Ernst Moritz Arndt 1769 - 1860
Ernst Moritz Arndt (* 26. Dezember 1769 in Groß Schoritz auf Rügen (von 1648 bis 1815 Teil Schwedens); † 29. Januar 1860 in Bonn, Preußen) war ein deutscher Schriftsteller, Historiker, Freiheitskämpfer und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Er widmete sich hauptsächlich der Mobilisierung gegen die Besatzung Deutschlands durch Napoleon. Er gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der Epoche der Freiheitskriege und wird sehr unterschiedlich beurteilt: Einige betonen seine demokratischen Gedanken und sehen ihn als deutschen Patrioten in turbulenten Zeiten, andere wiederum charakterisieren ihn als Nationalisten und heben vorhandene antisemitische Tendenzen in seinen Schriften hervor.
DER WOLF UND DIE NACHTIGALL
oder wie zwei arme Königskinder verwandelt und zuletzt nach vieler
Noth doch wieder zu Menschen geschaffen wurden.
In alten Zeiten, da es alles noch ganz anders war in der Welt als
jetzt, lebte ein König in Schottland, der hatte die schönste Königin
in allen Landen, von einer so seltenen Schönheit und Lieblichkeit,
daß sie weit und breit als die Allerschönste besungen und von
Dichtern und Erzählern der schottische Vogel Phönix zugenannt ward.
Diese schöne Königin gebahr dem Könige zwei Kindlein, einen Sohn und
eine Tochter, und starb dann in ihrer Jugend hin. Der König trauerte
viele Jahre um sie und konnte sie nie vergessen, sagte auch, er wolle
nimmer wieder heirathen. Aber der Menschen Sinn ist wankelmüthig und
kann sich auf sich selbst nicht verlassen; denn als viele Tage
vergangen und die Kinder schon groß waren, nahm er sich doch wieder
eine Frau. Diese Frau war sehr bös und eine schlimme Stiefmutter
gegen die Kinder des Königs. Es waren aber der Prinz und die
Prinzessin rechte Spiegel der Huld und Lieblichkeit, und der Haß der
Stiefmutter gegen die Kinder kam auch daher, daß die Leute, bei
welchen die verstorbene Königin in gutem Andenken stand, immer noch
von dieser sprachen, sie aber verschwiegen, und daß sie, wenn sie mit
der jungen Prinzessin erschien, gegen diese aufjauchzeten und riefen:
sie ist gut und schön, wie ihre Mutter war. Das verdroß sie, und sie
ergrimmte in sich und sann auf arge Tücke, barg aber ihr böses Herz
unter Freundlichkeit. Denn sie durfte sichs vor dem Könige nicht
merken lassen, daß sie den Kindern gram war, und das Volk würde sie
gesteinigt und zerrissen haben, wie sie ihnen ein Leides gethan hätte.
Die Prinzessin, des Königs Tochter, welche Aurora hieß, war nun
fünfzehn Jahre alt geworden und blühete wie eine Rose und war die
schönste Prinzessin weit und breit. Und es zogen viele Königssöhne
und Fürsten und Grafen her und buhlten um sie und begehrten sie zum
Gemal; sie aber sprach zu ihnen: mir gefällt die fröhliche und ledige
Jungfrauschaft besser, als alle Freier, und damit mußten sie wieder
hinreisen wo sie hergekommen waren. Endlich aber kam der Rechte: es
war ein Prinz aus Ostenland, ein gar schöner und stattlicher Herr.
Diesem verlobte sie sich mit Einwilligung des Königs und ihrer
Stiefmutter. Und schon war der Hochzeitkranz gewunden und die
Spieler zum Tanze bestellt, und alles Land war in Freude ob der
Vermälung der schönen Prinzessin Aurora. Aber die Stiefmutter dachte
ganz anders in ihrem Sinn, als sie sich gebehrdete, und sprach: Ich
will Spielleute bestellen, die sollen zu einem andern Tanze
aufspielen, und die Füße sollen anderswohin tanzen als ins Brautbett.
