, wo jemand
ist, der ihn einzusaugen vermag, als die Luft dahin,
wo man sie atmen kann.
55
Im allgemeinen schadet das Böse der
Welt nicht, und im einzelnen Falle schadet es nur
dem, dem es vergönnt ist, sich frei davon zu machen,
sobald er nur will.
56
Nach meinem Dafürhalten ist die Ansicht,
die mein Nächster hat, etwas ebenso Gleichgültiges
für mich als sein ganzes geistiges und leibliches
Wesen. Denn wenn es auch durchaus richtig ist,
daß wir einer um des andern willen da sind, so ist
doch jede unserer Seelen etwas Selbständiges für sich.
Wäre dies nicht, so müßte ja auch die Schlechtigkeit
meines Nebenmenschen mein Verderben sein, was doch
der Gottheit nicht gefallen hat, so einzurichten,
damit mein Unglück nicht von andern abhängig sei.
57
Die Sonnenstrahlen scheinen von der
Sonne herzuströmen, und wiewohl sie sich überallhin
ergießen, werden sie doch nicht ausgegossen. Denn
dieses Fließen und Gießen ist nichts als Ausdehnung.
Recht deutlich kann man sehen, was der Strahl sei,
wenn die Sonne durch eine enge Öffnung in einen dunkeln
Raum scheint. Ihr Strahl fällt in gerader Richtung
und wird, nachdem er die Luft durchschnitten hat,
an dem gegenüberstehenden Körper gleichsam gebrochen.
Doch bleibt er an ihm haften und löscht nicht aus.
Ebenso müssen nun die Ausstrahlungen der Seele sein,
kein Ausgießen, sondern ein sich Ausdehnen, kein heftiges
und stürmisches Aufprallen auf die sich entgegenstellenden
Dinge, aber auch kein Herabgleiten von ihnen, sondern
ein Beharren und Erleuchten alles dessen, was ihre
Strömung begegnet, und so, als beraube jegliches Ding
sich selbst ihres Glanzes, wenn es ihn nicht empfängt.
58
Wer sich vor dem Tode fürchtet, fürchtet
sich entwedervor dem Erlöschen jeglicher Empfindung,
oder vor einem Wechsel des Empfindens. Aber wenn
man gar nichts mehr fühlt, ist auch ein Schmerz nicht
mehr möglich. Erhalten wir aber ein anderes Fühlen,
so werden wir andere Wesen, hören also auch nicht
auf zu leben.
59
Die Menschen sind füreinander geboren.
So belehre oder dulde, die´s nicht wissen.
60
Anders ist der Flug des Geschosses
und anders der, den der Geist nimmt. Und doch
bewegt sich der Geist, wenn er Bedacht nimmt, oder
wenn er überlegt, nicht weniger in gerader Richtung
und dem Ziel entgegen.
61
Suche einzudringen in jedes Menschen
Inneres, aber verstatte es auch jedermann, in deine
Seele einzudringen!
NEUNTES BUCH
1
Wer unrecht handelt, handelt gottlos.
Denn die Natur hat die vernünftigen Wesen füreinander
geschaffen nicht daß sie einander schaden, sondern
nach Würdigkeit einander nützen sollen. Wer ihr
Gebot übertritt, frevelt demnach offenbar wider die
älteste der Gottheiten. Auch der mit Lügen umgeht,
ist gottlos. Denn die Natur ist das Reich des
Seienden. Alles aber, was ist, stimmt als solches
überein mit seinem Grunde. Und diese Übereinstimmung
nennt man Wahrheit. Auf ihr beruht alles, was
man wahr nennt im einzelnen Falle. Der Lügner
also handelt gottlos, weil er andere betrügt und somit
unrecht handelt, tut er´s mit Absicht. Geschieht
es unwillkürlich weil er nicht mit der Natur im Einklang
ist, handelt er gottlos, weil er die Ordnung stört,
indem er ankämpft gegen das Ganze. Denn im Kampf
ist jeder, der sich wider die Wahrheit bestimmt, weil
er von Natur für sie bestimmt ward. Wer aber
dies außer acht läßt, ist schon so weit, Wahrheit und
Lüge nicht unterscheiden zu können. Endlich handelt
auch der gottlos, der dem Vergnügen nachgeht als einem
Gute und vor dem Schmerz als einem Übel flieht, da
ein solcher notwendig oft in den Fall kommt, die Natur
zu tadeln, als teile sie den Guten und den Schlechten
ihre Gaben nicht nach Verdienst aus. Denn wie
oft genießen böse Menschen Glück und Freude, und haben,
was ihnen Freude schaffen kann, während die Guten dem
Leid anheimfallen und dem, was Leiden schafft.
Ferner wird, wer sich vor dem Schmerze fürchtet, auch
nicht ohne Furcht in die Zukunft blicken können, was
schon gottlos ist, während der, der nach Lust strebt,
sich kaum des Unrechts wird enthalten können, was
offenbar gottlos ist. Und jedenfalls muß doch,
wer in Übereinstimmung mit der Natur leben und ihr
folgen will, gleichgültig gegen das sein, wogegen
sich die Natur gleichgültig verhält, das aber tut
sie gegen Lust und Schmerz, gegen Tod und Leben, Ehre
und Schande. Wer also alles dies nicht gleichgültig
ansieht, ist offenbar gottlos. Die gemeinsame
Natur aber, sage ich, bedient sich derselben nach
einerlei Regel (das heißt, sie begegnet nach dem Gesetz
der Aufeinanderfolge den jetzigen wie den künftigen
nach einerlei Regel) kraft eines uranfänglichen Zuges
der Vorsehung, vermöge dessen sie von einem bestimmten
Anfang her zur gegenwärtigen Welteinrichtung fortschritt,
indem sie gewisse Grundstoffe des Werdenden zusammenfaßte
und die erzeugenden Kräfte der Stoffe selbst, ihrer
Verwandlungen und ihrer derartigen Aufeinanderfolge
abgrenzte.
2
Besser wär´s, wenn man die Welt verlassen
könnte, ehe man all die Lüge und Heuchelei, den Prunk
und Stolz geschmeckt. Hat man nun aber diese
Dinge einmal schmecken müssen, so ist´s doch wohl der
günstigere Fall, dann bald die Seele auszuhauchen,
als mitten in dem Elend sitzen zu bleiben? Oder
hat dich die Erfahrung nicht gelehrt, die Pest zu fliehen?
und welche Pest ist schlimmer, die Verdorbenheit der
uns umgebenden Luft, die Pest, die nur das tierische
Wesen als solches trifft, oder die Verderbnis der
Seele, die eigentliche Menschenpest?
3
Denke nicht gering vom Sterben, sondern
laß es dir wohlgefallen wie eines der Dinge, in denen
sich der Wille der Natur ausspricht. Denn von
derselben Art wie das Kindsein und das Altsein, das
Wachsen und Mannbarwerden oder das Zahnen und Bärtigwerden
und Graues-Haar-Bekommen oder das Zeugen und Gebären
und alle diese Tätigkeiten der Natur, wie sie die
verschiedenen Zeiten des Lebens mit sich bringen, ist
auch das Sterben. Daher ist es die Sache eines
verständigen Menschen, weder mit Gleichgültigkeit
noch mit heftiger Gemütsbewegung noch in übermütiger
Weise an den Tod zu denken, sondern auf ihn zu blicken
eben wie auf eine jener Naturwirkungen. Und wie
du des Augenblickes harrst, wo das Kindlein der Mutter
Schoß verlassen haben wird, so erwarte auch die Stunde,
da deine Seele dieser Hülle entweichen wird. — Eindringlich
ist auch jene gewöhnliche Regel, die man gibt, um
jemand zur Zufriedenheit mit dem Lose der Sterblichkeit
zu stimmen: einmal, sieh dir die Dinge genau
an, von denen du dich trennen mußt, und dann in ethischer
Beziehung, welch ein Elend, womit du einst nicht mehr
verflochten sein wirst! Zwar ist es keineswegs
nötig, sich daran zu stoßen, Pflicht ist es vielmehr,
es zu lindern oder ruhig zu ertragen, allein man darf
doch daran denken, daß es nicht eine Trennung gilt
von gleichgesinnten Menschen. Denn dies wäre
das einzige, was uns rückwärts ziehen und an das Leben
fesseln könnte, wenn es uns vergönnt wäre, mit Menschen
zusammenzuleben, die von denselben Grundsätzen und
Ideen beseelt sind wie wir. Nun aber weißt du
ja, welches Leiden der Zwiespalt ist, der unter den
Menschen herrscht, und kannst nicht anders als den
Tod anflehen, daß er eilig kommen möge, damit du nicht
auch noch mit dir selbst in Zwiespalt gerätst.
4
Wer unrecht handelt, schadet sich selbst.
5
Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut, nicht bloß,
der etwas tut.
6
Wenn du gesundes Urteil hast und die
Gewohnheit, für andere zu handeln, und ein Gemüt,
das mit den äußeren Verhältnissen zufrieden ist, so
hast du genug.
7
Unterdrücke die bloße Einbildung,
trenne den Trieb, dämpfe die Begierde; erhalte dem
herrschenden Teil deiner Seele die Herrschaft über
sich selbst!
8
Wie es nur eine Erde gibt für alles
Irdische, ein Licht für alles, was sehen, und eine
Luft für alles, was atmen kann, so ist es auch nur
ein Geist, der unter sämtliche Vernunftwesen verteilt
ist.
9
Alle Dinge von derselben Art streben
zueinander als zu dem Gleichartigen hin. Alles,
was von Erde ist, gleitet zur Erde, alles Flüssige
läuft zusammen, und so auch das Luftige, so daß es
der Gewalt bedarf um solche Dinge auseinanderzuhalten.
Das Feuer hat zwar seinen Zug nach oben, vermöge des
Elementarfeuers, aber auch da erfaßt es alles ihm Ähnliche
und bringt die trockeneren Stoffe zum Brennen, eben
weil diesen weniger von dem beigemischt ist, was ein
Entflammen hindert. Ebenso nun und noch mehr
strebt auch alles, was der vernünftigen Natur angehört,
zueinander hin. Denn je edler es ist als das
übrige, um so bereiter ist es auch, sich dem Verwandten
zu einen und mit ihm zusammenzugehen. Schon auf
der Stufe der vernunftlosen Wesen finden sich Scharen
und Herden, findet sich das Auffüttern der Jungen,
eine Art von Liebe. Denn schon hier ist Seele
und jener Gemeinschaftstrieb in höherer Weise, als
er in der Pflanzenwelt und im Gestein sich findet.
Bei den Vernunftbegabten nun kommt es zu Staaten,
Freundschaften, Familien, Genossenschaften, und in
den Kriegen selbst zu Bündnissen und Waffenstillständen.
Und wenn wir zu den noch höheren Wesen fortschreiten,
mögen sie auch um Unendlichsten auseinander sein:
auch da ist Einheit, wie bei den Sternen; so daß, je
höher wir kommen, desto entschiedener die Sympathie
sich auch auf die Entferntesten erstreckt. Aber
was geschieht? Die vernünftigen Wesen allein
sind es, die dieses Zueinanderstrebens, dieses Zusammenhaltens
nicht eingedenk bleiben, und hier allein vermag man
jenes Zusammenfließen nicht wahrzunehmen! Und
dennoch — : mögen sie sich immerhin
fliehen, sie umschließen sich doch. Die Natur
zwingt sie. Man sehe nur genau! Eher findest
du Erde, die nicht an Erde hängt, als einen Menschen
vom Menschen abgelöst.
10
Frucht bringen Mensch und Gott und
Welt, ein jegliches zu seiner Zeit, in anderer Weise
freilich als der Weinstock und dergleichen Dinge.
Auch die Vernunft hat ihre Frucht, von allgemeiner
und von individueller Art. Und was aus ihr hervorgeht,
ist eben immer wieder — Vernunft.
11
Belehre den Fehlenden eines Besseren,
wenn du es vermagst. Wo nicht, erinnere dich,
daß dir für diesen Fall Nachsicht verliehen ist.
Auch die Götter sind nachsichtig, ja sie sind den
Fehlenden zu einigem, wie Gesundheit, Reichtum, Ehre
behilflich. So gütig sind sie! Auch du kannst
es sein. Oder, sage, wer hindert dich daran?
