Theodor Storm - 1817 - 1888
Hans Theodor Woldsen Storm ( 14. September 1817 in Husum; † 4. Juli 1888 in Hanerau-Hademarschen) war ein deutscher Schriftsteller, der als Lyriker und als Autor von Novellen und Prosa des deutschen Realismus mit norddeutscher Prägung bedeutend war. Im bürgerlichen Beruf war Storm Jurist.
Im Sonnenschein
1.
In den höchsten Zweigen des
Ahornbaums, der an der Gartenseite des Hauses stand, trieben die
Stare ihr Wesen. Sonst war es still; denn es war Sommernachmittag
zwischen eins und zwei.
Aus der Gartentür trat ein junger Reiteroffizier in
weißer festtäglicher Uniform, den kleinen dreieckigen
Federhut schief auf den Kopf gedrückt, und sah nach allen
Seiten in die Gänge des Gartens hinab; dann, seinen Rohrstock
zierlich zwischen den Fingern schwingend, horchte er nach einem
offenstehenden Fenster im oberen Stockwerke hinauf, aus dem sich in
kleinen Pausen das Klirren holländischer Kaffeeschälchen
und die Stimmen zweier alten Herren deutlich vernehmen
ließen. Der junge Mann lächelte wie jemand, dem was
Liebes widerfahren soll, indem er langsam die kleine Gartentreppe
hinunterstieg. Die Muscheln, mit denen der breite Steig bestreut
war, knirschten an seinen breiten Sporen; bald aber trat er
behutsam auf, als wolle er nicht bemerkt sein. — Gleichwohl
schien es ihn nicht zu stören, als ihm aus einem Seitengange
ein junger Mann in bürgerlicher Kleidung mit sauber gepuderter
Frisur entgegenkam. Ein Ausdruck brüderlichen, fast
zärtlichen Vertrauens zeigte sich in beider Antlitz, als sie
sich schweigend die Hände reichten. »Der Syndikus ist
droben; die alten Herren sitzen am Tokadilletisch,« sagte der
junge Bürger, indem er eine starke goldene Uhr hervorzog,
»Ihr habt zwei volle Stunden! Geh nur, du kannst rechnen
helfen.« Er zeigte bei diesen Worten den Steig entlang nach
einem hölzernen Lusthäuschen, das auf Pfählen
über den unterhalb des Gartens vorüberströmenden
Fluß hinausgebaut war.
»Ich danke dir, Fritz. Du kommst doch zu uns?«
Der Angeredete schüttelte den Kopf. »Wir haben
Posttag!« sagte er und ging dem Hause zu. Der junge Offizier
hatte den Hut in die Hand genommen und ließ, während er
den Steig hinabging, die Sonne frei auf seine hohe Stirn und seine
schwarzen ungepuderten Haare scheinen. So hatte er bald den
Schatten des kleinen Pavillons, der gegen Morgen lag, erreicht.
Die eine Flügeltür stand offen; er trat vorsichtig auf
die Schwelle. Aber die Jalousien schienen von allen Seiten
geschlossen; es war so dämmerig drinnen, daß seine noch
eben des vollen Sonnenlichts gewöhnten Augen erst nach einer
ganzen Weile die jugendliche Gestalt eines Mädchens
aufzufassen vermochten, die inmitten des Zimmers an einem
Marmortischchen sitzend, Zahl um Zahl mit sicherer Hand in einen
vor ihr liegenden Folianten eintrug. Der junge Offizier blickte
verhaltenen Atems auf das gepuderte Köpfchen, das über
den Blättern schwebend, wie von dem Zuge der Feder, harmonisch
hin und wieder bewegt wurde. Dann, als einige Zeit
vorübergegangen, zog er seinen Degen eine Hand breit aus der
Scheide und ließ ihn mit einem Stoß zurückfallen,
daß es einen leichten Klang gab. Ein Lächeln trat um den
Mund des Mädchens, und die dunkeln Augenwimpern hoben sich ein
Weniges von den Wangen empor; dann aber, als hätte sie sich
besonnen, streifte sie nur den Ärmel der amarantfarbenen
Kontusche zurück und tauchte aufs neue die Feder ein.