Denn sie sprach bei sich: Diese verdunkelt mich ganz und wird mich
noch mehr verdunkeln, und vor dieser Aurora muß meine Sonne
untergehen, zumal wenn sie einen so stattlichen Mann zum Gemal
bekommt und dem Könige ihrem Vater Enkel bringt; denn ich bin
unfruchtbar und kinderlos. Auch hängt das Volk ihr an und schreit
ihr nach, mich aber kennen sie nicht und wollen sie nicht kennen; und
doch bin ich die Königin: ja ich bin die Königin! und bald sollen sie
es alle wissen, daß ich es bin und nicht Aurora. Und sie sann nun
auf viele arge Listen Tag und Nacht hin und her, wie sie die
Prinzessin und ihren Bruder verderben wollte; aber es wollte ihr
keine einzige gelingen: denn sie waren zu gut bewacht und behütet von
den Dienern und Dienerinnen, die sie hatten. Diese sahen auf sie wie
auf ihren Augapfel und wichen Tag und Nacht nicht von ihnen wegen der
Liebe, die sie zu ihrer Mutter, der seligen Königin, trugen. Als nun
keine Zeit mehr übrig und der Hochzeittag schon da war und sie sich
nicht mehr zu helfen wußte, gedachte sie der allerbösesten Kunst, die
sie wußte, und kam zu den Kindern mit der leidigsten Freundlichkeit
und bat sie, einen Augenblick mit ihr in ihren Rosengarten zu kommen,
sie wolle ihnen eine wunderschöne Blume zeigen, die eben aufgebrochen
sey. Und sie gingen gern mit ihr, denn der Garten war hart hinter
dem Schlosse; auch konnte niemand an etwas Arges denken, denn es war
der helle Mittag, und der König und die Prinzen und Prinzessinnen des
Landes waren alle in dem großen Schloßsaale versammelt, da gleich die
Vermälung geschehen sollte. Und sie führte die Kinder in die
hinterste Ecke des Gartens, wo ihre Blumen standen, unter einen
dunkeln Taxusbaum, als wollte sie ihnen da etwas Besonderes zeigen.
Sie aber murmelte einige leise Worte für sich hin, brach dann einen
Zweig von dem Baum, und gab dem Prinzen und der Prinzessin einige
Streiche damit auf den Rücken. Und alsbald wurden sie in Thiere
verwandelt. der Prinz sprang als ein reißender Wolf über die Mauer
und lief in den Wald, und die Prinzessin flog als ein kleiner grauer
Vogel, der Nachtigall heißt, auf den Baum, und sang ein trauriges
Lied.
Die Königin spielte ihr Spiel so gut, daß auch kein Mensch etwas
merkte. Sie lief laut schreiend dem Schlosse zu und sank mit
zerrissenen Kleidern und zerzausten Haaren an den Stufen des Saales
hin, als sey ihr ein großes Leid geschehen, und der König hieß sie
von den Kammerfrauen wegtragen. Es verging wohl eine gute
Viertelstunde, ehe sie wieder zu sich kam. Da gebehrdete sie sich
sehr traurig und weinte und schrie: Ach! du arme Aurora, welchen
Brauttag hast du erlebt! ach du unglücklicher Prinz! So schrie sie
einmal über das andere, und erzählte dann, ein Schwarm Räuber sey
plötzlich hinten in den Garten gedrungen und habe die beiden
Königskinder mit Gewalt von ihrer Seite gerissen und entführt; sie
aber haben sie zu Boden geschlagen und halbtodt liegen lassen; und
sie zeigte eine Beule an der Stirn, die sie sich absichtlich an einem
Baum gestoßen hatte. Und alle glaubten ihren Worten, und der König
hieß alle seine Herren und Grafen und Ritter und Knappen aufsitzen
und den Räubern nachjagen. Diese durchritten nach allen Seiten den
Wald und alle Schlüchte und Klippen und Berge rings um das Schloß
wohl zwei drei Meilen weit, aber von den Räubern und von dem Prinzen
und von der Prinzessin fanden sie auch nicht die geringste Spur. Und
der König ruhete nicht und ließ weiter suchen und forschen viele
Wochen und Monate, und sandte Boten und Kundschafter aus in alle
Länder; aber sie kamen immer vergebens zurück, und mit dem Prinzen
und der Prinzessin war es, als ob sie nie gelebt hätten: so ganz
waren sie verschollen. Der alte König aber glaubte, die Räuber
hätten sie wegen der kostbaren Juwelen und Edelsteine entführt, die
sie am Hochzeitstage trugen, und hätten sie beraubt und dann todt
geschlagen und irgendwo eingescharrt, damit man ihnen nie auf die
Spur kommen könnte; und er grämte sich so sehr, daß er bald starb.