12
Leide nicht mit der Miene eines Unglücklichen
oder in der Absicht, bewundert oder bemitleidet zu
werden. Wolle vielmehr nur das eine, deine Kraft
in Bewegung zu setzen oder zurückzuhalten, wie es das
Gemeinwesen erheischt.
13
Heut, sprichst du, bin ich aller meiner
Plage entronnen. Sag lieber: heut hab ich
all meine Plage abgeworfen. Denn in dir, in deiner
Vorstellung war sie, nicht außer dir.
14
Alles bleibt sich gleich. Gewöhnlich
in Hinsicht auf Erfahrung, vergänglich in Hinsicht
auf Zeit, schmutzig in Hinsicht des Stoffes.
Alles, was jetzt ist, war ebenso bei denen, die wir
bestattet haben.
15
Die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände
sind außer uns. Einsam stehen sie sozusagen vor
unserer Tür. Sie wissen nichts von sich selbst,
urteilen auch nicht über sich. Wer urteilt also
über sie? Der herrschende Teil unserer Seele.
16
Gut und Böse, Tugend und Laster ruhen
bei vernunftbegabten Wesen nicht auf einem Zustande,
sondern auf einer Tätigkeit.
17
Für den emporgeworfenen Stein ist
es ebensowenig ein Glück, in die Höhe zu fliegen,
als ein Unglück herabzufallen.
18
Dringe in das Innere der Seele bei
den Herrschenden und du wirst sehen, vor was für Richtern
du dich fürchtest und was für Richter sie über sich
selbst sind.
19
Alles wechselt stets. Auch du
selbst bist im steten Wechsel begriffen, um nicht
zu sagen in Verwesung. Ebenso die ganze Welt.
20
Das Vergehen eines anderen muß man bei ihm lassen.
21
Das Aufhören der Tätigkeit, Stillstehen
der Triebe und der Vorstellungen — der Tod — ist
kein Übel. Denn wie ist es mit den verschiedenen
Stufen des Lebens, mit der Kindheit, der Jugend, dem
Mannes- und Greisenalter? ist nicht ihr Wechsel — Tod?
und ist das etwas Schlimmes? Nicht anders der
Wechsel der Zeiten. Die Zeiten der Vorväter hören
auf mit dem Zeitalter der Väter usf. Ist bei allen
diesen Veränderungen etwas Schlimmes? Also auch
nicht, wenn dein Leben wechselt, stillsteht und aufhört.
22
Forsche in deiner eigenen Seele, in
der Seele des Weltganzen und in der deines Nächsten.
In deiner eigenen, um ihr Sinn für Gerechtigkeit einzuflößen,
in der des Weltganzen, um dich zu erinnern, wovon du
ein Teil bist, in der des Nächsten, um zu erkennen,
ob er wissentlich oder unwissentlich handelt und um
zu fühlen, daß sie der deinigen verwandt sei.
23
So wie deine ganze Persönlichkeit
der ergänzende Teil eines Gemeinwesens ist, so soll
auch jede deiner Handlungen das gemeinschaftliche Handeln
dieses Gemeinwesens ergänzen. Tut sie dies nicht,
ist sie mehr oder weniger diesen Absichten fern, so
zerstückelt sie dein Leben, hindert seine Harmonie,
ist aufrührerisch wie ein Mensch, der im Volke seine
Partei dem Zusammenwirken mit den andern entfremdet.
24
Wie Knabenzänkereien und Kinderspiele,
so flüchtig sind unsere Lebensgeister, mit Leichen
belastet. Warum sollte da die Totenfeier einen
Eindruck auf uns machen.
25
Gehe auf das Wesen der ursächlichen
Kraft jedes Gegenstandes ein und sieh bei deiner Betrachtung
von seinem Stoff ab und bestimme zum Schluß die längste
Spanne Zeit, die er in seiner ihm eigentümlichen Art
dauert.
26
Du hast unendlich gelitten lediglich
deshalb, weil deine Seele sich nicht begnügte zu tun,
wozu sie gemacht ist.
27
Wenn jemand dich tadelt oder haßt
oder Schlechtes von dir redet, so gehe heran an seine
Seele, dringe ein, und sieh, was er eigentlich für
ein Mensch sei. Du wirst finden, daß du dich
nicht zu beunruhigen brauchst, was er auch von dir
denken mag. Du mußt ihm jedenfalls wohlgesinnt
bleiben, da er von Natur dein Freund ist, und da ihm
sicherlich auch die Götter helfen, wie dir, in all
den Dingen, um die sie Sorge tragen.
28
Alles in der Welt dreht sich im Kreise,
von oben nach unten, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Und doch auch in jedes Einzelwesen dringt die Seele
des Alls. Ist dies, so nimm, was sie hervortreibt,
mag sie nun einmal nur sich schöpferisch bewiesen
haben, so daß nun eins aus dem andern mit Notwendigkeit
folgt und alles eigentlich nur eines ist, oder mag
alles atomengleich entstehen und bestehen. Gleichviel.
Denn gibt es einen Gott, so steht alles gut; ist aber
alles nur von ungefähr, darfst du doch nicht von ungefähr
sein!
29
Einem reißenden Strom gleicht die
Welt: Alles führt sie dahin. Wie nichtig
die Taten des Menschen, die er politisch oder philosophisch
nennt, wie eitel Schaum! Aber was nun, lieber
Mensch? Tue, was die Natur gerade jetzt von dir
fordert. Strebe, wenn dir ein Gegenstand des
Strebens gegeben wird, und blicke nicht um dich, ob´s
einer sieht. Auch bilde dir den Platonischen
Staat nicht ein, sondern sei zufrieden wenn es nur
ein klein wenig vorwärts geht und halte solchen kleinen
Fortschritt nicht gering. Denn wer wird ihre Gesinnung
ändern? Ohne eine solche Änderung der Gesinnung
aber, was würde anderes daraus entstehen, als ein
Knechtsdienst unter Seufzen, ein Gehorsam solcher,
die sich stellen, als wären sie überzeugt. Die
Alexander, Philippus, Demetrius von Phalerum mögen
zusehen, ob sie erkannt, was die Natur will, und ob
sie sich selbst in Zucht gehalten haben. Waren
es aber Schauspieler, wird mich doch niemand dazu
verdammen, sie nachzuahmen. Einfalt und Würde
kennzeichnen das Geschäft der Philosophie. Verführe
du mich nicht zur Aufgeblasenheit!
30
Betrachte wie von einer Anhöhe aus
die unzähligen Volkshaufen mit ihren unzähligen Religionsgebräuchen,
die Seefahrten nach allen Windrichtungen unter Stürmen
und bei ruhiger See und die Verschiedenheiten zwischen
den Dingen, die werden, sind und vergehen! Betrachte
auch die Lebensweise, wie sie vormals unter anderen
war, wie sie nach dir sein wird und wie sie jetzt
unter fremden Völkern herrscht! Ferner wie viele
nicht einmal deinen Namen kennen, wie viele ihn bald
vergessen werden, wie viele jetzt vielleicht deine
Lobredner, nächstens deine Tadler sind und wie weder
der Nachruhm, noch das Ansehen, noch sonst etwas von
allem, was dazu gehört, der Rede wert ist.
31
Ein unerschütterliches Herz den Dingen
gegenüber, die von außen kommen, ein rechtschaffenes
in denen, die von dir abhängen! Das heißt, dein
Streben und Tun finde Ziel und Zweck in gemeinnütziger
Tätigkeit; denn das ist deiner Natur gemäß.
32
Viel unnötigen Anlaß zu deiner Beunruhigung,
die ganz und gar auf deinem Wahn beruht, kannst du
aus dem Weg schaffen und dir selbst unverzüglich weiten
Spielraum eröffnen. Umfasse nur mit deinem Geist
das Weltall, betrachte die Ewigkeit und dann wieder
die schnelle Verwandlung jedes einzelnen Dings:
welch kurzer Zeitraum liegt zwischen seiner Entstehung
und Auflösung, wie unermeßlich ist die Zeit vor seinem
Werden, wie unendlich nach seinem Ende.
33
Was du um dich siehst, wird bald zerstört
und wer dieser Zerstörung zuschaut, wird selbst auch
sehr bald zerstört und durch den Tod wird der älteste
Greis mit dem Frühverstorbenen in denselben Zustand
versetzt.
34
Wie ihr Inneres beschaffen ist, welche
Interessen sie verfolgen, um welcher Dinge willen
sie Lieb und Achtung zollen, das suche zu erforschen,
mit einem Wort: die nackten Seelen! — Wenn
man glaubt, durch Tadel Schaden und durch Lob Nutzen
zu stiften, welch ein Glaube!
35
Verlust ist nichts anderes als Veränderung,
die die Natur so liebt, wie wir wissen, — sie,
die doch alles richtig macht. Oder wolltest du
sagen, alles, was geschehen sei oder geschehen werde,
sei schlecht? Aber sollte sich dann unter so
vielen Göttern nicht wenigstens eine Macht finden,
die es wieder zurechtbrächte? und die Welt sollte verdammt
sein, in den Banden unaufhörlicher Übel zu liegen?
36
Der Stoff jeden Dinges ist Fäulnis:
Wasser, Staub, Knochen, Schmutz. Die Marmorbrüche
sind Verhärtungen der Erde, Gold, Silber ihr Bodensatz,
unsere Kleider — Tierhaare, Purpur, Blut und
alles übrige ist von der Art. Selbst der Lebensgeist
ist von solcher Art, denn er ist auch steter Umwandlung
unterworfen.
37
Genug des elenden Lebens, des Murrens
und des äffischen Benehmens! Warum bist du unruhig,
was findest du hier so unerhört? Was bringt dich
außer Fassung? Die ursächliche Kraft der Dinge?
Betrachte sie nur! Aber vielleicht der Stoff?
Sieh ihn nur an! Sonst gibt es aber nichts.
Sei also doch endlich argloser und freundlicher gegen
die Götter! Es ist ja einerlei, ob du diese Untersuchungen
hundert oder nur drei Jahre anstellst.
38
Hat sich jemand vergangen, trägt er
den Schaden. Vielleicht hat er sich aber gar
nicht vergangen.
39
Entweder ist ein denkendes Wesen die
Urquelle des ganzen Weltalls, von der aus dem All
als einem Körper alles zuströmt. Dann darf sich
der Teil über das, was zum Nutzen des Ganzen geschieht,
nicht beklagen Oder das All ist ein Gewirr von Atomen,
zufällig gemischt und zufällig getrennt. Wozu
dann deine Unruhe? Sprich nur zu deiner Vernunft:
“Du bist tot, schon in Verwesung und wie ein
Tier, das auf die Weide geht und seinen Hunger stillt.”
40
Entweder die Götter vermögen nichts,
oder sie haben Macht. Können sie nichts, was
betest du? Haben sie aber Macht, warum bittest
du sie nicht lieber darum, daß sie dir geben, nichts
zu fürchten, nichts zu begehren, dich über nichts
zu betrüben, als darum, daß sie dich vor solchen Dingen,
die du fürchtest, bewahren oder solche, die du möchtest,
dir gewähren? Denn wenn sie den Menschen überhaupt
helfen können, so können sie ihnen doch auch dazu
verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du, das
hätten die Götter in deine Macht gestellt. Nun,
ist es denn da nicht besser, was in unserer Macht
steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als mit knechtischem
gemeinem Sinn dahin zu langen, was nicht in unserer
Macht steht? Wer aber hat dir gesagt, daß die
Götter uns in den Dingen, die in unserer Hand liegen,
nicht beistehen? Fange nur an, um solche Dinge
zu bitten, dann wirst du ja sehen! Einer bittet,
er möchte frei werden von einer Last? du bitte, wie
du´s nicht nötig haben möchtest, davon befreit zu
werden. Jener, daß ihm sein Kind erhalten werden
möge? du, daß du nicht fürchten mögest, es zu verlieren
usf. Mit einem Wort, gib allen deinen Gebeten
eine solche Richtung, und sieh, was geschehen wird.