Der Offizier, da sie immer nicht aufblickte, tat einen Schritt
ins Zimmer und zog ihr schweigend die Feder durch die Finger,
daß die Tinte auf den Nägeln blieb.
»Herr Kapitän!« rief sie und streckte ihm die
Hand entgegen. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen; ein Paar
tiefgraue Augen waren mit dem Ausdruck nicht allzu ernsthaften
Zürnens auf ihn gerichtet.
Er pflückte ein Rebenblatt draußen vom Spalier und
wischte ihr sorgfältig die Tinte von den Fingern. Sie
ließ das ruhig an sich geschehen; dann aber nahm sie die
Feder und fing wieder an zu arbeiten.
»Rechne ein andermal, Fränzchen!« sagte der
junge Mann.
Sie schüttelte den Kopf. »Morgen ist
Klosterrechnungstag; ich muß das fertig machen.« Und
sie setzte ihre Arbeit fort.
»Du bist ein Federheld!«
— »Ich bin eine Kaufmannstochter!«
Er lachte.
— »Lache nicht! Du weißt, wir können die
Soldaten eigentlich nicht leiden.«
»Wir? Welche wir sind das?«
— »Nun, Konstantin,« — und dabei
rückte ihre Feder addierend die Zahlenreihen hinunter —
»wir, die ganze Firma!«
»Du auch, Fränzchen?«
— »Ach! ich« — — Und sie
ließ die Feder fallen und warf sich an seine Brust, daß
sich ein leichtes Puderwölkchen über ihren Köpfen
erhob. Sie strich mit der Hand über seine glänzend
schwarzen Haare. »Wie eitel du bist!« sagte sie, indem
sie den schönen Mann mit dem Ausdruck wohlgefälligen
Stolzes betrachtete.
Von der Stadt herüber kam der Schall einer
Militärmusik. Die Augen des jungen Kapitäns leuchteten.
»Das ist mein Regiment!« sagte er und hielt das
Mädchen mit beiden Armen fest.
Sie bog sich lächelnd mit dem Oberkörper von ihm ab.
»Es hilft dir aber alles nicht!«
»Was soll denn daraus werden?«
Sie hob sich auf den Fußspitzen zu ihm heran und sagte:
»Eine Hochzeit!«
»Aber die Firma, Fränzchen!«
— »Ich bin meines Vaters Tochter.« Und sie sah
ihn mit ihren klugen Augen an.
In diesem Augenblick drang, in scheinbar unmittelbarer
Nähe, vom obern Stockwerke des Hauses der Laut einer harten
Stimme zu ihnen herüber. Die Stare flogen schreiend durch den
Garten; der junge Offizier, wie in unwillkürlicher Bewegung,
schloß das Mädchen fester in seine Arme. »Was hast
du?« sagte sie. »Die alten Herren haben die erste
Partie gespielt; nun stehen sie am Fenster, und Papa macht das
Wetter für die nächste Woche.«
Er sah durch die Tür in den sonnbeschienenen Garten hinaus.