Bei seinem Sterben übergab er, weil er keine Kinder hatte, der
Königin das Reich, und bat seine Unterthanen, daß sie ihr treu und
gehorsam seyn mögten, wie sie ihm gewesen waren. Sie thaten es auch
und erkannten sie als ihre Königin, mehr aus Liebe zu ihm als aus
Liebe zu ihr.
So waren vier Jahre verschienen und der König schon das andere Jahr
todt, und die Königin fing an mit großer Gewalt über die Länder zu
herrschen, und kaufte sich für die Schätze, die der alte König ihr
hinterlassen hatte, viele fremde Soldaten, die sie über das Meer
kommen ließ und die ihre Krone und ihr Schloß bewachten. Denn sie
wußte, daß sie von den Unterthanen nicht geliebt war, und sprach: Nun
mögen sie aus Furcht thun, was sie aus Liebe nicht thun würden. So
geschah es, daß sie von Tage zu Tage bei jedermänniglich mehr verhaßt
ward, aber keiner durfte es sich merken lassen, denn auf das leiseste
Geflüster gegen die Königin war der Tod gesetzt. Aber die Leute
lassen das Wispern und Flüstern darum doch nicht, und weil das
Sprichwort wahr ist: Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt
endlich an die Sonnen, so hatte es von Anfang an gemunkelt*, als die
Königskinder verschwunden waren: kein Mensch könne wissen, was der
Spaziergang der Königin bedeutet habe. Denn es waren Leute genug,
die ihr wegen ihrer scharfen Augen und ihrer unnatürlichen
Freundlichkeit böse Künste zutraueten. Diese Munkelung unter dem
Volke dauerte nun immer fort und nahm noch zu; sie aber kümmerte sich
darum nicht, und dachte: die werden schon Thiere bleiben, was sie
sind, und mir wird keiner die Königskrone nehmen. Aber es begab sich
alles ganz anders, als sie gedacht hatte. Munkeln sagt man von Pferden, die im Sommer wegen der Bremsen mit dem
Kopf schütteln; Munkeln heißt also: die Köpfe gegen einander bewegen,
leise flüstern.
Den armen Königskindern ging es indessen doch recht schlecht.
Den armen Königskindern ging es indessen doch recht schlecht.