41
Epikur erzählt: in meinen Krankheiten
erinnere ich mich nie eines Gesprächs über die Leiden
des Menschen; nie sprach ich mit denen, die mich besuchten,
darüber. Sondern ich arbeitete weiter, über naturhistorische
Gegenstände im allgemeinen und besonders nachdenkend,
wie die Seele, trotzdem, daß sie an den Bewegungen
im Körper teilhat, ruhig bleiben und das ihr eigentümliche
Gut bewahren möge. Auch gab ich den Ärzten niemals
Gelegenheit, sich meinetwegen zu rühmen, als hätten
sie etwas ausgerichtet, sondern lebte nachher nicht
angenehmer und besser wie vorher. So halte es
auch du, in Krankheiten nicht bloß, sondern in jeder
Widerwärtigkeit. Den Grundsatz haben alle Philosophenschulen,
gerade unter mißlichen Verhältnissen der Philosophie
sich treu zu zeigen, mit Leuten, die dem wissenschaftlichen
Denken fernstehen, lieber nicht zu schwatzen und seine
Gedanken lediglich auf das jedesmal zu Tuende und
auf die Mittel zur Ausführung dessen, was uns obliegt
zu richten.
42
Sooft dir jemand mit seiner Unverschämtheit
zu nahe tritt, lege dir die Frage vor, ob es nicht
Unverschämte in der Welt geben müsse? Denn das
Unmögliche wirst du doch nicht verlangen. Und
dieser ist nun eben einer von den Unverschämten, die
es in der Welt geben muß. Dasselbe gilt von den
Schlauköpfen, von den Treulosen, von jedem Lasterhaften.
Und sobald dir dieser Gedanke geläufig wird, daß es
unmöglich ist, daß solche Leute nicht sind, siehst
du dich auch sofort freundlicher gegen sie gestimmt.
Ebenso frommt es, daran zu denken, welche Tugend die
Natur jeder dieser bösen Richtungen gegenüber dem
Menschen verliehen hat. So gab sie z.B. der Lieblosigkeit
gegenüber, gleichsam als Gegengift die Sanftmut.
Überhaupt aber steht dir frei, den Irrenden eines Besseren
zu belehren. Und ein Irrender ist jeder Böse:
er führt sich durch sein Unrecht selbst vom vorgesteckten
Weg ab. Was aber schadet dir´s? Vermag er
etwas wider deine Seele? — Und was ist denn
Übles oder Fremdartiges daran, wenn ein zuchtloser
Mensch tut, was eben eines solchen Menschen ist.
Eher hättest du dir selbst darüber Vorwürfe zu machen,
daß du nicht erwartet hast, er werde solches tun.
Deine Vernunft gibt dir doch Anlaß genug zu dem Gedanken,
daß es wahrscheinlich sei, er werde sich auf diese
Weise vergehen, und nun, weil du nicht hörst auf das,
was sie dir sagt, wunderst du dich, daß er sich vergangen
hat! Jedesmal also, wenn du jemand der Treulosigkeit
oder der Undankbarkeit beschuldigst, richte den Blick
in dein eigenes Innere. Denn offenbar ist es doch
dein Fehler, wenn du einem Menschen von solchem Charakter
dein Vertrauen schenktest oder wenn du ihm eine Wohltat
erwiesest mit allerlei Nebenabsichten und ohne den
Lohn deiner Handlungsweise nur in ihr selbst zu suchen.
Was willst du denn noch weiter, wenn du einem Menschen
wohlgetan? Ist´s nicht genug, daß du deiner Natur
entsprechend gehandelt? strebst du nach einer besonderen
Belohnung? Als ob das Auge Bezahlung forderte
dafür, daß es sieht, und die Füße dafür, daß sie schreiten!
Und wie Aug´ und Fuß dazu geschaffen sind, daß sie
das Ihrige haben in der Erfüllung ihrer natürlichen
Verrichtungen, so hat auch der Mensch, zum Wohltun
geschaffen, sooft er ein gutes Werk getan und anderen
irgendwie äußerlich beistand, eben nur getan, wozu
er bestimmt ist, und empfängt darin das Seinige.
ZEHNTES BUCH
1
Wirst du denn, liebe Seele, wohl einmal
gut und lauter und einig mit dir selbst und ohne fremde
Umhüllung und durchsichtiger sein, als der dich umgebende
Leib? Froh werden eines liebenswürdigen und liebenden
Charakters? Wirst du einmal befriedigt und bedürfnislos
sein, nach nichts dich sehnend, nichts begehrend,
weder Geistiges noch Ungeistiges, um daran eben nur
Genuß zu haben? weder mehr an Zeit, noch mehr an Raum
oder Gelegenheit, um den Genuß weiter auszudehnen?
weder eine günstigere Temperatur der Luft, noch eine
ansprechendere in deiner menschlichen Umgebung? vielmehr
zufrieden sein mit eben der Lage, in der du dich befindest,
dich überhaupt des Vorhandenen erfreuen und dich überzeugen,
daß dir alles zu Gebote steht, daß sich alles wohl
verhält und daß es von den Göttern kommt, sich also
wohlverhalten muß, sofern es ihnen selbst wohlgefällig
ist und sofern sie´s ja nur geben mit Rücksicht auf
die Seligkeit des vollkommensten Wesens, des guten
und gerechten und schönen, jenes Wesens, das alles
dasjenige erzeugt und zusammenhält und umgibt und
in sich faßt, was, wenn es sich auflöst, der Grund
zur Entstehung eines anderen von ähnlicher Beschaffenheit
wird? Wirst du mit einem Worte wohl einmal eine
Seele sein, die mit Göttern und Menschen so verkehrt,
daß du weder an ihnen etwas auszusehen hast, noch
daß sie dich beschuldigen können?
2
Nachdem du erforscht, was deine Natur
fordert, was rein nur ihrem Gebot entspricht, so führe
dasselbe nun auch aus oder laß es zu, sofern dadurch
das Triebleben an dir nicht schlechter wird. Dann
frage dich, was ebendieser Seite deines Wesens entspricht
und vergönne es dir, sofern dadurch das Vernünftige
an dir nicht leidet — das Vernünftige, das
immer zugleich auch ein Geselliges ist. Und wenn
du diesen Grundsätzen folgst, bedarf es keines anderen
Bestrebens.
3
Entweder hast du von Natur die Kraft,
jedes dir begegnende Geschick zu ertragen oder es
gebricht dir an dieser natürlichen Kraft. Trifft
dich nun ein Schicksal, das zu ertragen du stark genug
bist, sei nicht ungehalten und ertrage es durch deine
natürliche Kraft. Übersteigt es aber diese natürliche
Kraft, sei auch darüber nicht unwillig. Was dich
zugrunde richtet, wird auch zugrunde gehen. Jedoch
vergiß auch nicht, daß du bestimmt bist, alles zu
ertragen, was erträglich und leidlich zu machen deine
Vorstellung die Macht hat, durch den Gedanken nämlich,
daß es dir heilsam oder daß es deine Pflicht sei.
4
Irrt sich jemand, so belehre ihn mit
Wohlwollen und zeige ihm, was er übersehen hat!
Vermagst du das aber nicht, so klage dich selbst an
oder auch dich selbst nicht einmal!
5
Alles, was dir geschieht, ist dir
von Ewigkeit her vorausbestimmt. Jener große
Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat beides, dein
Dasein und dieses dein Geschick, von Ewigkeit aufs
innigste verwoben.
6
Mag die Welt ein Gewirr von Atomen
oder ein geordnetes Ganzes sein, mein erster Grundsatz
sei: Ich bin ein Teil des Ganzen und stehe unter
der Herrschaft der Natur. — Der zweite:
Ich hänge mit allen gleichartigen Teilen eng zusammen.
Eingedenk des ersten Grundsatzes werde ich nicht unzufrieden
sein, was mir auch für Anteil am Ganzen zugedacht ist.
Es kann nichts einem Teil schaden, was dem Ganzen
zuträglich ist. Denn das Ganze enthält nichts,
was ihm nicht selbst zuträglich wäre. Sämtliche
Wesen haben das miteinander gemein, daß sie von keinem
ihnen äußerlichen Umstande gezwungen werden können
etwas hervorzubringen, was ihnen selbst schädlich
wäre. Und dasselbe gilt natürlich auch von der
ganzen Welt. Was aber dem Ganzen nützt, kann
dem Teile nicht schädlich sein, d.h. ich darf nicht
klagen über das, was von dem All mir zugeteilt wird.
Sofern ich aber mit den mir gleichartigen Teilen zusammenhänge,
werde ich nichts gegen das Gemeinwohl unternehmen,
vielmehr werde ich, mit steter Rücksicht auf die mir
gleichartigen Wesen, mein Streben ganz auf das gemeine
Beste richten und vom Gegenteil ablenken. Führe
ich diese Vorsätze aus, muß mein Leben glücklich dahinfließen,
so glücklich, als nach Erfahrung das Leben eines Bürgers
verläuft, das von einer seine Mitbürger beglückenden
Tat zur anderen fortschreitet und mit Freuden übernimmt,
was ihm der Staat auch auferlegt.
7
Alle Teile des Ganzen, das heißt die
vom Weltraum umschlossenen Dinge müssen notwendig
zerstört oder mit einem richtigen Ausdruck umgewandelt
werden. Wäre nun dies von Natur aus ein Übel für
sie, so stünde das Ganze bei dem steten Wechsel der
Teile und ihrem vorausbestimmten Untergang unter keiner
guten Leitung. Denn sollte die Natur selbst die
Einrichtung getroffen haben, ihren eigenen Teilen Schlimmes
zuzufügen, ja sie nicht nur ins Unglück zu stürzen,
sondern diesen Sturz sogar notwendig machen?
Oder sollte es ihr verborgen sein, daß derartiges
einträte? Beides ist nicht zu glauben. Wollte
nun jemand, von der Allnatur absehend, diese Umwandlung
nur aus dem Wesen der Dinge ableiten, so ist es bei
alledem lächerlich, einerseits zu behaupten, daß die
Teile des Ganzen sich ihrer Anlage nach verwandeln
müssen, und andererseits sich über manches Naturereignis
zu verwundern oder zu ärgern, zumal die Auflösung
in jene Teile erfolgt, aus denen das Ding entstanden
ist, sei diese nun eine Zerstäubung der Grundstoffe,
woraus es zusammengesetzt war, oder ein Übergang,
z.B. der festen Teile in das Erdige, der geistigen
in das Luftige, so daß auch diese in den Keimstoff
des Weltganzen aufgenommen werden, mag dieses nun nach
einem bestimmten Kreislauf der Zeit in Feuer auflodern
oder sich in stetem Wechsel wieder erneuen. Bilde
dir aber nicht ein, daß jene festen und geistigen Teile
von Geburt an dir kleben. Dies alles ist dir vielmehr
erst von gestern und vorgestern durch Speisen und
eingeatmete Luft zugeflossen. Mithin wird nur
das, was deine Natur auf solche Art angenommen, nicht
aber das, was von der Mutter Natur dir angeboren ist,
umgewandelt. Wolltest du aber auch vorgeben,
daß diese jenes mit deiner besonderen Eigentümlichkeit
so eng verflochten habe, so halte ich dieses Vorgeben
in der Tat für einen nichtigen Einwurf gegen meine
Behauptung.
8
Hast du die Namen: gut, ehrfürchtig,
wahrhaft, verständig, gleichmütig, hochherzig dir
beigelegt, so sorge dafür, daß du sie nie verlierst
oder immer bald wieder erwirbst. Aber bedenke
auch, was sie besagen! Verstand — ein
sorgsam erworbenes, gründliches Wissen um einzelnes?
Gleichmut — ein bereitwilliges Aufnehmen des
von der Natur uns Zuerkannten? Hochherzigkeit — ein
Erhabensein des Geistes über jede leise oder laute
Regung im Fleisch, über das, was man Ehre nennt, auch
über den Tod und alles dieses. Vermagst du nun,
dich diesen Namen zu erhalten, ohne doch gerade danach
zu streben, daß andere dich bei ihnen nennen, so wirst
du ein anderer Mensch sein und ein anderes Leben anfangen.
Bleibst du aber noch ferner, wie du bisher warst, fährst
fort in einer Lebensweise, die dich befleckt und aufreibt,
so bist du ein gewissenloser Mensch, ein Mensch, der
eben nichts als leben will, und gleichst jenen Halbmenschen,
die man mit wilden Tieren kämpfen läßt, die nämlich,
wenn sie mit Wunden bedeckt und mit Blut besudelt sind,
inständigst bitten, man möchte sie doch bis auf den
folgenden Tag aufheben, um — wieder vorgeworfen
zu werden denselben Krallen und denselben Zähnen.