»Ich habe dich,« sagte er. »Es darf nicht anders
werden.«
Sie wiegte schweigend einigemal den Kopf; dann machte sie sich
los und drängte ihn gegen die Tür. »Geh nun!«
sagte sie. »Ich komme bald; ich laß dich nicht
allein.«
Er faßte ihr zartes Gesichtchen in seine Hände und
küßte sie. Dann ging er zur Tür hinaus und
seitwärts den Steig hinauf; an dem Ligusterzaun entlang, der
das tiefere Flußufer von dem Garten trennte. So, während
seine Augen dem unaufhaltsamen Vorüberströmen des Wassers
folgten, gelangte er an einen Platz, wo das marmorne Bild einer
Flora inmitten sauber geschorener Buchsbaumarabesken stand. Die
zwischen den Schnörkeln eingelegten Porzellanscherben und
Glaskorallenschnüre leuchteten zierlich aus dem Grün
hervor; ein scharfes Arom erfüllte die Luft, untermischt
zuweilen mit dem Duft der Provinzrosen, die hier zu Ende des
Steiges an der Gartenmauer standen. In der Ecke zwischen diesem und
dem Ligusterzaun war eine Laube, tief verschattet von wucherndem
Geißblatt. Der Kapitän schnallte seinen Degen ab und
setzte sich auf die kleine Bank. Dann begann er, mit der Spitze
seines Rohrstocks einen Buchstaben um den andern in den Boden zu
zeichnen, die er immer wieder, als könne ein Geheimnis durch
sie verraten werden, bis auf den letzten Zug zerstörte. So
trieb er es eine Zeitlang, bis seine Augen an dem Schatten einer
Geißblattranke haften blieben, an deren Ende er die feinen
Röhren der Blüte deutlich zu erkennen vermochte. Bald im
längeren Betrachten bemerkte er daran den Schatten eines
Lebendigen, der langsam an dem Stengel hinaufkroch. Er sah dem eine
Weile zu; dann aber stand er auf und blickte über sich in das
Gewirr der Ranken, um die gefährdete Blüte zu entdecken
und das Ungeziefer herunterzuschlagen. Aber die Sonnenstrahlen
brachen sich zwischen den Blättern und blendeten ihn; er
mußte die Augen abwenden. Als er sich wieder auf die
Bank gesetzt hatte, sah er wie zuvor die Ranke scharf und deutlich
auf dem sonnigen Boden liegen; nur zwischen den schlanken Kelchen
der Schattenblüte haftete jetzt eine dunkle Masse, die von
Zeit zu Zeit durch zuckende Bewegungen eine emsige tierische
Tätigkeit verriet. Er wußte nicht, wie es ihn
überkam, er stieß nach dem arbeitenden Klumpen mit
seinem Rohrstock; aber über ihm ging der Sommerwind durch das
Gezweige, und die Schatten huschten ineinander und entwischten ihm.
Er wurde eifrig; er spreizte die Knie auseinander und wollte eben
zu einem neuen Stoße ausholen; da trat die Spitze eines
seidenen Mädchenschuhs ihm in die Sonne.
Er blickte auf, Franziska stand vor ihm, die Feder hinterm Ohr,
deren weiße Fahne wie ein Taubenfittig von dem gepuderten
Köpfchen abstand. Sie lachte eine ganze Weile; unhörbar
erst, man sah es nur. Er lehnte sich zurück und blickte sie
voll Entzücken an; sie lachte so leicht, so mühelos, es
lief über sie hin wie ein Windhauch über den See; so
lachte niemand anders.
»Was treibst du da!« rief sie endlich.
»Dummes Zeug, Fränzchen; ich scharmutziere mit den
Schatten.«
»Das kannst du bleiben lassen.«
Er wollte ihre beiden Hände fassen; sie aber, die in diesem
Augenblick sich nach der Gartenmauer umgesehen, zog ein Messerchen
aus ihrer Tasche und schnitt damit die aufgeblühten Rosen aus
den Büschen. »Ich werde Potpourri machen auf den
Abend,« sagte sie, während sie die Rosen an der Erde
sorgfältig zu einem Häuflein zusammenlegte.
Er sah geduldig zu; er wußte schon, man mußte sie
gewähren lassen.
»Und nun?« fragte er, nachdem sie das Messer wieder
eingeschlagen und in den Schlitz ihrer Robe hatte gleiten
lassen.
»Nun? Konstantin! - Beisammen sein und die
Stunden schlagen hören.« — Und so geschah es.