Der Prinz war als ein brauner Wolf in den Wald gelaufen, und er mußte
sich gebehrden wie ein Wolf und heulen wie ein Wolf und durch die
öden und wüsten Orte laufen bei Tage und bei Nacht, und wie ein Dieb
einhergehen; denn auch die wölfische Furcht war in ihn gefahren. Und
er mußte sich nähren wie die andern Wölfe von allerlei Raub von Wild
und Vögeln, auch mußte er in der traurigen Winterzeit zuweilen wohl
mit einem Mäuschen vorlieb nehmen und den Bauch einziehen und
zähneklappen und zwischen den harten und kalten Steinen sein Lager
nehmen. Und dies war gewiß keine prinzliche Lebensart, wie er sie
vorher geführt hatte, ehe er aus der königlichen Pracht und
Herrlichkeit in dieses wilde Elend verstoßen war. Das war aber das
Besondere an ihm, daß er allein Thiere angriff und zerriß und nie
nach Menschenblut gelüstete. Doch nach einer hätte ihn wohl gelüstet,
nach der bösen Frau, die ihn verwandelt hatte; aber diese hütete
sich wohl, dahin zu kommen, wo sie den Zähnen dieses Wolfes begegnen
konnte. Man soll aber nicht glauben, daß der Prinz, der nun ein Wolf
war, noch menschliche Vernunft hatte; nein es war sehr finster in ihm
geworden, und mit dem Bilde des Thieres, in welchem er durch die
Wälder laufen mußte, hatte er auch nicht viel mehr als thierischen
Verstand. Das ist wahr, ein dunkler Trieb trieb ihn oft gegen das
Schloß und den Schloßgarten hin, als hätte er dort einen Fang zu
holen; doch hatte er keine deutliche Erinnerung der Vergangenheit:
wie hätte er es dann auch in der Wolfshaut aushalten sollen? In den
Augenblicken, wo er diesen Trieb fühlte, war er mit einem besondern
Grimm behaftet; aber immer, wie er ihnen auf tausend Schritt nahe kam,
fuhr ein kalter Schauder in ihn und jagte ihn zurück. Und die
Königin hatte dies mit ihrer Hexerei verschuldet, daß sie ihn bis so
weit gebannt hatte; denn weiter hatte sie nicht gedurft. Sie aber
stellte dem Wolfsprinzen nach dem Leben und ließ viel jagen in dem
Forst, der sich um das Schloß herumzog, weil sie dachte, daß er wohl
darin seyn mogte. Deswegen ward fast alle Woche zweimal eine große
Schalljagd und Klapperjagd auf Wölfe und Füchse angestellt; und damit
sie einen fleißigeren Vorwand dazu hätte, hatte die Königin viele
niedliche Dammhirsche in diesen Forst ausgesetzt, von welchen unser
königlicher Wolf allerdings manchen verzehrte. Aber er rettete sich
immer aus aller Gefahr, wie oft die Hunde ihm mit ihren Rachen auch
das Haar auf dem Rücken schon zerbließen und wie oft die Jäger auf
ihn schossen. Er wich dann für den Augenblick abseits, und wann der
Schall sich gesänftet hatte und die Jagdhörner verstummt waren, kam
er in das Dickicht zurück, welches dem Schlosse nahe war, und sonnte
sich häufig auf Plätzen, wo er als Knabe und Jüngling zuweilen
gespielt hatte. Er wußte aber nichts mehr von der Vergangenheit,
sondern es war eine verborgene Liebe, die ihn dahin lockte.
Die Prinzessin Aurora hatte als ein kleines Vögelein auf den Baum
fliegen müssen und war in eine Nachtigall verwandelt worden. Ihr
aber war in ihrem leichten und dünnen Federkleide die Seele nicht so
verdunkelt, als dem Prinzen in der Wolfshaut, sondern sie wußte viel
mehr von sich und von den Menschen und Dingen; nur sprechen konnte
sie nicht. Dafür aber sang sie desto schöner in ihrer Einsamkeit,
und oft so wunderschön, daß die Thiere vor Freuden hüpften und
sprangen und die Vögel sich alle um sie versammelten und die Bäume
dazu rauschten und die Blumen nickten. Ich glaube, auch die Steine
hätten vor Lust getanzt, wenn sie so viel Liebe in sich hätten; aber
deren Herz ist zu kalt. Auch die Menschen hätten wohl bald auf den
kleinen Vogel gemerkt als auf einen besonderen Vogel und wäre wohl
ein Gerede und Gemunkel davon unter den Leuten entstanden, wenn nicht
etwas sie abgehalten hätte von dem Walde, daß sie die Nachtigall nie
singen hörten. Es verhielt sich damit folgendergestalt:
Wie die Königin dem armen verwandelten Prinzen mit den vielen Schall-
und Klapperjagden gern das letzte wölfische Lebenslicht ausgeblasen
hätte und wie er dadurch über die ganze Wolfsfamilie großes Unglück
brachte, habe ich schon erzählt. Aber auch über die kleinen Vögel
ging es schlimm her, und in diesen Tagen der Tyrannei war es ein
Unglück, in der Gegend des Schlosses als Amsel Grasmücke und
Nachtigall gebohren zu seyn. Die Königin nemlich, nachdem der alte
Herr gestorben war und sie die Gewalt allein hatte, gebehrdete sich
plötzlich, als habe die Krankheit sie befallen, daß sie nicht allein
das Geschrei und Gekrächze und Geschnatter unleidlicher Vögel nicht
ertragen könne, sondern daß selbst das lieblichste Geklingel und
Gezwitscher der lustigen kleinen Singvögelein sie unangenehm bewege.
