Franz Kafka 1883 - 1924
Franz Kafka (jüdischer Name: אנשיל, Anschel; * 3. Juli 1883 in Prag, Österreich-Ungarn; † 3. Juni 1924 in Klosterneuburg-Kierling, Österreich) war ein deutschsprachiger Schriftsteller. Sein Hauptwerk bilden neben drei Romanfragmenten (Der Process, Das Schloss und Der Verschollene) zahlreiche Erzählungen.
Kafkas Werke wurden zum größeren Teil erst nach seinem Tod und gegen seine letztwillige Verfügung von Max Brod veröffentlicht, einem engen Freund und Vertrauten, den Kafka als Nachlassverwalter bestimmt hatte. Kafkas Werke zählen unbestritten zum Kanon der Weltliteratur.
EIN LANDARZT
Ich war in großer Verlegenheit:
eine dringende Reise stand
mir bevor; ein Schwerkranker
wartete auf mich in einem zehn
Meilen entfernten Dorfe; starkes
Schneegestöber füllte den
weiten Raum zwischen mir und
ihm; einen Wagen hatte ich,
leicht, großräderig, ganz wie er
für unsere Landstraßen taugt;
in den Pelz gepackt, die Instrumententasche
in der Hand, stand
ich reisefertig schon auf dem
Hofe; aber das Pferd fehlte, das
Pferd. Mein eigenes Pferd war
in der letzten Nacht, infolge der
Überanstrengung in diesem
eisigen Winter, verendet; mein
Dienstmädchen lief jetzt im
Dorf umher, um ein Pferd geliehen
zu bekommen; aber es
war aussichtslos, ich wußte es,
und immer mehr vom Schnee
überhäuft, immer unbeweglicher
werdend, stand ich zwecklos
da. Am Tor erschien das Mädchen,
allein, schwenkte die Laterne;
natürlich, wer leiht jetzt
sein Pferd her zu solcher Fahrt ?
Ich durchmaß noch einmal den
Hof; ich fand keine Möglichkeit;
zerstreut, gequält stieß ich mit
dem Fuß an die brüchige Tür
des schon seit Jahren unbenützten
Schweinestalles. Sie öffnete
sich und klappte in den Angeln
auf und zu. Wärme und Geruch
wie von Pferden kam hervor.
Eine trübe Stallaterne schwankte
drin an einem Seil. Ein Mann,
zusammengekauert in dem
niedrigen Verschlag, zeigte sein
offenes blauäugiges Gesicht.
»Soll ich anspannen ?« fragte
er, auf allen Vieren hervorkriechend.
Ich wußte nichts zu sagen
und beugte mich nur, um
zu sehen, was es noch in dem
Stalle gab. Das Dienstmädchen
stand neben mir. »Man weiß
nicht, was für Dinge man im
eigenen Hause vorrätig hat,«
sagte es, und wir beide lachten.
»Hollah, Bruder, hollah, Schwester!«
rief der Pferdeknecht, und
zwei Pferde, mächtige flankenstarke
Tiere schoben sich hintereinander,
die Beine eng am Leib,
die wohlgeformten Köpfe wie
Kamele senkend, nur durch die
Kraft der Wendungen ihres
Rumpfes aus dem Türloch, das
sie restlos ausfüllten. Aber gleich
standen sie aufrecht, hochbeinig,
mit dicht ausdampfendem
Körper. »Hilf ihm,« sagte ich,
und das willige Mädchen eilte,
dem Knecht das Geschirr des
Wagens zu reichen. Doch kaum
war es bei ihm, umfaßt es der
Knecht und schlägt sein Gesicht
an ihres. Es schreit auf
und flüchtet sich zu mir; rot
eingedrückt sind zwei Zahnreihen
in des Mädchens Wange.