— Vor ihnen drüben in dem Zitronenbirnbaum flog der
Buchfink ab und zu, und sie hörten tief im Laube das Kreischen
der Nestlinge; dann wieder, ihnen selber kaum bewußt, drang
das Schluchzen des unterhalb fließenden Wassers an ihr Ohr;
mitunter sank eine Kaprifolienblüte zu ihren Füßen;
von Viertelstunde zu Viertelstunde schlug drüben im Hause die
Amsterdamer Spieluhr. Es wurde ganz stille zwischen ihnen. Aber der
Drang, den geliebten Namen leibhaftig vor sich ausgesprochen zu
hören, überkam den jungen Mann. —
»Fränzchen!« sagte er halblaut.
»Konstantin!«
Und als würde er nach der langen Stille durch ihre Stimme
überrascht und ihm erst jetzt das Geheimnis ihres Klanges
offenbar, sagte er: »Du solltest singen,
Fränzchen!«
Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, das taugt
für Bürgermädchen nicht!«
Er schwieg einen Augenblick; dann faßte er ihre Hand und
sagte: »Sprich nicht so! auch nicht im Scherz. Du hattest ja
schon Lektionen beim Kantor. Was ist es denn?«
Sie sah ihn ernsthaft an; bald aber brach ein lustiger Glanz aus
ihren Augen. »Nein,« rief sie, »schau nicht so
finster! Ich will's dir sagen — ich rechne zu gut!«
Er lachte, und sie lachte mit. »Bist du mir aber auch zu
klug, Franziska?«
»Vielleicht!« sagte sie, — und ihre Stimme
erhielt plötzlich einen tiefen, herzlichen Klang, als sie es
sagte, — »du weißt noch gar nicht, wie! Als du
erst hier in die Stadt versetzt warst und dann zu meinem Bruder
Fritz ins Haus kamst, war ich ein kleines Mädchen, das noch
zwei volle Schuljahre vor sich hatte.
Nachmittags, wenn ich nach Haus gekommen, schlich ich mich öfters in den Saal und stellte mich daneben, wenn ihr euch im Rapieren übtet. Aber du wolltest keine Notiz von mir nehmen. Einmal sogar, als deine Klinge mir in die Schürze fuhr, sagtest du: ›Setz dich ins Fenster, Kind‹. Du weißt wohl nicht, was das für böse Worte waren! - Nun aber begann ich auf allerlei Listen zu sinnen. Wenn Nachbarskinder bei mir waren, suchte ich dich durch eins der andren Mädchen - ich selber hätte es nicht getan - zur Teilnahme an unsren Spielen zu veranlassen; und wenn du dann in unsren Reihen standest,«
Nachmittags, wenn ich nach Haus gekommen, schlich ich mich öfters in den Saal und stellte mich daneben, wenn ihr euch im Rapieren übtet. Aber du wolltest keine Notiz von mir nehmen. Einmal sogar, als deine Klinge mir in die Schürze fuhr, sagtest du: ›Setz dich ins Fenster, Kind‹. Du weißt wohl nicht, was das für böse Worte waren! - Nun aber begann ich auf allerlei Listen zu sinnen. Wenn Nachbarskinder bei mir waren, suchte ich dich durch eins der andren Mädchen - ich selber hätte es nicht getan - zur Teilnahme an unsren Spielen zu veranlassen; und wenn du dann in unsren Reihen standest,«
»Nun, Fränzchen!«
»Dann lief ich so oft an dir vorüber, bis du mich
endlich doch an meinem weißen Kleidchen haschen
mußtest.«
Sie war dunkelrot geworden. Er legte seine Finger zwischen ihre
und hielt sie fest umschlossen. Nach einer Weile sah sie
schüchtern zu ihm auf und fragte: »Hast du denn nichts
gemerkt?«
»Doch; endlich!« sagte er, »du bist ja endlich
groß geworden.«
— »Und dann? — Wie kam es denn mit
dir?«
Er sah sie an, als müsse er ihr Antlitz befragen, ob er
reden dürfe. »Wer weiß,« sagte er, »ob
es je gekommen wäre! Aber die Frau Syndika sagte einmal«
»So sprich doch, Konstantin!«
— »Nein; mir zulieb! Geh erst einmal den Steig
hinauf!«
Sie tat es. Nachdem sie die abgeschnittenen Rosen in ihre
Schürze gesammelt, ging sie, ohne ein Wort zu sagen, nach dem
Gartenhause und trat bald darauf mit leeren Händen wieder aus
der Tür. — Sie hatte zierliche Füße und einen
behenden Tritt; aber sie stieß im Gehen, unmerklich fast, mit
den Knien gegen das Gewand. Der junge Mann folgte dieser Bewegung,
so wenig schön sie sein mochte, mit den glücklichsten
Augen; er merkte es kaum, als die Geliebte jetzt wieder vor ihm
stand. »Nun,« fragte sie, »was sagte die Frau
Syndika? oder war es eine von ihren sieben
Töchtern?«
»Sie sagte« — und er ließ seine Augen
langsam an ihrer feinen Gestalt hinaufgleiten — »sie
sagte: ›Die Mamsell Fränzchen ist eine angenehme
Person; aber gehen tut sie wie eine Bachstelze!‹«
»O du!« und Fränzchen legte die
Hände auf den Rücken ineinander und sah freudestrahlend
auf ihn nieder.