Und damit sie das allen Menschen glaublich machte, war sie bei
solchen Gesängen, deren sich sonst alle Welt zu freuen pflegt, ein
parmal in Ohnmacht gefallen. Das war aber nur ein Schein, sie wollte
eine böse That, sie wollte den Tod der kleinen Nachtigall, wenn sie
etwa in diesen Hainen und Gärten herumflatterte. Das wußte sie aber
wohl, daß das Vögelchen dem Schlosse auf tausend Schritt nicht nahen
durfte, denn sie hatte es unter denselben Hexenbann gelegt, als
seinen Bruder. Unter dem Titel dieser Unleidlichkeit und
Empfindlichkeit gegen zarte und feine Klänge und Schalle ward denn
freilich nicht bloß der kleinen liebenswürdigen Nachtigallprinzessin
sondern allen andern Vögeln nach der Kehle gegriffen; sie waren alle
in die Acht und Aberacht gethan, sie waren alle für vogelfrei erklärt,
und die Förster und Jäger der Königin erhielten den strengsten und
gemessensten Befehl, auf alles, was Federn trägt, Jagd zu machen, und
auch das Rotkehlchen ja nicht einmal den Zaunkönig zu verschonen, auf
welchen ein guter Jäger sonst nie einen Schuß verliert. Dieser
schreckliche Zorn der Königin ward ein Unglück für das ganze
befiederte Volk, nicht bloß für die, welche im Freien flogen oder in
Forsten und Hainen lebten, sondern auch für die, welche auf Höfen und
in Zimmern gehalten werden. In der Hauptstadt und in der Umgegend
des königlichen Schlosses blieb auch nichts Gefiedertes leben; denn
die Leute meinten sich bei der Königin sehr einzuschmeicheln und ihre
Gunst zu gewinnen, wenn sie es ihr nachmachten. Es war ein
Schlachten und Morden der Unschuldigen wie der bethlehemitische
Kindermord des Königs Herodes weiland. Wie vielen tausend
Kanarienvögeln und Zeisigen und Nachtigallen und Distelfinken, ja
selbst wie manchen ostindischen und westindischen Papageien und
Kakadus wurden da die Hälse umgedreht! Schreihälsen und Liederkehlen,
Schwätzern und Verschwiegenen drohete Ein Schicksal, und das sogar
war ein Verbrechen, als Gans oder Puter oder Hahn gebohren zu seyn,
und die gemeinen Haushühner fingen an so selten zu werden als
chinesische Goldfasane. Und hätte die Königin noch einige
Jahrzehende so gewüthet gegen das Federvölkchen, so wäre es allmälig
ausgestorben in dem Königreiche. Das war die Ursache, warum die
Vögel nicht allein gemordet wurden sondern auch fast kein Mensch mehr
in den Wald spazieren ging, weil es so hätte gedeutet werden können,
als wollten sie da Vogelgesang hören. So kam es denn, daß niemand
die Wundertöne der kleinen Nachtigall belauschen konnte, als etwa hie
und da ein einsamer Jäger. Der ließ sich aber nichts merken, damit
er von der Königin nicht gestraft würde, daß er den Vogel nicht
geschossen. Denn das muß man zur Ehre der Weidmänner sagen, daß sie
doch meistens ihrer wackern Natur folgten und selten einen der
kleinen Vögel schossen; aber platzen durch den Wald mußten sie, daß
es knallte. Und dadurch schon ward es still von Gesängen und auch
viele Vöglein zogen weg aus dem unaufhörlichen Getümmel und kamen
nimmer wieder. Die kleine Nachtigall aber, welche Gott behütete, daß
sie sich von allen diesen Nachstellungen rettete, konnte den grünen
Wald hinter dem Schlosse nicht lassen, wo sie in ihrer Kindheit so
viel gespielt und gesprungen hatte, sondern wenn sie auch wegflog, so
bald die Jagdhörner anbliesen und es mit Hurra und Wo Wo durch die
Büsche tosete, kam sie doch immer bald wieder. Und obgleich ihre
Liedlein, als aus einem traurigen Herzen klingend, meistens traurig
und kläglich waren, däuchte es ihr doch recht anmuthig, so unter den
grünen Bäumen und bunten Blumen zu leben und dem Mond und den Sternen
etwas Süßes vorzuklingen; und nur wenige Monate war sie unglücklich.