»Du Vieh,« schreie ich wütend,
»willst du die Peitsche ?«, besinne
mich aber gleich, daß es ein
Fremder ist; daß ich nicht weiß,
woher er kommt, und daß er
mir freiwillig aushilft, wo alle
andern versagen. Als wisse er von
meinen Gedanken, nimmt er
meine Drohung nicht übel, sondern
wendet sich nur einmal, immer
mit den Pferden beschäftigt,
nach mir um. »Steigt ein,« sagt
er dann, und tatsächlich: alles ist
bereit. Mit so schönem Gespann,
das merke ich, bin ich noch nie
gefahren und ich steige fröhlich
ein. »Kutschieren werde aber
ich, du kennst nicht den Weg,«
sage ich. »Gewiß,« sagt er, »ich
fahre gar nicht mit, ich bleibe
bei Rosa.« »Nein,« schreit Rosa
und läuft im richtigen Vorgefühl
der Unabwendbarkeit ihres
Schicksals ins Haus; ich höre die
Türkette klirren, die sie vorlegt;
ich höre das Schloß einspringen;
ich sehe, wie sie überdies im
Flur und weiterjagend durch
die Zimmer alle Lichter verlöscht,
um sich unauffindbar zu
machen. »Du fährst mit,« sage
ich zu dem Knecht, »oder ich
verzichte auf die Fahrt, so dringend
sie auch ist. Es fällt mir
nicht ein, dir für die Fahrt das
Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.«
»Munter!« sagt er;
klatscht in die Hände; der Wagen
wird fortgerissen, wie Holz
in die Strömung; noch höre ich,
wie die Tür meines Hauses unter
dem Ansturm des Knechtes birst
und splittert, dann sind mir Augen
und Ohren von einem zu
allen Sinnen gleichmäßig dringenden
Sausen erfüllt. Aber auch
das nur einen Augenblick, denn,
als öffne sich unmittelbar vor
meinem Hoftor der Hof meines
Kranken, bin ich schon dort;
ruhig stehen die Pferde; der
Schneefall hat aufgehört; Mondlicht
ringsum; die Eltern des
Kranken eilen aus dem Haus;
seine Schwester hinter ihnen;
man hebt mich fast aus dem
Wagen; den verwirrten Reden
entnehme ich nichts; im Krankenzimmer
ist die Luft kaum
atembar; der vernachlässigte
Herdofen raucht; ich werde das
Fenster aufstoßen; zuerst aber
will ich den Kranken sehen. Mager,
ohne Fieber, nicht kalt, nicht
warm, mit leeren Augen, ohne
Hemd hebt sich der Junge unter
dem Federbett, hängt sich
an meinen Hals, flüstert mir ins
Ohr: »Doktor, laß mich sterben.«
Ich sehe mich um; niemand hat
es gehört; die Eltern stehen
stumm vorgebeugt und erwarten
mein Urteil; die Schwester
hat einen Stuhl für meine Handtasche
gebracht. Ich öffne die
Tasche und suche unter meinen
Instrumenten; der Junge tastet
immerfort aus dem Bett nach
mir hin, um mich an seine Bitte
zu erinnern; ich fasse eine Pinzette,
prüfe sie im Kerzenlicht
und lege sie wieder hin. »Ja,«
denke ich lästernd, »in solchen
Fällen helfen die Götter, schicken
das fehlende Pferd, fügen
der Eile wegen noch ein zweites
hinzu, spenden zum Übermaß
noch den Pferdeknecht –«
Jetzt erst fällt mir wieder Rosa
ein; was tue ich, wie rette ich
sie, wie ziehe ich sie unter diesem
Pferdeknecht hervor, zehn
Meilen von ihr entfernt, unbeherrschbare
Pferde vor meinem
Wagen ? Diese Pferde, die jetzt
die Riemen irgendwie gelockert
haben; die Fenster, ich weiß
nicht wie, von außen aufstoßen;
jedes durch ein Fenster den Kopf
stecken und, unbeirrt durch den
Aufschrei der Familie, den Kranken
betrachten. »Ich fahre gleich
wieder zurück,« denke ich, als
forderten mich die Pferde zur
Reise auf, aber ich dulde es, daß
die Schwester, die mich durch
die Hitze betäubt glaubt, den
Pelz mir abnimmt. Ein Glas Rum
wird mir bereitgestellt, der Alte
klopft mir auf die Schulter, die
Hingabe seines Schatzes rechtfertigt
diese Vertraulichkeit. Ich
schüttle den Kopf; in dem engen
Denkkreis des Alten würde mir
übel; nur aus diesem Grunde
lehne ich es ab zu trinken. Die
Mutter steht am Bett und lockt
mich hin; ich folge und lege,
während ein Pferd laut zur Zimmerdecke
wiehert, den Kopf an
die Brust des Jungen, der unter
meinem nassen Bart erschauert.
Es bestätigt sich, was ich weiß:
der Junge ist gesund, ein wenig
schlecht durchblutet, von der
sorgenden Mutter mit Kaffee
durchtränkt, aber gesund und
am besten mit einem Stoß aus
dem Bett zu treiben. Ich bin
kein Weltverbesserer und lasse
ihn liegen. Ich bin vom Bezirk
angestellt und tue meine
Pflicht bis zum Rand, bis dorthin,
wo es fast zu viel wird.