»Seitdem,« fuhr er fort, »konnte ich's nicht
wieder von mir bringen; überall habe ich müssen dich vor
mir gehen und hantieren sehen.«
Sie stand noch immer vor ihm, schweigend und unbeweglich.
»Was hast du?« fragte er, »du siehst so stolz
und vornehm aus!«
Sie sagte: »Es ist das Glück!«
— »O! eine Welt voll!« Und er zog sie mit
beiden Armen zu sich nieder.
2.
Es war eine andre Zeit; wohl über sechzig Jahre
später. Aber es war wieder an einem Sommernachmittage, und die
Rosen blühten auch wie dazumal. In dem oberen Zimmer
nach dem Garten hinaus saß eine alte Frau. Auf ihrem
Schoße, den sie mit einem weißen Schnupftuch
überbreitet hatte, hielt sie eine dampfende Kaffeetasse; doch
schien sie heute des gewohnten Trankes zu vergessen; denn nur
selten und wie in Gedanken führte sie die Tasse an den
Mund.
Nicht weit davon, dem Sofa gegenüber, saß ihr Enkel,
ein Mann über die Zeit der vollsten Jugend noch kaum hinaus.
Er stützte seinen Kopf in die Hand und blickte nach den
kleinen Familienbildern, die in silberner Fassung über dem
Sofa hingen. Der Großvater, die Urgroßeltern, Tante
Fränzchen, des Großvaters Schwester, sie waren
lange tot, er hatte sie nicht gekannt. Nun ließ er seine
Augen von einem zum andern gehen, wie er schon oft getan, wenn er
mit der Großmutter in der stillen Nachmittagsstunde
beisammensaß. Auf Tante Fränzchens Bilde schienen die
Farben am wenigsten verblichen, obwohl sie vor den Eltern und lange
vor dem Bruder gestorben war. Die rote Rose in der weißen
Puderfrisur war noch wie frisch gepflückt; auf der
amarantfarbenen Kontusche zeichnete sich deutlich ein blaues
Medaillon, das an einem dunklen Bande vom Halse auf die Brust
herabhing. Der Enkel konnte nicht die Augen wenden von diesen
kargen Spuren eines dahingegangenen Lebens; er blickte fast mit
Inbrunst in das feine blasse Gesichtchen. Der Garten, wie er ihn
als Knabe noch gesehen, trat vor seine Phantasie; er sah sie darin
wandeln zwischen den seltsamen Buchsbaumzügen; er hörte
das Knistern ihres Schuhes auf den Muschelsteigen, das Rauschen
ihres Kleides. Aber die Gestalt, die er so heraufbeschworen, blieb
allein, gebannt in dem grünen Fleckchen, das vor seinem
inneren Auge stand. Was sich um die Lebende einst mochte bewegt
haben: ihre Gespielinnen, die Töchter aus den alten finsteren
Patrizierhäusern, der Freund, der nach ihr spähte
zwischen den Büschen des Gartens, hatte er keine Macht ihr zu
gesellen. »Wer weiß von ihnen!« sprach er vor
sich hin; das kleine Medaillon war ihm wie ein Siegel auf der Brust
des vor so langer Zeit verstorbenen Mädchens.