Also tauche dein Wesen in jene wenigen Namen.
Und wenn du es nur irgend ermöglichen kannst, halte
bei ihnen aus, wie einer, der auf den Inseln der Seligen
gelandet. Merkst du aber, daß man dich heraustreiben
will und daß du nicht obsiegen wirst, so ziehe dich
eilig in einen Winkel zurück wo du dich wahren kannst?
oder — verlasse das Leben! — Um
jener Namen eingedenk zu bleiben, ist es kein schlechtes
Hilfsmittel, sich die Götter vorzuhalten, die nicht
sowohl begehren, daß man sie schmeichelnd verehre,
als daß alle vernunftbegabten Wesen ihnen ähnlich
werden, und daß der Mensch tue, was des Menschen ist.
9
Hast du hohe und heilige Wahrheiten
dir ohne selbständiges Forschen eben nur eingebildet,
so werden sie dir auch wieder abhanden kommen, so
können Komödienspiel, Anfeindung, Furcht, Schrecken,
Knechtschaft sie dir täglich entreißen. Es gilt
aber, sich eine solche Anschauungs- und Lebensweise
anzueignen, daß man das Vorliegende sofort abzutun
jederzeit bereit ist und doch dabei weder die geistige
Ausbildung außer acht läßt, noch das Vertrauen verleugnet,
womit uns jede tiefere Erkenntnis der Dinge erfüllt,
das zwar an sich ein innerliches ist, doch aber nicht
verborgen bleiben kann. Denn alsdann wirst du
deiner Lauterkeit, deiner Würde froh werden, was jedes
Ding seinem Wesen nach ist, welche Stelle es in der
Welt einnimmt, wie lang es seiner Natur nach dauern
wird, aus welchen Teilen es besteht, wem es zufallen,
wer es geben und rauben kann.
10
Eine kleine Spinne ist stolz darauf,
wenn sie eine Fliege erjagt hat, jener Mensch, wenn
er ein Häschen, dieser, wenn er in seinem Netz eine
Sardelle, ein dritter, wenn er einen Eber oder Bären,
und noch ein anderer, wenn er Sarmaten fängt.
Sind aber diese, wenn man die Triebfeder untersucht,
nicht insgesamt Räuber?
11
Erwirb dir die Kenntnis, die Art der
Verwandlung aller Dinge ineinander wissenschaftlich
zu untersuchen. Merke beständig darauf und übe
dies in diesem Fach! Denn nichts fördert so gut
die Hochherzigkeit. Wer diese besitzt, hat seinen
Leib schon abgestreift und wenn er bedenkt, daß er
in nicht gar langer Zeit dieses alles verlassen und
aus dem Menschenleben scheiden muß, so übergibt er
sich in betreff dessen, was er leistet, ganz allein
der Rechtschaffenheit, in betreff seiner Schicksale
aber der Natur. Was jedoch andere von ihm sagen
oder urteilen oder ihm zuleid tun mögen, das läßt
er sich nicht anfechten. Denn mit den zwei Punkten,
erstens das gut zu tun, was man zu tun hat, und zweitens
in Liebe hinzunehmen, was einem beschieden ist, läßt
er alle anderen Aufgaben und Ziele fahren. Er
will nichts, als auf dem Pfad des Gesetzes seinen
Zweck zu verfolgen und also der Gottheit nachzustreben,
die gleichfalls geraden Wegs auf ihr Ziel zugeht.
12
Was für ein Bedenken hält dich ab,
vor allem zu sehen, was der Augenblick zu tun gebietet?
Freilich mußt du´s völlig erwogen haben, ehe du getrost
und unbeirrt daran gehen kannst. Ist dir also
noch irgend etwas daran unklar, so halte an und ziehe
die Besten zu Rat. Sonst aber, tritt auch ein
Hindernis dir in den Weg, schreite nur besonnen vorwärts,
den einmal empfundenen Antrieben folgend und treu dich
haltend an das, was dir als das Rechte erschienen
ist. Denn dies zu verfolgen bleibt immer das
Beste. Ihm untreu werden heißt von seiner eigenen
Natur abfallen. Darum sage ich, daß wer in allen
Stücken der Vernunft gehorcht, ruhig und leicht bewegt,
heiter und ernst zugleich zu sein vermag.
13
Frage dich, sobald du des Morgens
aufgestanden bist: geht es dich etwas an, ob
ein anderer das Gute und Rechte tut? Nichts geht´s
dich an. Hast du vergessen, was das für Leute
sind, die ewig nur zu loben oder zu tadeln wissen?
wie sie´s treiben auf ihrem Lager, bei Tafel, überall,
was es für Diebe und Räuber sind, nicht äußerlich mit
Händen und Füßen, sondern innerlich an dem kostbarsten
Teile ihres Wesens, mit dem sie sich doch, wenn sie
wollten, Glauben, Ehrfurcht Wahrheit, Sitte, den guten
Genius zu eigen machen könnten.
14
Der wohlgesittete und ehrfurchtsvolle
Mensch sagt zur Natur, der alles spendenden und wieder
nehmenden: gib, was du willst, und nimm, was du
willst. Er spricht´s nicht etwa, zu besonderem
Mut sich aufraffend, sondern aus reinem Gehorsam und
aus Liebe.
15
Du hast nur noch wenig zu leben.
Lebe wie auf einem Berge! Gleichviel wo in der
Welt du lebst, denn die Welt ist ein Menschenverein.
Und die Menschen sollen eben den wahren Menschen,
den der Natur gemäß lebenden schauen und beschauen.
Mögen sie ihn immerhin aus dem Wege räumen, wenn sie
ihn nicht vertragen können.
16
Nun gilt es nicht mehr zu untersuchen,
was ein tüchtiger Mensch sei, sondern einer zu sein.
17
Der Gedanke an die Ewigkeit und an
das Weltall sei dir stets nahe: verglichen mit
dem All wird dir dann alles als ein Körnlein und mit
der Ewigkeit verglichen wie ein Handumdrehen erscheinen.
18
Jedes Sinnenwesen, das du betrachtest,
stelle dir in seiner Auflösung, Verwandlung, gleichsam
Verwesung oder Vernichtung vor oder von der Seite,
die ihm von der Natur gleichsam als die vergehende
bestimmt ist.
19
Was sind denn die Esser und Trinker
und Schläfer und Erzeuger und was sie sonst machen?
was sind sie, die sich aufblähen und so hoch drein
schauen, die so zornig sind und so von oben herab urteilen?
Vor kurzem — wem haben sie gedient und um
welchen Preis? Und wieder eine kleine Weile — wo
sind sie dann?
20
Nicht bloß, was die Natur dem Menschen
schickt, ist ihm zuträglich, sondern es ist ihm auch
gerade dann von Nutzen, wann sie´s schickt.
21
Der Regen — ein Liebling
der Erde; doch auch des blauen Himmels Liebling.
Das Weltall liebt zu tun (sagt man nicht: “liebt,
zu tun?”) alles, was eben geschehen soll.
Ich also sage zu ihm: deine Liebe ist auch meine.
22
Entweder du lebst hier, wie du gewohnt
bist, oder du kommst anderswohin, wie du am Ende auch
gewollt oder du stirbst und hast ausgedient. Das
ist alles. Drum sei guten Muts!
23
Vergiß nicht, daß du da, wo du lebst,
ganz dasselbe hast, was du im Gebirge oder an der
See oder sonstwo, wohin du dich sehnst, haben würdest.
Dem Hirten, sagt Plato, der so bei seiner Hürde auf
dem Berge weidet, ist´s nicht anders zumute, wie dem,
den eine Stadtmauer umgibt.
24
Wozu das Herrschende in mir?
Und was mache ich jetzt selbst aus ihm? Oder
wozu bediene ich mich jetzt seiner? Ist es ohne
Einsicht? Oder von der Gemeinschaft getrennt
und abgerissen? Oder so an das Fleisch gekettet
und mit ihm verschmolzen, daß es alle seine Bewegungen
teilen muß?
25
Wer seinem Herrn entläuft, ist ein
Ausreißer. Der Herr ist das Gesetz; wer also
der Befolgung des Gesetzes sich entzieht, ist ein Ausreißer.
Nicht minder aber verdient diesen schimpflichen Namen
auch der, der sich erzürnt oder betrübt oder fürchtet.
Denn er will nicht, daß geschehen wäre oder geschehe
oder geschehen soll, was der alles Verwaltende, der
allen Gesetz ist, bestimmt.
26
Der eine vertraut dem Mutterschoß
den Samen und geht dann fort. Dann nimmt eine
andere wirkende Kraft den Samen auf, verarbeitet ihn
und vollendet die Bildung des Kindes. Welch ein
Wesen aus solchem Stoff! Wieder schluckt die
Mutter durch den Schlund Nahrung. Dann nimmt diese
eine andere wirkende Kraft auf und bewirkt daraus Empfindung,
Reife und überhaupt Leben und Stärke und wer weiß
wieviele und welcherlei Dinge sonst! Betrachte
nur die verborgenen Wirkungen und lerne die hierbei
tätige Kraft kennen, wie wir auch die Kraft, vermöge
der die Körper sich senken oder steigen, zwar nicht
sichtbar aber doch geistig wahrnehmen.
27
Denke stets daran, daß alles, wie
es jetzt ist, auch einst war und dann schließe, daß
es künftig ebenso sein werde. Stelle dir alle
gleichartigen Schauspiele und Auftritte vor, die du
aus Erfahrung oder aus der Geschichte kennst, z.B.,
den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof Antonins,
den ganzen Hof Philipps, Alexanders und den Hof des
Krösus. Überall dasselbe Schauspiel, nur von
anderen Personen gegeben.
28
Ein Mensch, der seinem Unwillen über
irgend etwas Luft macht und sich beklagt, unterscheidet
sich im Grunde genommen gar nicht von — einem
Stück Vieh, das beim Schlachten mit allen Vieren um
sich stößt und dazu schreit. Und anders ist auch
nicht einmal der, der auf seinem Lager hingestreckt
stillschweigend seufzt, wenn man ihm den Verband anlegt.
Denn dem vernunftbegabten Wesen ist es doch gegeben — und
das ist seine Auszeichnung, bereitwillig sich in das
zu schicken, was ihm geschieht. Sich schicken
wenigstens ist notwendig für alle.
29
Bei jeglichem Dinge, womit du beschäftigt
bist, frage dich, ob der Tod darum, weil er dich seiner
beraubt, etwas so Schreckliches ist.
30
Sooft du unter dem Fehler eines anderen
zu leiden hast, frage dich, ob du nicht auch in ähnlicher
Weise gefehlt, ob du z.B. nicht auch schon das Geld,
das Vergnügen, den Ruhm und ähnliches für ein Gut gehalten
hast. Dann wirst du deinen Zorn bald lassen, zumal
wenn dir dazu noch einfällt, daß er gezwungen war.
Denn was kann er tun? Aber wenn es möglich wäre,
befreie ihn von jenem Zwang!
31
Siehst du, Satyrio, den Sokratiker,
so stelle dir den Eutyches oder Hymenes vor; siehst
du den Euphrates, so denke an Eutyches oder Silvanus
und auch an Alkiphron und Tropäophorus und auch bei
Xenophons Anblick falle dir Kniton oder Severus ein,
und indem du auf dich selbst zurückschaust, stelle
dir einen anderen Kaiser und bei jedem wieder seinesgleichen
vor! Dann falle dir zugleich die Frage ein:
“Wo sind nun jene?” Nirgends oder wer
weiß wo. Denn auf diese Art wird dir alles Menschliche
stets nur als ein Rauch, als ein wahres Nichts erscheinen,
zumal, wenn du dich zugleich erinnerst, daß, was sich
einmal verwandelt hat, in der unendlichen Zeit nicht
mehr sein werde. Wie lange also du noch?
Warum genügt es dir nicht, diese kurze Spanne Zeit
mit Anstand hinter dich zu bringen? Was für schwierige
Dinge und Aufgaben sind es denn, denen du aus dem
Wege gehen möchtest? Aber was ist denn dies alles
anders als Übungen für die Vernunft, daß sie die Dinge
des Lebens immer tiefer und wahrer erschauen lerne?