Schlecht bezahlt, bin ich doch
freigebig und hilfsbereit gegenüber
den Armen. Noch für Rosa
muß ich sorgen, dann mag der
Junge recht haben und auch ich
will sterben. Was tue ich hier in
diesem endlosen Winter! Mein
Pferd ist verendet, und da ist niemand
im Dorf, der mir seines
leiht. Aus dem Schweinestall
muß ich mein Gespann ziehen;
wären es nicht zufällig Pferde,
müßte ich mit Säuen fahren. So
ist es. Und ich nicke der Familie
zu. Sie wissen nichts davon, und
wenn sie es wüßten, würden sie
es nicht glauben. Rezepte schreiben
ist leicht, aber im übrigen
sich mit den Leuten verständigen,
ist schwer. Nun, hier wäre
also mein Besuch zu Ende, man
hat mich wieder einmal unnötig
bemüht, daran bin ich gewöhnt,
mit Hilfe meiner Nachtglocke
martert mich der ganze Bezirk,
aber daß ich diesmal auch noch
Rosa hingeben mußte, dieses
schöne Mädchen, das jahrelang,
von mir kaum beachtet, in meinem
Hause lebte – dieses Opfer
ist zu groß, und ich muß es mir
mit Spitzfindigkeiten aushilfsweise
in meinem Kopf irgendwie
zurechtlegen, um nicht
auf diese Familie loszufahren,
die mir ja beim besten Willen
Rosa nicht zurückgeben kann.
Als ich aber meine Handtasche
schließe und nach meinem Pelz
winke, die Familie beisammensteht,
der Vater schnuppernd
über dem Rumglas in seiner
Hand, die Mutter, von mir wahrscheinlich
enttäuscht – ja, was
erwartet denn das Volk? – tränenvoll
in die Lippen beißend
und die Schwester ein schwer
blutiges Handtuch schwenkend,
bin ich irgendwie bereit,
unter Umständen zuzugeben,
daß der Junge doch vielleicht
krank ist. Ich gehe zu ihm, er
lächelt mir entgegen, als brächte
ich ihm etwa die allerstärkste
Suppe – ach, jetzt wiehern beide
Pferde; der Lärm soll wohl,
höhern Orts angeordnet, die
Untersuchung erleichtern –
und nun finde ich: ja, der Junge
ist krank. In seiner rechten Seite,
in der Hüftengegend hat sich
eine handtellergroße Wunde
aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen,
dunkel in der Tiefe,
hellwerdend zu den Rändern,
zartkörnig, mit ungleichmäßig
sich aufsammelndem Blut, offen
wie ein Bergwerk obertags. So
aus der Entfernung. In der Nähe
zeigt sich noch eine Erschwerung.
Wer kann das ansehen
ohne leise zu pfeifen? Würmer,
an Stärke und Länge meinem
kleinen Finger gleich, rosig aus
eigenem und außerdem blutbespritzt,
winden sich, im Innern
der Wunde festgehalten, mit
weißen Köpfchen, mit vielen
Beinchen ans Licht. Armer
Junge, dir ist nicht zu helfen. Ich
habe deine große Wunde aufgefunden;
an dieser Blume in
deiner Seite gehst du zugrunde.
Die Familie ist glücklich, sie sieht
mich in Tätigkeit; die Schwester
sagt’s der Mutter, die Mutter dem
Vater, der Vater einigen Gästen,
die auf den Fußspitzen, mit ausgestreckten
Armen balancierend,
durch den Mondschein
der offenen Tür hereinkommen.
»Wirst du mich retten?« flüstert
schluchzend der Junge, ganz geblendet
durch das Leben in
seiner Wunde. So sind die Leute
in meiner Gegend. Immer
das Unmögliche vom Arzt verlangen.
Den alten Glauben haben
sie verloren; der Pfarrer
sitzt zu Hause und zerzupft die
Meßgewänder, eines nach dem
andern; aber der Arzt soll alles
leisten mit seiner zarten chirurgischen
Hand. Nun, wie es beliebt:
ich habe mich nicht angeboten;
verbraucht ihr mich zu
heiligen Zwecken, lasse ich auch
das mit mir geschehen; was will
ich Besseres, alter Landarzt, meines
Dienstmädchens beraubt !