Die Großmutter setzte die Tasse auf die Fensterbank; sie
hatte ihn sprechen hören. »Bist du in unsrer Gruft
gewesen, Martin?« fragte sie, »und sind die Reparaturen
bald zustande?«
»Ja, Großmutter.«
— »Es muß alles in Ordnung sein; wir haben in
unsrer Familie immer auf Reputation gehalten.«
»Es wird alles in Ordnung kommen,« sagte der Enkel,
»aber es ist ein Sarg eingestürzt; das hat ein Aufschub
gegeben.«
— »Sind denn die Eisenstangen abgerostet?«
»Das nicht. Er stand zu hinterst neben dem Gitter; das
Wasser ist darauf getropft.«
— »Das muß Tante Fränzchen sein,«
sagte die Großmutter nach einigem Besinnen. —
»Lag denn ein Kranz darauf?«
Martin sah die Großmutter an. »Ein Kranz ? Ich weiß es nicht; er mag auch wohl vergangen
sein.«
Die Greisin nickte langsam mit dem Kopf und sah eine Weile
schweigend vor sich hin. »Ja, ja!« sagte sie dann, fast
wie beschämt, »es ist nun freilich schon über
fünfzig Jahre her, daß sie begraben wurde. Ihr
Fächer, der mit Schmelz und Flitter, liegt noch drüben im
Saal in der Spiegelkommode; ich habe ihn aber gestern nicht finden
können.«
Der Enkel vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken.
Die Großmutter bemerkte es und sagte: »Deine Braut, der
Wildfang, ist mir wohl wieder über meinem Kram gewesen. Ihr
sollt mir das nicht zu euren Possen gebrauchen!«
»Aber, Großmutter, wie sie neulich abends in deinem
Reifrock durch den Garten promenierte — ihr wäret alle
eifersüchtig geworden, wenn sie anno Neunzig so in eure Laube
getreten wäre.«
— »Du bist ein eitler Junge, Martin!«
»Freilich,« fuhr er fort, »die fremden braunen
Augen hat sie nun einmal; die kommen jetzt ohne Gnade in die
Familie!«
— »Nun, nun!« sagte die Großmutter,
»die braunen Augen sind schon gut, wenn nur ein gutes Herz
herausschaut. Aber den Fächer soll sie mir in Ehren
halten! Tante Fränzchen trug ihn auf deines Großvaters
Hochzeit, und mich dünkt, ich sehe sie noch mit der
dunkelroten Rose in den Haaren. Nachher hat sie dann nicht gar
lange mehr gelebt. — Es war eine große Liebe zwischen
den Geschwistern; sie hat ihrem Bruder dazumalen auch ihr
Porträt geschenkt, und dein Großvater hat es, so lange
er lebte, bei sich in seiner Schreibschatulle gehabt. —
Später hingen wir es denn hierher, zu ihm und zu den
Eltern.«
»Sie ist wohl schön gewesen, Großmutter?«
fragte der Enkel, indem er nach dem Bilde hinüberblickte.
Die Großmutter schien ihn nur halb zu hören.
»Sie war ein kluges Frauenzimmer,« sagte sie,
»und sehr geschickt in der Feder. Während dein
Großvater in Marseille war, und auch wohl später noch,
hat sie dem alten Vater alle Jahre die Klosterrechnungen
ausgeschrieben; denn er war Klostervorsteher und dann
Ratsverwalter, ehe er zweiter Bürgermeister wurde. — Sie
hatte auch eine schlanke, wohlproportionierte Figur, und dein
Großvater pflegte sie wohl mit ihren feinen Händen zu
necken; aber heiraten hat sie niemalen wollen.«
»Gab es denn derzeit keine jungen Männer in der
Stadt, oder haben ihr die Freier nicht gefallen?«
»Das,« sagte die Großmutter, indem sie mit den
Händen über ihren Schoß strich, »das, mein
liebes Kind, hat sie mit sich in ihr Grab genommen. Man
sagte wohl, sie hab' einmal einen leiden können; Gott
mag es wissen! Es war ein Freund deines Großvaters und ein
reputierlicher Mensch. Aber er war Offizier und Edelmann; und dein
Urgroßvater war immer sehr gegen das Militär.