Also verweile nur bei jeglichem Gegenstande so lange,
bis du ihn dir völlig zu eigen gemacht hast, wie ein
starker Magen sich alles zu eigen macht, oder wie ein
helles Feuer, was du hineinwerfen magst, in Glanz
und Flamme verwandelt.
32
Niemand müsse mit Wahrheit von dir
sagen können, daß du nicht lauter, daß du nicht rechtschaffen
seist; vielmehr sei der ein Lügner, der also von dir
urteilen wollte. Das alles aber kommt nur auf
dich an. Denn wer will dich hindern, rechtschaffen
und lauter zu sein? Fasse nur den Entschluß,
nicht länger zu leben, ohne ein solcher Mann zu werden.
Auch die Vernunft billigt es keineswegs, wenn du es
nicht bist.
33
Ruhe nicht eher, als bis du es so
weit gebracht hast, daß ein der menschlichen Bestimmung
entsprechendes Handeln in jedem einzelnen Falle dir
ganz dasselbe ist, was ein Leben in Herrlichkeit und
Freude für die Genußsüchtigen. Denn eben als
einen Genuß mußt du es auffassen, wenn dir vergönnt
ist, deiner Natur gemäß zu leben. Und dies ist
dir immer vergönnt. Nicht so den Dingen der unbeseelten
Natur: der Walze ist es oft verwehrt, sich in
der ihr natürlichen Weise zu bewegen und ebenso dem
Wasser und dem Feuer usf. Denn hier sind mannigfache
Hindernisse. Geist aber und Vernunft vermögen
Kraft ihrer natürlichen Beschaffenheit und in Kraft
ihres Willens alle Hindernisse zu überwinden.
Drum gilt es, nichts so lebendig vor Augen zu haben,
als diese Leichtigkeit, mit der die Vernunft sich
durchzusetzen vermag, mit der sie sich, wie das Feuer
nach oben, der Stein nach unten, die Walze um ihre
Achse, durch alles hindurch bewegt. Was es auch
für sie an Hindernissen gibt, das gehört entweder
dem toten Leibe an, oder es kann sie, ohne Beihilfe
des Gedankens und wenn sie nicht selbst die Erlaubnis
dazu gibt, nicht verwunden, ihr überhaupt nichts Böses
tun. Sonst müßte sie ja dadurch notwendig schlechter
werden, wie man dies bei anderen Schöpfungen sieht,
daß, wenn ihnen etwas Übles widerfährt, sie wirklich
darunter leiden, d.h. dadurch schlechter werden.
Beim Menschen aber muß man vielmehr sagen, wenn er
den Hemmungen, auf die er stößt, richtig begegnet,
wird er besser dadurch und preiswürdiger. — Überhaupt
aber denke daran, daß dem eingesessenen Bürger nichts
schadet, was dem Staate nichts schadet, und ebensowenig
dem Staat, was dem Gesetz nichts schadet. Von
dem, was man Unglücksfall nennt, schadet aber nichts
dem Gesetz. Was also dem Gesetz nichts schadet,
schadet weder dem Staat noch dem Bürger.
34
Für den, den wahre Philosophie erfüllt,
reicht die Erinnerung an jene Verse hin:
“Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere
treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet
der Frühling. —
So der Menschen Geschlecht.” —
treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet
der Frühling. —
So der Menschen Geschlecht.” —
um Traurigkeit und Furcht ihm zu verscheuchen.
Blätter sind auch deine Kindlein. Blätter alles,
was so laut schreit, um sich Glauben zu verschaffen,
was so hohes Lob zu spenden oder so zu verfluchen oder
nur so insgeheim zu tadeln oder zu spotten liebt;
Blätter auch, die deinen Ruhm verkünden sollen.
Denn um die Frühlingszeit keimt alles hervor.
Dann kommt der Herbstwind und wirft wieder alles zu
Boden, damit anderes an seine Stelle trete. Kurze
Lebensdauer ist der Charakter aller Dinge. Du
aber fliehst und verfolgst alles, als sollte es ewig
dauern. Über ein Kleines, und auch deine Augen schließen
sich, und den, der dich bestattet, beweint bald ein
anderer.
35
Ein gesundes Auge muß jeden Anblick
ertragen können und darf nicht immer bloß Grünes sehen
wollen. Ein gesundes Ohr, eine gesunde Nase ist
auf jeden Schall und jeden Geruch gefaßt. Ein
gesunder Magen verhält sich gegen jede Speise gleich,
wie die Mühle eben alles mahlt, was zu mahlen geht.
Ebenso nun muß auch eine gesunde Seele auf jedes Schicksal
gefaßt sein. Wer aber spricht: meine Kinder
müssen am Leben bleiben, oder: die Leute müssen
stets billigen, was ich tue, dessen Seele gleicht dem
Auge, welches das Grüne, oder den Zähnen, die nur
Weiches haben wollen.
36
Niemand ist so glücklich, daß nicht
einst an seinem Sterbelager einige stehen sollten,
die diesen Fall willkommen heißen. Ist´s auch
ein trefflicher und weiser Mensch, so findet sich
am Ende doch immer jemand, der aufatmend von ihm sagt:
nun werde ich von diesem Zuchtmeister erlöst; er war
zwar keinem von uns lästig, aber ich hatte immer das
Gefühl, als verdamme er uns stillschweigend alle miteinander!
Und das ist beim Tode eines Trefflichen! Wie
vieles mag unsereiner also an sich haben, um deswillen
so mancher wünscht, von uns befreit zu werden.
Daran denke in deiner Sterbestunde! Denke, du
sollst eine Welt verlassen, aus der dich deine Genossen,
aus der dich die, für die du so vieles ausgestanden,
soviel gebetet und gesorgt hast, nun hinwegwünschen,
indem sie aus deinem Scheiden so manche Hoffnung schöpfen.
Was könnte dich also noch länger hier festhalten!
Und doch darfst du deshalb mit nicht geringerem Wohlwollen
von ihnen scheiden, sondern mußt um deiner selbst
willen ihnen Freund bleiben und freundlich, sanft von
ihnen Abschied nehmen, ebenso sanft, wie sich die
Seele dessen vom Körper trennt, dem ein seliges Sterben
beschieden ist. Denn die Natur hat dich auch so
mit deinen Freunden verbunden. Und wenn sie dich
jetzt von ihnen ablöst, so geschieht dies eben als
von deinen Freunden, und nicht so, daß du von ihnen
fortgerissen würdest, sondern sanft von ihnen scheidest.
Es ist dies wenigstens auch eine von den Forderungen
der Natur.
37
Bei allem, was von anderen geschieht,
suche herauszubringen, welchen Zweck sie verfolgen.
Aber fange damit bei dir selbst an, erforsche zuerst
immer dich selbst!
38
Das, was dich bewegt, was dich mit
unsichtbaren Fäden hierhin und dorthin zieht, das
ist in deinem Innern. Hier schlummert das beredte
Wort, hier wurzelt das Leben, hier ist der eigentliche
Mensch. Nie schreibe diese Bedeutung dem Gefäße
zu, das dieses dein Inneres umgibt, oder den Organen,
die ihm angegliedert sind. Ohne bewegende Kraft
sind sie nicht mehr, als ein Weberschiff ohne Weber,
eine Feder ohne Schreiber, eine Peitsche ohne Wagenlenker.
ELFTES BUCH
1
Wir betrachten noch einmal die Eigentümlichkeit
der vernünftigen Seele. Also: sie sieht
sich selbst, sie setzt sich selbst auseinander, die
Frucht, die sie hervorbringt erntet sie auch selbst
(nicht wie bei den Früchten, die die Pflanzen- oder
Tiernatur hervorbringt, die andere ernten). Ferner,
sie erreicht ihr Ziel, wann immer das Leben zu Ende
sein mag; anders als bei den Tanzstücken, und bei jedem
Schauspiel, wo die ganze Handlung zum bloßen Stückwerk
wird, wenn etwas dazwischen kommt. Denn sie führt,
was sie sich vorgesetzt, vollständig und makellos
zu Ende, an welchem Teile der Handlung und wo überhaupt
sie auch betroffen werden mag, so daß sie sagen kann:
“Ich habe das Meinige beisammen.”
Sie umfaßt ferner die ganze Welt samt dem sie umgebenden
Raume, und vermag sich ein Bild von ihr zu machen;
sie dringt in die Unendlichkeit der Zeit, nimmt wahr
die periodisch stattfindende Wiedergeburt aller Dinge,
betrachtet sie und erkennt, daß, die nach uns kommen,
nichts anderes sehen werden, so wie auch unsere Vorfahren
nichts anderes sahen, sondern daß der, der etwa vierzig
Jahre alt geworden, wofern er nur Geist hat, alles
was gewesen und was sein wird, gesehen hat. Endlich
ist es der vernünftigen Seele auch eigen, den Nächsten
zu lieben, wahr zu sein, Ehrfurcht zu haben und nichts
höher zu achten als sich selbst. Und in dem allen
stimmt sie mit den Forderungen des allgemeinen Weltgesetzes
überein, so daß zwischen der gesunden Vernunft und
dem Wesen der Gerechtigkeit kein Unterschied ist.
2
Ein schöner Gesang, ein schöner Tanz,
ein schönes Spiel ist nur so lange schön, solange
man das Ganze anschaut. Zerlegt man aber jenen
in seine einzelnen Töne, diese in ihre einzelnen Bewegungen,
und hält dieselben für sich fest, so verlieren sie
ihren Reiz. Nur die Tugend und was von ihr ausgeht,
ist und bleibt immer schön. Daher übe nur bei
allem andern jene Zergliederung, auch bei der Anschauung
des Lebens.
3
Wann ist die Seele wahrhaft bereit,
sich von dem Leibe zu trennen und so entweder zu verlöschen
oder zu zerstieben, oder mit ihm fortzudauern?
Wenn diese Bereitheit aus dem eigenen Urteil hervorgeht;
wenn es nicht bloß aus Hartnäckigkeit geschieht, wie
bei den Christen, sondern mit Überlegung und Würde
und ohne Schauspielerei, so daß auch andere dem Eindrucke
sich nicht entziehen können.
4
Hast du etwas getan zum Wohle anderer?
Dann hast du auch dein eigenes gefördert. Das
kann man gar nicht oft genug sich selber sagen.
5
Was treibst du für eine Kunst?
Die Kunst, gut zu sein. Wie könnte dies aber
anders gelingen als durch klare Einsicht in das Wesen
der Natur und des Menschen.
6
Zuerst entstanden die Tragödien, die
uns erinnern, daß alles, was geschieht, gerade so
geschehen müsse. Und dann wollen wir doch, was
uns auf der Bühne ergötzt, uns nicht zum Anstoß gereichen
lassen, wenn´s auf der größeren Bühne uns entgegentritt.
Auf die Tragödie folgt die alte Komödie. Ihr
Freimut war erzieherisch. Wir wurden durch ihr
offenherziges Wesen gemahnt, Prunk und Stolz abzutun.
Daher entlehnte sogar ein Diogenes nicht selten aus
ihr. Dann kam die Komödie der mittleren Zeit
und dann die neueste. Sie artete bald in ein künstliches
Wesen der Nachahmung aus. Und wenn wir auch nicht
verkennen daß sie so manches Treffliche enthält, so
frage ich doch: welchen Zweck denn eigentlich
diese ganze dramatische Poesie verfolge?
7
Wie weit bist du in der Erkenntnis, daß keine andere
Lebensweise zum
Philosophieren so geeignet sei, als die, die du jetzt gerade führst?
Philosophieren so geeignet sei, als die, die du jetzt gerade führst?
8
Ein Zweig von seinem Nachbarzweige
losgehauen, ist damit notwendig zugleich auch vom
ganzen Baume abgehauen. So auch der Mensch:
hat er sich nur mit einem einzigen zerspalten, so
ist er von der ganzen menschlichen Gesellschaft abgefallen.
Den Zweig nun haut ein anderer ab, der Mensch aber
trennt durch seinen Haß und seine Feindschaft sich
selbst von seinem Nächsten, freilich, ohne es zu wissen,
daß er sich damit auch vom Ganzen losgerissen.