Und sie kommen, die Familie
und die Dorfältesten, und entkleiden
mich; ein Schulchor mit
dem Lehrer an der Spitze steht
vor dem Haus und singt eine
äußerst einfache Melodie auf
den Text:
»Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt.«
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt.«
Dann bin ich entkleidet und
sehe, die Finger im Barte, mit
geneigtem Kopf die Leute ruhig
an. Ich bin durchaus gefaßt und
allen überlegen und bleibe es
auch, trotzdem es mir nichts
hilft, denn jetzt nehmen sie mich
beim Kopf und bei den Füßen
und tragen mich ins Bett. Zur
Mauer, an die Seite der Wunde
legen sie mich. Dann gehen alle
aus der Stube; die Tür wird zugemacht;
der Gesang verstummt;
Wolken treten vor den Mond;
warm liegt das Bettzeug um
mich; schattenhaft schwanken
die Pferdeköpfe in den Fensterlöchern.
»Weißt du,« höre ich,
mir ins Ohr gesagt, »mein Vertrauen
zu dir ist sehr gering. Du
bist ja auch nur irgendwo abgeschüttelt,
kommst nicht auf
eigenen Füßen. Statt zu helfen,
engst du mir mein Sterbebett
ein. Am liebsten kratzte ich dir
die Augen aus.« »Richtig,« sage
ich, »es ist eine Schmach. Nun
bin ich aber Arzt. Was soll ich
tun? Glaube mir, es wird auch
mir nicht leicht.« »Mit dieser
Entschuldigung soll ich mich
begnügen? Ach, ich muß wohl.
Immer muß ich mich begnügen.
Mit einer schönen Wunde kam
ich auf die Welt; das war meine
ganze Ausstattung.« »Junger
Freund,« sage ich, »dein Fehler
ist: du hast keinen Überblick.
Ich, der ich schon in allen Krankenstuben,
weit und breit, gewesen
bin, sage dir: deine Wunde
ist so übel nicht. Im spitzen
Winkel mit zwei Hieben der
Hacke geschaffen. Viele bieten
ihre Seite an und hören kaum
die Hacke im Forst, geschweige
denn, daß sie ihnen näher
kommt.« »Ist es wirklich so oder
täuschest du mich im Fieber?«
»Es ist wirklich so, nimm das
Ehrenwort eines Amtsarztes mit
hinüber.« Und er nahm’s und
wurde still. Aber jetzt war es
Zeit, an meine Rettung zu denken.
Noch standen treu die Pferde
an ihren Plätzen. Kleider,
Pelz und Tasche waren schnell
zusammengerafft; mit dem Ankleiden
wollte ich mich nicht
aufhalten; beeilten sich die Pferde
wie auf der Herfahrt, sprang
ich ja gewissermaßen aus diesem
Bett in meines. Gehorsam zog
sich ein Pferd vom Fenster zurück;
ich warf den Ballen in den
Wagen; der Pelz flog zu weit,
nur mit einem Ärmel hielt er sich
an einem Haken fest. Gut genug.
Ich schwang mich aufs Pferd.
Die Riemen lose schleifend, ein
Pferd kaum mit dem andern
verbunden, der Wagen irrend
hinterher, der Pelz als letzter im
Schnee. »Munter!« sagte ich,
aber munter ging’s nicht; langsam
wie alte Männer zogen wir
durch die Schneewüste; lange
klang hinter uns der neue, aber
irrtümliche Gesang der Kinder:
»Freuet Euch, Ihr Patienten,
Der Arzt ist Euch ins Bett gelegt!«
Der Arzt ist Euch ins Bett gelegt!«
Niemals komme ich so nach
Hause; meine blühende Praxis
ist verloren; ein Nachfolger bestiehlt
mich, aber ohne Nutzen,
denn er kann mich nicht ersetzen;
in meinem Hause wütet
der ekle Pferdeknecht; Rosa ist
sein Opfer; ich will es nicht ausdenken.
Nackt, dem Froste dieses
unglückseligsten Zeitalters
ausgesetzt, mit irdischem Wagen,
unirdischen Pferden, treibe
ich mich alter Mann umher.
Mein Pelz hängt hinten am Wagen,
ich kann ihn aber nicht erreichen,
und keiner aus dem beweglichen
Gesindel der Patienten
rührt den Finger. Betrogen!
Betrogen! Einmal dem Fehlläuten
der Nachtglocke gefolgt
– es ist niemals gutzumachen.
No comments:
Post a Comment