Auf deines Großvaters Hochzeit tanzten sie miteinander, und
ich erinnere mich wohl, sie machten ein schönes Paar zusammen.
Unter den Leuten nannten sie ihn nur den Franzosen; denn er hatte
rabenschwarzes Haar, das er nur selten pudern ließ, wenn er
nicht just im Dienste war. Es ist aber das letztemal gewesen; er
nahm bald darauf seinen Abschied und kaufte sich weit von hier
einen kleinen Landsitz, wo er noch einige Zeit nach deines
Großvaters Tode mit einer unverheirateten Schwester gelebt
hat.«
Der Enkel unterbrach sie. »Es muß damals ein andres
Ding gewesen sein um die Herzensgeschichten,« sagte er
nachdenklich.
»Ein andres Ding?« wiederholte die Großmutter,
indem sie ihrem Körper für einen Augenblick die Haltung
der Jugend wiederzugeben suchte. »Wir hatten so gut ein Herz
wie ihr und haben unser Teil dafür leiden müssen. Aber,« fuhr sie beruhigter fort, »was wißt ihr
junges Volk auch, wie es dazumalen war. Ihr habt die harte Hand
nicht über euch gefühlt; ihr wißt es nicht, wie
mäuschenstille wir bei unsren Spielen wurden, wenn wir den
Rohrstock unsres Vaters nur von ferne auf den Steinen
hörten.«
Martin sprang auf und faßte die Hände der
Großmutter.
»Nun,« sagte sie, »es mag vielleicht besser
sein, so wie es jetzo ist. Ihr seid glückliche Kinder; aber
deines Großvaters Schwester lebte in den alten Tagen.
Seit wir nach unsrer Hochzeit das untere Stockwerk hier im Hause
bewohnten, kam sie gern zu uns herunter; manchmal auch saß
sie stundenlang bei deinem Großvater im Kontor und half ihm
bei seinen Schreibereien. Im letzten Jahre, seit ihre Kräfte
abzunehmen anfingen, fand ich sie wohl zuweilen über ihren
Rechnungsbüchern eingeschlafen. Dein Großvater saß
dann stille fortarbeitend ihr gegenüber an der andren Seite
des Pultes, und ich erinnere mich noch gar wohl an das trauervolle
Lächeln, womit er, wenn ich zu ihnen eintrat, mich auf die
schlafende Schwester aufmerksam zu machen pflegte.«
Die Erzählerin schwieg eine Weile und blickte mit weit
geöffneten Augen vor sich hin, während sie mechanisch
ihre Tasse schwenkte und mit Behutsamkeit die Neige
ausschlürfte. Dann, nachdem sie die Tasse neben sich auf die
Fensterbank gestellt hatte, sprach sie langsam weiter: »Unsre
alte Anne konnte nicht genug davon erzählen, wie lustig und
umgänglich ihre Mamsell in jüngeren Jahren gewesen sei;
auch war sie die einzige von den Kindern, die bei Gelegenheit mit
dem Vater ein Wort zu reden wagte. So lange ich sie
gekannt, ist sie immer still und für sich gewesen; zumal, wenn
der Vater im Zimmer war, sprach sie nur das Notwendige, und wenn
sie just gefragt wurde. Was da passiert sein mag dein
Großvater hat nie davon gesprochen: nun sind sie alle
längst begraben.«
Der Enkel betrachtete das Bild des Urgroßvaters, und seine
Augen blieben an den strengen Linien haften, die den starken Mund
von den Wangen schieden. »Es muß ein harter Mann
gewesen sein,« sagte er.