Doch ist es ein Geschenk des Gottes, der die menschliche
Gesellschaft gründete, daß es uns freisteht, mit dem,
woran wir früher hielten, wiederum zusammenzuwachsen
und so zur Vollendung des Ganzen wieder beizutragen,
nur daß, je öfter eine solche Lostrennung geschieht,
die Einigung und Wiederherstellung desto schwieriger
wird, und daß ein Zweig, der von Anfang an im Zusammenhange
mit dem Stamme blieb und mit ihm verwachsen stets dasselbe
ein- und aushauchte, doch ein ganz ander Ding ist,
als der Zweig, der erst getrennt, dann wieder eingepfropft
worden. Denn was auch die Gärtner sagen mögen:
er wächst wohl an, doch nicht zu jener vollen Lebenseinheit.
9
Wer dich auch hindern möchte in der
Befolgung rein vernünftiger Grundsätze — ,
wie es ihm nicht gelingen soll, dich deiner gesunden
Lebensweise wirklich abwendig zu machen — ,
so soll er noch viel weniger deinem Herzen die freundliche
Gesinnung entreißen. Verrät es doch dieselbe
Schwäche, wenn man solchen Leuten gram wird, wie wenn
man seinem Vorsatz untreu wird, sich niederschlagen
läßt und vom Platze weicht. Den Fahnenflüchtigen
gleichen beide, der sowohl der aus Furcht zurücktritt,
wie der, der mit seinem natürlichen Freund und Bruder
verfeindet ist.
10
Kein Naturprodukt steht einem Erzeugnisse
der Kunst nach, denn die Künste sind Nachahmer der
Natur. Darum dürfte denn wohl dem vollkommensten
und umfassendsten Naturwesen die künstlerische Geschicklichkeit
nicht fehlen. Und wie die Künste das Geringere
nur leisten um des Besseren willen — darin
der Natur selber ähnlich — : so auch
der Mensch, wofern Gerechtigkeit entstehen soll, aus
der dann weiter alle übrigen Tugenden sich entwickeln.
Denn wollten wir uns nur mit sittlich gleichgültigen
Dingen zu schaffen machen, wollten wir leichtgläubig,
voreilig, wetterwendisch sein, so stände es schlecht
um die Gerechtigkeit.
11
Nicht kommen die Dinge, die du mit
Leidenschaft suchst oder fliehst, zu dir, nicht sie
drängen sich dir auf, sondern du drängst dich ihnen
auf. Kannst du das Nachdenken über sie nur lassen,
so bleiben sie auch ruhig wo sie sind, und man wird
dich alsdann nicht ihnen nachlaufen oder auf der Flucht
vor ihnen sehen.
12
Die Seele gleicht einer vollkommenen
Kugel, insofern sie sich weder nach etwas hindehnt,
noch nach innen einläuft, weder zerstreut wird, noch
zusammenschmilzt. Sie wird von einem Licht erleuchtet,
bei dem sie die allgemeine Wahrheit und die eigene
erkennen kann.
13
Wenn ich bereit bin, einem Irrenden
das Rechte zu zeigen, so soll ich das nicht etwa tun
aus Begierde, ihn bloßzustellen, auch nicht, um mit
meiner Langmut zu prahlen, sondern in Liebe und Aufrichtigkeit,
wie die Geschichte von Phokion erzählt, wofern dieser
Mann nicht etwa wieder mit seiner Aufrichtigkeit geprahlt
hat. Es muß ein innerliches Tun sein, die Götter
müssen einen Menschen sehen, der nichts mit Ärger aufnimmt,
niemals sich beklagt. Denn was gäbe es auch wohl
Schlimmes für dich, wenn du das stets freiwillig tust,
was deiner Natur entspricht, das Gemeinwohl auf jede
mögliche Weise zu fördern, was der Allnatur gerade
dienlich ist.
14
Die einander verachten, sind gerade
die, die einander zu gefallen streben; und die sich
untereinander hervortun wollen, gerade die, die sich
voreinander bücken.
15
Wie zweideutig und schmutzig ist jeder,
der zu einem andern sagt: sprich, meine ich´s
nicht wirklich gut zu dir? So etwas zu sagen!
Es muß von selber klar werden. Auf deiner Stirn
muß es geschrieben stehen: so ist´s; aus den
Augen muß es hervorleuchten, wie des Liebenden Blick
die Liebe gleich verrät. Geheuchelte Aufrichtigkeit
ist wie ein Dolch. Nichts häßlicher als Wolfsfreundschaft.
Meide sie allermeist! Der Gutgesinnte, Aufrichtige
und Wohlwollende zeigt sich unverkennbar schon in
seinen Augen.
16
Wahrhaft gut zu leben — das
ist eine Kraft und Fertigkeit der Seele? und sie verfügt
darüber, wenn sie gegen das, was gleichgültig ist,
sich wirklich auch gleichgültig verhält. Diese
Gleichgültigkeit aber beruht wieder darauf, daß man
die Dinge sich genau und von allen Seiten ansieht.
Denn wir sind es selbst, die ihnen eine uns ängstigende
Bedeutung unterlegen und sie uns so ausmalen, während
es doch in unserer Macht steht, sie nicht so auszumalen,
oder wenn sich ein solches Bild einmal unvermerkt
in unsere Seele geschlichen hat, es sofort wieder
auszulöschen. Auch braucht es solcher Vorsicht
ja nur kurze Zeit! das Leben geht zu Ende! — Was
hat demnach dies richtige Verhalten für große Schwierigkeiten?
Denn ist es naturgemäß, so freue dich und nimm es
leicht, ist´s naturwidrig, untersuche, was deiner Natur
gemäß ist, strebe danach, auch wenn es dir keinen
Ruhm einbringt. Jedem ist gestattet, sein eigenes
Wohl zu suchen.
17
Untersuche, woher jedes Ding seinen
Ursprung nimmt und aus welchen Stoffen es besteht
und in welche Form es sich verwandelt, wozu es durch
die Umwandlung wird und daß ihm damit kein kein Übel
widerfährt.
18
Das Wichtigste ist immer zu wissen,
in welchem Verhältnisse ich zu anderen stehe, nämlich,
daß wir alle, einer um des anderen willen da sind
(wobei sich das Verhältnis näher auch so gestalten
kann, daß einer der Vorgesetzte der andern ist, wie
der Widder der Schafherde, der Stier der Rinderherde).
Dann, daß man die Menschen beobachtet, wie sie´s daheim,
bei Tische oder sonstwo zu treiben pflegen, und welche
Grundsätze als treibende Kraft in ihnen liegen.
Und zumeist, welche Gewalt haben ihre Grundsätze über
sie und mit wieviel Eigendünkel verrichten sie ihre
Handlungen? Drittens, daß man bedenkt, daß alle,
die unvernünftig handeln, unfreiwillig und unwissend
so handeln — und Schmerz genug für sie liegt
schon darin, daß sie eben Ungerechte, Undankbare,
Geizige oder mit einem Worte Übeltäter heißen.
Ferner, daß auch du so manchen Fehler hast und von
derselben Art bist wie sie? daß, wenn du dich von
gewissen Vergnügungen fern gehalten hast — vielleicht
war´s Feigheit oder Ehrgeiz oder etwas dem Ähnliches,
was dich fernhielt — du doch auch den Charakter
hast, aus dem jene Vergehungen entspringen. Ferner,
daß es gar nicht immer so feststeht, ob sie gefehlt
haben, wenn es dir auch so scheint. Denn vieles
geschieht aus einer weisen Berechnung der Umstände,
die uns verborgen sein können. Man muß überhaupt
erst so manches gelernt haben, ehe man über die Handlungsweise
eines anderen richtig urteilen kann. Dann denke
man doch immer wieder an die Kürze des menschlichen
Lebens, zumal wenn man so recht aufgelegt ist, unwillig
zu werden und aufzubrausen. Und weiter, daß es
ja eben nicht jene Handlungen sind, die uns Beschwerde
machen, sondern unsere Vorstellungen, die wir uns
über sie machen. Schicke sie heim, und dein Zorn
wird sich legen. Aber wie? Durch die Erwägung
daß, was dir durch jene widerfährt, in Wahrheit nichts
Schlechtes sei. Wäre es schlecht, dann wärst
du ja notwendig selber dadurch schlecht geworden. — Und
weiter, daß Zorn und Unwille über solche Dinge uns
doch viel mehr beschweren, als die Dinge, über die
du dich erzürnst. Und endlich, daß ein liebevolles
Gemüt, wenn seine Liebe wirklich echt und ungeheuchelt
ist, durch nichts kann überwunden werden. Auch
dein allerärgster Feind kann dir nichts anhaben, wenn
du auf deiner Liebe zu ihm beharrst, wenn du bei Gelegenheit
ihn ermahnst und gerade, wenn er im Begriff ist, dir
weh zu tun, ihm freundlich zusprichst: nicht doch,
Lieber; wir sind zu etwas anderem geboren; mir schadest
du ja nicht, du schadest dir selber, Kind! wenn du
ihm so in sanfter Weise und alles wohlerwogen zeigst,
daß sich dies so verhalte, und daß nicht einmal die
Tiere so verfahren, die in Herden beisammen leben.
Freilich muß dies ohne alle Ironie geschehen, nicht
mit dem versteckten Wunsche, ihn zu demütigen, sondern
aus reiner Liebe und ohne das Gefühl erlittener Kränkung,
auch nicht im Schulmeisterton oder im Beisein eines
andern, sondern mit ihm allein, selbst wenn andere
gegenwärtig wären. — Diese neun Punkte also
erwäge fleißig, laß sie Eingang bei dir finden, als
wären es ebensoviele Gaben der Musen und fange einmal
an, ein Mensch zu sein, solange du noch lebst.
Sanftmut und Milde — das ist das echte Menschliche
und Männliche; hierin liegt Kraft und Tapferkeit und
Stärke, nicht im Zorn und im beleidigten Wesen.
Denn je näher etwas an die völlige Leidenschaftslosigkeit
grenzt, desto näher kommt es wirklicher Macht.
Und wie die Traurigkeit ein Zeichen der Schwäche ist,
so ist es auch der Zorn. In beiden sind wir verwundete,
geschlagene Leute. Aber freilich, vor Kriecherei
muß man sich ebensosehr hüten, wie vor dem Zorn, da
sie ebenso gegen die Grundbedingungen der Gemeinschaft
ist und ebenso verderblich wirkt. — Willst
du, so nimm vom Musageten noch ein Zehntes: Wahnsinnig
ist´s zu fordern, daß schlechte Menschen nicht fehlen
sollen, unbillig aber und willkürlich, zu verstatten,
daß sie sich gegen andere vergehen, nicht aber, daß
sie dich verwunden.
19
Viererlei Verirrungen des Geistes
gibt es, vor denen man sich stets in acht zu nehmen
hat, und denen man, sobald sie ausgespürt sind, ausbiegen
muß, indem man sich bewußt wird: dies ist ein
Gedanke, zu dem dich nichts zwingt; dies ist etwas,
wodurch die menschliche Gesellschaft aufgelöst wird;
dies redest du nicht von dir selbst (und es gibt nichts
Törichteres, als nicht aus sich selbst heraus zu sprechen).
Endlich, eine Schmach ist es, die du dir selber zufügst,
sooft das göttlichere Teil an dir erniedrigt und herabgewürdigt
ist von dem geringeren und sterblichen und dessen
groben Lüsten.
20
Alles Luftige und Feurige, was deinem
Wesen beigemischt ist, obwohl es von Natur nach oben
strebt, gehorcht doch der Anordnung des Alls und bleibt
hier ruhig in der gesamten Masse. Ebenso alles
Erdige und Feuchte, das nach unten strebt, wird doch
fortwährend gehoben und behauptet den seiner Natur
nicht zukommenden Ort. So gehorchen die Stoffe
der Natur, wenn sie gewaltsam irgendwohin gestellt
sind, und verweilen hier, bis das Zeichen zu ihrer
Auflösung gegeben ist. Ist es nun nicht schlimm,
wenn die Vernunft allein nicht gehorsam sein will und
die ihr zugewiesene Stelle mit Unwillen betrachtet?
Und das, wiewohl ihr nirgend Zwang auferlegt wird,
sondern nur das, was ihrer Natur entspricht?
Denn jede ihrer Bewegungen nach dem Unrecht oder nach
dem Sinnenreiz, nach dem Zorn, nach dem Schmerz und
nach der Furcht ist nichts anderes, als ein solches
Fortstreben von dem ihr zugewiesenen Orte, als ein
Abfall von der Natur. Und sooft deine Vernunft
über irgendein Ereignis mißmutig wird, verläßt sie
ihren Posten. Du bist zur Gleichmütigkeit und
Gottesfurcht nicht weniger als zur Gerechtigkeit geschaffen.