Die Großmutter nickte. »Er hat seine Söhne bis
in ihr dreißigstes Jahr erzogen,« sagte sie. »Sie
haben darum bis in ihr spätes Alter auch niemals so recht
einen eignen Willen gehabt. Dein Großvater hat es oft genug
beklagt. Er wäre am liebsten ein Gelehrter geworden, wie du es
bist; aber die Firma verlangte einen Nachfolger. Es waren damals
eben andre Zeiten.«
Martin nahm das Bild des Großvaters von der Wand.
»Das sind milde Augen,« sagte er.
Die Großmutter streckte die Hände aus, als wollte sie
aus ihrem Lehnstuhl aufstehen; dann ließ sie sie langsam
ineinandersinken. »Jawohl, mein Kind!« sagte sie,
»das waren milde Augen! Er hatte keine Feinde, - nur
einen mitunter - und das war er selber.«
Die alte Haushälterin trat herein. »Es ist einer von
den Maurerleuten draußen; er wünscht den Herrn zu
sprechen.«
»Geh hinaus, Martin!« sagte die Großmutter.
»Was ist es denn, Anne?«
»Sie haben etwas in der Gruft gefunden,« erwiderte
die Alte. »Ein Schaustück oder so etwas. Die Särge
der alten Herrschaften wollen schon nicht mehr halten.«
Die Großmutter neigte ein wenig das Haupt; dann blickte
sie in der Stube umher und sagte: »Mach das Fenster zu, Anne!
Es duftet mir so stark; die Sonne scheint draußen auf die
Buchsbaumrabatten.«
»Die Frau hat wieder ihre Gedanken!« murmelte die
alte Dienerin; denn der Buchsbaum war vor über zwanzig Jahren
fortgenommen, und mit den Glaskorallenschnüren hatten derzeit
die Knaben Pferd gespielt. Aber sie sagte nichts dergleichen,
sondern schloß, wie ihr geheißen war, das Fenster.
Danach stand sie noch eine Weile und sah durch die Zweige des hohen
Ahornbaums nach dem alten Lusthäuschen hinüber, wo hinaus
sie vor Zeiten ihren jungen Herrschaften so oft das Kaffeegeschirr
hatte bringen müssen, und wo die kranke Mamsell so manchen
Nachmittag gesessen hatte.
Nun öffnete sich die Tür, und Martin trat hastigen
Schrittes herein. »Du hattest recht!« sagte er, indem
er Tante Fränzchens Bild von der Wand nahm und es an dem
silbernen Schleifchen der Großmutter vor die Augen hielt.
»Der Maler durfte nur die Kapsel des Medaillons malen, der
offne Kristall hat auf ihrem Herzen gelegen. Ich habe oft genug
gefragt, was er verberge. Nun weiß ich es; denn ich habe
Macht, es umzuwenden.« Und er legte ein verstäubtes
Kleinod auf die Fensterbank, das, des grünen Rostes
ungeachtet, der es überzogen hatte, als das Original zu der
Zeichnung auf Tante Fränzchens Bilde nicht zu verkennen war.
Das Sonnenlicht brach durch den trüben Kristall und
beleuchtete im Innern eine dunkle Haarlocke.
Die Großmutter setzte schweigend ihre Brille auf; dann
ergriff sie mit zitternden Händen das kleine Medaillon und
neigte tief das Haupt darüber. Endlich nach einer ganzen
Weile, wo in dem stillen Zimmer nur das unruhigere Atmen der alten
Frau vernehmlich war, legte sie es behutsam von sich und sagte:
»Laß es wieder an seinen Ort bringen, Martin; es taugt
nicht in die Sonne. - Und,« fügte sie hinzu, indem
sie das Tuch auf ihrem Schoße sorgsam zusammenlegte,
»auf den Abend bring mir deine Braut! Es muß in den
alten Schubladen noch irgendwo ein Hochzeitskettlein stecken; - wir wollen proben, wie es zu den braunen Augen
läßt.«
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