Der Begriff des Gemeingeists enthält noch jene Tugenden
ja sie sind sogar älter als das Recht.
21
Wer nicht im Leben einen und denselben
Zweck verfolgt der ist auch eigentlich nicht ein und
derselbe Mensch. Doch kommt es vor allem darauf
an, von welcher Art dieser Zweck ist. Es hängt
dies genau mit dem Begriff der Güter zusammen, der
schwankend und unbestimmt bleibt, solange es sich
darum handelt, was jedem einzelnen gut ist, und der
zur Klarheit und Bestimmtheit nur gebracht werden
kann, wenn man das Ganze, die Gemeinschaft aller ins
Auge faßt. Und so muß auch der Zweck des Lebens
eines jeden sich nach dem Ganzen richten, mit dem Zweck
der Gemeinschaft, der man angehört, harmonisch wirken.
Wer nun alle seine besonderen Neigungen diesem Zweck
unterordnet und ihm gemäß gestaltet, der wird dadurch
auch Konsequenz in seine Handlungsweise bringen und
so immer derselbe Mensch sein.
22
Das menschliche Leben gibt mir oft nichts weiter,
als das Bild einer
Haus- oder Feldmaus, die erschrocken hin und her läuft.
Haus- oder Feldmaus, die erschrocken hin und her läuft.
23
Sokrates nannte die Meinungen der Menge Lamien, Schreckgestalten
für
Kinder.
Kinder.
24
Die Lakedämonier stellten bei ihren
Schauspielen die Sitze für Fremde in den Schatten.
Sie selbst setzten sich an den ersten besten Platz.
25
Als Sokrates sich bei Perdikkas entschuldigte,
warum er seine Einladung nicht angenommen habe, sagte
er: damit ich nicht vor Schimpf und Schande zu
vergehen brauche als einer, der Wohltat empfängt, ohne
sie mit Wohltat vergelten zu können.
26
In Epikurs Schriften war die Lebensregel
aufgezeichnet, daß man aus der Reihe der alten Tugendfreunde
beständig einen im Andenken behalten solle.
27
Die Pythagoräer sagen, man müsse früh
zum Himmel aufblicken, damit wir derer gedenken, die
immer eines und dasselbe, und die ihr Werk stets auf
dieselbe Weise treiben, damit wir ihrer Ordnung, ihrer
Reinheit, ihres unverhüllten Wesens gedenken.
Denn die Gestirne haben keine Hülle.
28
Was für ein Mann war Sokrates, der
ein Fell umgürtete, als Xanthippe in seinem Obergewand
ausgegangen war! Und was sagte er zu seinen Freunden,
als sie ihn in diesem Aufzug erblickten und entsetzt
zurücktraten? Nicht das Kleid macht den Mann!
29
Weder im Schreiben noch im Lesen kannst
du Vorschriften erteilen, ehe du mit deren Befolgung
vorausgegangen bist. Im Leben noch viel weniger.
30
“Der Sklavenseele ziemt es mitzusprechen nicht.”
31
“Laß sie die Tugend schmähen, mit was für Worten
sie wollen”
“ Und es lachte das Herz mir im Busen.”
sie wollen”
“ Und es lachte das Herz mir im Busen.”
32
Lästern werden die Schwätzer mit harten Worten die
Tugend.
33
Wer im Winter eine Feige sucht, ist
wahnwitzig. Ebenso wer sich nach einem Kind sehnt,
wenn ihm ein solches nicht mehr vergönnt ist.
34
Nach Epiktet soll jeder, der sein
Kind küßt, bei sich denken: morgen vielleicht
ist es tot. Das klingt wie eine Lästerung.
Aber, sagt er, kann das eine Lästerung genannt werden,
womit ich etwas rein Natürliches bezeichne? wenn ich
z.B. sage: die Ähren werden abgemäht?
35
Jetzt unreife Traube, dann reif, dann
getrocknet — lauter Wandlungen, doch nicht
etwa in ein Nichts, sondern in ein Etwas, das jetzt
noch nicht ist.
36
Einen Räuber des Willens gibt es nicht, sagt Epiktet.
37
Du mußt, sagt derselbe, mit dem Beifall
kunstgerecht umgehen lernen und bei deinen Zielen
die Vorsicht beobachten, daß sie an Bedingungen geknüpft
sind, sich aufs Gemeinwohl richten und durch den Wert
der Dinge bestimmen lassen. Aber der Begierden
mußt du dich enthalten und meiden, was nicht in deiner
Gewalt steht.
38
Der Streit betrifft also (sagt Epiktet)
nicht eine Alltagsangelegenheit, sondern vielmehr
die Frage, ob man wahnsinnig sei oder nicht. Denn
nach stoischer Anschauung sind alle Lasterhaften wahnsinnig.
39
Sokrates sagte: Was wollt ihr?
wollt ihr Seelen vernünftiger oder unvernünftiger
Wesen? Vernünftiger. Welcher Vernünftigen?
Gesunder oder verderbter? Gesunder. Nun,
warum sucht ihr sie nicht auf? Suchen? weil wir
sie haben! Also warum zankt und streitet ihr euch?
ZWÖLFTE BUCH
1
Alles, was du jetzt auf Umwegen zu
erreichen wünschest, könntest du schon besitzen, wenn
du nicht mißgünstig gegen dich selber wärest.
Es wäre dein sobald du imstande wärst, was hinter
dir liegt, auf sich beruhen zu lassen, was vor dir,
der Vorsehung anheimzustellen, und nur das Gegenwärtige
der Frömmigkeit und Gerechtigkeit gemäß zu gestalten;
der Frömmigkeit, indem du dich deines Schicksals freust,
der Gerechtigkeit, indem du freimütig und ohne Umschweif
die Wahrheit redest und tust, was das Gesetz und was
der Wert jeder Sache erfordern, unbeirrt von anderer
Schlechtigkeit, von irgendwelchen übelangebrachten
Vorstellungen, von dem Gerede anderer und von den Empfindungen
deiner fleischlichen Hülle. Denn wenn du so deinem
Lebensende entgegengehst, alles andere mit Gleichgültigkeit
betrachtest, nur das Göttliche in dir, die herrschende
Vernunft verehrend, und nicht sowohl das Aufhören des
Daseins als vielmehr das Nichtbeginnen eines naturgemäßen
Lebens fürchtest, dann darfst du auch ein Mensch heißen,
der würdig ist der Welt, die ihn hervorgebracht, und
wirst aufhören, ein Fremdling zu sein in deinem Vaterlande.
2
Nackt und von dem Gefäß, der Schale,
dem Schmutz des Körpers entblößt sieht Gott die Seele.
Denn die eigentliche Berührung zwischen ihm und seinen
Werken findet nur vermittelst seines Geistes statt.
Mach es ihm nach und du befreist dich von so mancher
Last und Sorge. Denn wer erst absehen gelernt
hat von seinem Leibe, der ihm das Nächste ist, der
achtet dann gewiß auch nicht mehr auf Kleidung, Häuslichkeit,
Ansehen bei den Leuten und all dergleichen Äußerlichkeiten.
3
Du bestehst aus drei Teilen:
Leib, Seele und Geist. Leib und Seele sind dein,
nur soweit es deine Pflicht ist, für sie zu sorgen.
Der Geist aber ist ganz eigentlich dein. Doch
nur, wenn du ihn frei zu machen weißt von allen Einflüssen
der Außenwelt, des eigenen Leibes und der dem Leibe
eingepflanzten Seele, so daß er ein Leben aus sich
und für sich selber führt, vollbringt, was die Gerechtigkeit
gebietet, will, was das Schicksal auferlegt und wahr
ist in seinen Reden, nur dann kannst du die noch übrige
Zeit ruhig und heiter leben und wirst treu bleiben
deinem Genius.
4
Ich wundere mich oft darüber, wie
derselbe Mensch, der sich mehr liebt als alle anderen,
dennoch mehr Gewicht auf das Urteil anderer über ihn,
als auf das eigene legen kann. Bedenkt man freilich,
daß kein noch so bedeutender Lehrer, ja daß kein Gott
es auch nur einen Tag lang von uns erreichen würde,
gleich zu sagen, was wir denken, so wie wir den Gedanken
nur gefaßt, so ist´s auch wiederum natürlich, daß wir
eine weit größere Scheu vor dem haben, was andere
von uns denken, als vor unserer eigenen Meinung.
5
Wie mag es nur kommen, daß die Götter,
die doch alles so schön und menschenfreundlich eingerichtet
haben, das eine übersehen konnten, daß selbst die
wenigen trefflichen Menschen, die mit dem Göttlichen
aufs innigste verkehrten und sich ihm durch fromme
Werke und heiligen Dienst zu besonderen Freunden gemacht
haben, wenn sie einmal tot sind, nicht wiederkommen,
sondern ganz und gar verschwunden sind? Allein,
wenn sich die Sache wirklich so verhält, so wisse,
daß, wenn es anders hätte sein sollen, sie´s auch
anders gemacht hätten. Wäre es gut gewesen, hätte
es auch gewiß geschehen können; wäre es natürlich,
so würde es die Natur auch einrichten. Daraus
also, daß es nicht so ist, wofern es nämlich nicht
so ist, erkennst du, daß es nicht so sein darf.
Und — würdest du denn überhaupt auf diese
Weise mit den Göttern rechten, wenn nicht die stillschweigende
Voraussetzung wäre, daß sie die besten und gerechtesten
sind? Und daraus folgt ja schon von selbst, daß
sie in ihren Anordnungen nicht ungerecht und gegen
die Vernunft verfahren konnten.
6
Auch daran kann man sich gewöhnen,
was einem anfangs verzweifelt erscheint. Die
linke Hand, die zu so vielen Dingen unbrauchbar ist
aus Mangel an Gewöhnung, ist doch z.B. zur Führung
des Zügels weit geschickter als die rechte. Weil
sie´s gewohnt ist.
7
Denke an die Beschaffenheit des Leibes
und der Seele, worin du dich vom Tod ergreifen lassen
mußt, sowie an die Kürze des Lebens, an den unermeßlichen
Zeitraum hinter dir und vor dir, an die Gebrechlichkeit
jeden Stoffes.
8
Betrachte die wirkenden Kräfte der
Dinge, von ihrer Hülle entkleidet, ebenso den Zweck
jeden Geschehens! Frage, was Unlust, was Lust,
was Tod, was Ruhm sei, an wem die Schuld der eigenen
Ruhelosigkeit liege, wie niemand von einem anderen
gehindert werde und daß alles auf die Vorstellung
ankomme.
9
Bei der Anwendung unserer Grundsätze
aufs Leben gilt es mehr dem Ringer, als dem Fechter
ähnlich zu sein. Der nämlich ist verloren, sobald
ihm das Schwert abhanden kommt. Jenem aber steht
die Faust immer zu Gebot; er braucht sie eben nur
zu ballen.
10
Sieh zu, wie die Dinge in der Welt
beschaffen sind, und unterscheide an ihnen Stoff,
wirkende Kraft, Zweck.
11
Welche Gewalt hat doch der Mensch,
der nichts tut, als was Gott loben kann, und der alles
hinnimmt, was Gott ihm sendet!
12
Über das, was eine Folge des natürlichen
Verlaufs ist, soll man weder Göttern noch Menschen
Vorwürfe machen. Jene verfehlen sich weder willkürlich
noch unwillkürlich, diese nur unwillkürlich. Also
gibt´s keinen Anlaß, ihnen etwas vorzuwerfen.
13
Was für ein lächerlicher Fremdling auf Erden ist der,
der über irgendein
Ereignis in seinem Leben erstaunt.
Ereignis in seinem Leben erstaunt.
14
Ist alles eine unabänderliche Notwendigkeit,
wie kannst du widerstreben? Gibt´s aber eine
Vorsehung, die sich versöhnen läßt, so mache dich des
göttlichen Beistands würdig! Ist aber auch dieses
nicht das Richtige, ist vielmehr alles nur die planloseste
Verwirrung, dann sei froh, daß du selbst mitten in
diesem Wirrwarr an deinem Geiste ein leitendes Triebrad
besitzest. Wohin dich nun auch jene Strömung treiben
mag — mag sie den Leib, die Seele, alles
mit hinwegführen, den Geist wird sie nicht mit sich
fortführen!
15
Das Licht der Lampe scheint, bis man
es auslöscht; nicht eher gibt es seinen Strahl ab.
Soll denn die Wahrheit, die Gerechtigkeit und Besonnenheit
in dir eher verlöschen?
16
Wenn jemand dir die Meinung beigebracht,
er habe sich vergangen, weißt du auch gewiß, ob es
ein Vergehen ist? und wenn er sich wirklich vergangen
hat, ist er selber auch der Meinung? Oder gliche
er dann nicht einem Menschen, der sich selbst das
Auge auskratzt? Wer überhaupt verlangt, daß der
Lasterhafte nicht fehlen soll, kommt mir vor wie einer,
der nicht will, daß der Feigenbaum den Feigen Saft
gibt, daß die Kinder schreien, daß Pferde wiehern
und dergleichen natürliche Dinge mehr. Denn was
soll er tun, hat er die Anlage dazu? Hast du den
Mut, heile ihn!
17
Was sich nicht ziemt, das tue auch
nicht, und was nicht wahr ist, sage nicht. Dein
Hauptbestreben sei jederzeit, das Ganze im Auge zu
haben.
18
Sieh immer auf das Ganze und mache
dir klar, was in dir gerade die Vorstellung erzeugt,
indem du daran die Urkraft, den Stoff, den Zweck,
die Zeit, in der etwas wieder aufhören muß, unterscheide.
19
Merkst du endlich, daß etwas Besseres
und Göttlicheres in dir ist, als das, was die Leidenschaften
hervorruft und was dich bald hierin, bald dorthin
zieht, gleich einer Puppe? Was waltet jetzt in
meinem Denken? Ist´s Furcht, Argwohn oder Begierde
oder etwas anderes?
20
Fürs erste: Handle nicht ohne Ursache, nicht
ohne Zweck! Zum anderen:
Suche nichts anderes als den allgemeinen Nutzen zu erreichen!
Suche nichts anderes als den allgemeinen Nutzen zu erreichen!
21
Binde dich an keinen Ort, an nichts
von dem, was du jetzt siehst, an keinen derer, die
jetzt leben. Denn das alles ist wandelbar und
wird vergehen, um anderen Platz zu machen.
22
Alles ist Vorstellung, und diese hängt
von dir ab. Räume, wenn du willst, die Vorstellung
aus dem Weg, und du wirst wie ein Seefahrer, der das
Vorgebirge umschifft hat, auf ruhiger See in die windstille,
wogenfreie Bucht einfahren.
23
Jegliche Tätigkeit, die zur bestimmten
Zeit ihr Ende erreicht, leidet dadurch, daß sie es
wirklich erreicht hat, keinen Schaden. Ebensowenig
erleidet der, welcher sich hierbei tätig erwiesen hat,
durch diese Beendigung einen Nachteil. Gleichfalls
nun leidet der Inbegriff aller dieser Tätigkeitsäußerungen,
das heißt das Leben, durch ebendieses Ende keinen
Nachteil, und so ist auch der, welcher zu seiner Zeit
die Reihe geschlossen hat, hierdurch in keine schlimme
Lage versetzt worden. Jene Zeit aber und diese
Lebensgrenze weist die Natur ab, und zwar zuweilen,
wenn sie erst im Greisenalter eintritt, zugleich die
eigene Natur des Menschen, jedesmal aber jene Allnatur;
denn durch Umwandlung ihrer Teile wird das ganze Weltgebäude
stets verjüngt und wieder in volle Blüte versetzt.
Alles aber, was dem Ganzen zuträglich, ist jederzeit
auch schön und zeitgemäß. So ist auch das Aufhören
des Lebens für niemand nachteilig, zumal da es auch,
weil von unserer Willkür unabhängig und dem Gemeinwohl
nicht zuwider, niemand Schande macht; vielmehr ist
dasselbe ein Gut, insofern es für das Ganze zeitgemäß
nützlich und zuträglich ist. So ist auch der
ein von Gott Geführter, der sich von Gott auf dessen
Wegen und mit seiner Gesinnung zu gleichen Zielen führen
läßt.
24
Folgende drei Grundsätze mußt du stets
vor Augen haben: Erstens nämlich in Ansehung
dessen, was du tust, nie ohne Grund noch anders zu
verfahren, als die Gerechtigkeit selbst verfahren haben
würde; in Ansehung dessen aber, was dir von außen
zustößt, mag es nun von einem glücklichen Zufall oder
von der Vorsehung herrühren, dich weder über den Zufall
zu beschweren, noch die Vorsehung anzuklagen.
Zweitens, bei jedem Wesen darauf zu achten, wie es
von seiner Empfängnis an bis zu seiner Beseelung und
von seiner Beseelung an bis zu seiner Entseelung beschaffen
sei, desgleichen aus welcherlei Bestandteilen es zusammengesetzt
und in was für welche es wieder aufgelöst werde.
Drittens, daß, wenn du, plötzlich über die Erde emporgerückt,
auf die Menschenwelt herabschauen, den großen, vielgestaltigen
Wechsel in derselben wahrnehmen und zugleich den ganzen
Umkreis luftiger und ätherischer Wesen mit einem
Blicke überschauen könntest, daß du dennoch, sage
ich, sooft du emporgerückt würdest, immer wieder dasselbe,
nämlich alles gleichförmig und kurzdauernd finden müßtest.
Und hierauf dürftest du stolz sein?
25
Mache dich nur von deinem Wahne los,
und du bist gerettet! Wer hindert dich denn,
ihn abzutun?
26
Trägst du an irgend etwas schwer,
so hast du vergessen, daß alles sich der Allnatur
gemäß ereignet und daß fremde Vergehungen dich nicht
anfechten sollen, ferner vergessen, daß alles, was
geschieht, immer so geschehen ist, immer so geschehen
wird und überall jetzt so geschieht, vergessen, welch
innige Verwandtschaft zwischen dem einzelnen Menschen
und dem ganzen Menschengeschlecht besteht; denn hier
ist nicht eine Gemeinschaft von Blut oder Samen, sondern
der Vernunft. Du hast aber auch das vergessen,
daß der denkende Geist eines jeden ein Gott und ein
Ausfluß der Gottheit ist, vergessen, daß niemand etwas
ihm ausschließlich Eigenes besitzt, sondern sein Kind
sowohl als sein Leib und selbst seine Seele aus jener
Quelle ihm zugekommen ist, vergessen endlich, daß
jeder nur den gegenwärtigen Augenblick lebt und folglich
auch nur diesen verliert.
27
Rufe dir immerfort diejenigen wieder
ins Andenken zurück, die sich über irgend etwas gar
zu sehr betrübt oder die durch Unglücksfälle, Feindschaften,
durch die größten Ehrenstellen oder durch andere Glücksumstände
großes Aufsehen erregt haben. Dann lege deinem
Nachdenken die Frage vor: “Wo ist jetzt
das alles?” Rauch ist´s und Asche, eine Märe
oder auch nicht einmal eine Märe. Daneben laß
dir auch so vieles andere der Art einfallen, zum Beispiel
was Fabius Catullinus auf seinem Landgut, Lusius Lupus
in seinen Gärten, Stertinius in Bajä, Tiberius auf
Capri, Rufus in Velia getrieben haben und alle jene,
die auf Meinungen beruhendes Interesse für irgend
etwas hatten. Bedenke, wie geringfügig jeder
Gegenstand ihrer Bestrebungen gewesen sei und wieviel
philosophischer es wäre, sich bei jeder dargebotenen
Gelegenheit als gerecht, besonnen, den Göttern folgsam,
ohne Gleißnerei zu zeigen. Denn der Hochmut,
der sich mit Demut brüstet, ist der allerunerträglichste.
28
Die dich etwa fragen möchten, wo du
denn eigentlich die Götter gesehen, und woraus du
entnommen habest, daß sie sind, so daß du sie verehren
magst, denen gib zur Antwort: Einmal, sie sind
wirklich mit Augen zu sehen. Dann, auch meine
Seele habe ich ja noch nie gesehen, und halte sie
doch in Ehren. Daraus, daß ich ihre Macht immer
gespürt, habe ich entnommen, daß die Götter sind,
und darum verehre ich sie.
29
Bei jedem Gegenstand zu sehen, was
er im ganzen, was er nach seinem Stoff, was nach seiner
Kraft sei, von ganzer Seele das Rechte tun und das
Wahre reden, darauf beruht das Heil des Lebens.
Eine gute Tat der andern so anreihen, daß auch nicht
der kleinste Zwischenraum bleibt, was heißt das anders,
als das Leben genießen?
30
Es gibt nur ein Sonnenlicht,
obwohl gebrochen durch Mauern, Berge, tausend anderes.
Ein gemeinsamer Stoff, obwohl hindurchgehend durch
tausend eigentümliche Bildungen. Ein Leben, obwohl
verteilt auf unzählige Wesen, deren jedes seine Besonderheit
hat. Eine Vernunft, obwohl auch sie zerteilt
erscheint. Alles übrige, die Welt der Dinge,
der empfindungslosen, ist ohne Zusammenhang in sich,
obgleich auch hier der Geist waltet und alles in seine
Wagschale fällt, nur das Menschenherz hat seinen ihm
eigentümlichen Zug nach dem, was ihm verwandt ist,
und läßt sich diesen Gemeinschaftstrieb nicht nehmen.
31
Was wünschest du? Bloß fortzudauern?
Nein, vielmehr zu empfinden, dich zu bewegen, zu wachsen,
wiederum stille zu stehen, deine Stimme zu gebrauchen,
nachzudenken. Was von allem diesem scheint dir
noch wünschenswert? Ist aber eines wie das andere
geringfügig, so wende dich dem zu, was zuletzt allein
noch übrigbleibt: dem Gehorsam gegen die Vernunft
und gegen die Gottheit. Der Verehrung von diesen
widerspricht es jedoch, wenn man sich vom Gedanken
gedrückt fühlt, durch den Tod der erstgenannten Dinge
beraubt zu werden.
32
Welch kleines Teilchen der unendlichen
und unermeßlichen Zeit ist jedem von uns zugemessen!
So schnell wird es ja von der Ewigkeit verschlungen.
Welch kleines Teilchen von der ganzen Wesenheit!
Welch kleines Teilchen von der ganzen Weltseele!
Wie klein ist das Erdklümpchen, auf dem du umherschleichst!
Dies alles bedenke und halte dann nichts für groß als
das: zu tun, wie deine Natur dich leitet, und
zu leiden, was die Allnatur mit sich bringt.
33
Welchen Gebrauch macht die herrschende
Vernunft von sich selbst? Hierauf kommt ja alles
an. Das übrige aber, mag es von deiner Willkür
abhängen oder nicht, ist nur Totenstaub und Dunst.
34
Der zur Verachtung des Todes dienlichste
Gedanke ist der, daß selbst diejenigen, welche Sinnenlust
für ein Gut und Unlust für ein Übel erklärten, ihn
doch verachtet haben.
35
Wer nur das, was zur rechten Zeit
geschieht, für ein Gut hält, wem es gleichgültig ist,
ob er eine größere oder kleinere Zahl vernunftgemäßer
Handlungen aufzuweisen habe, wer zwischen einer länger
oder kürzer dauernden Betrachtung der Welt keinen
Unterschied macht, für den ist auch der Tod nichts
Furchtbares.
36
So hast du denn dein Bürgerrecht gehabt,
o Mensch, in diesem großen Reiche. Wie lange
es gedauert, darauf kommt´s nicht an. Was den
Gesetzen gemäß ist, ist auch jedem billig. Was
also wäre Schlimmes daran wenn du entlassen wirst?
entlassen ja nicht von einem Despoten oder ungerechten
Richter, sondern von der Natur, derselben, die dich
eingeführt. So darf ja wohl der Schauspielleiter,
der einen Schauspieler angestellt, ihm wieder kündigen.
Aber, sagst du, von fünf Akten sind ja erst drei abgespielt!
Sehr gut. Doch sind im Leben auch drei Akte das
ganze Stück. Der ehemals die Stoffe zusammenfügte
und der jetzt sie wieder löst, der hat das Ende zu
bestimmen. Du bist unschuldig an beidem.
So gehe denn versöhnt! Der dich abspannt, ist´s
auch.
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