Dies war die Zeit, wo der Herbst kam und wo sie mit den andern
Nachtigallen in fremde Länder ziehen mußte, bis es wieder Frühling
ward.
Das kleine Prinzessinvögelein hielt sich nun meist zu den Bäumen,
Angern und Auen, wo sie als Kind gespielt oder als Jungfrau mit
Gespielen ihres Alters Kränze gewunden und Reigen aufgeführt hatte,
oder wo sie gar in den glücklichsten Tagen ihres Lebens mit dem
Geliebten die Einsamkeit gesucht hatte. Am liebsten und am meisten
wohnte sie in einer dichten grünen Eiche, die sich über einen
rieselnden Bach beugte und oft das süße Geflüster der Liebe in ihren
Schatten geborgen hatte. An dieser Stelle sah sie denn auch oft den
Wolf, den ein dunkles Gefühl der Vergangenheit dahin führte; aber sie
wußte nicht, daß es ihr armer Bruder war. Doch gewann sie ihn lieb,
weil er sich so oft unter ihren Gesängen hinstreckte und lauschte,
als verstände er etwas davon; und sie beklagte ihn wohl zuweilen, daß
er ein zorniger und harter Wolf seyn mußte und nicht flattern konnte
und fliegen von Zweigen zu Zweigen, wie sie und andere Vögelein. Und
nun muß ich auch noch von einem Manne erzählen, der in dem einsamen
Walde zuweilen der Zuhörer der kleinen Nachtigall war. Dieser Mann
war der Prinz aus Ostenland, ihr Bräutigam, als sie noch Prinzessin
war.
Der König, dieweil er noch lebte, hatte diesen Prinzen wegen seiner
Tugend und Tapferkeit vor allen Männern geliebt und ihn auf seinem
Todbette der Königin empfohlen als einen Rath und Helfer in allen
schlimmen und gefährlichen Dingen, besonders als einen frommen und
trefflichen Kriegsmann. Auch war er nach des Königs Tode bei der
Königin geblieben bloß aus Liebe zu dem seligen Herrn. Doch ward er
bald inne, daß die Königin ihn haßte, ja daß sie ihm nach dem Leben
trachtete, und entwich daher plötzlich von ihrem Hofe und aus ihrem
Lande. Sie aber ließ ihm nachsetzen als einem Verräther und
Flüchtling und ließ einen Bann ausgehen, wodurch sie ihn für
vogelfrei erklärte, daß jeder, wem es beliebte, ihn erschlagen und
ihr seinen Kopf bringen mogte, worauf sie einen hohen Preis gesetzt
hatte. Er entwich wieder in das Land seines Vaters, das viele
hundert Meilen gegen Osten von dem Schlosse der Königin lag, und
wohnte bei ihm. Aber im Herzen hatte er keine Ruhe noch Rast und die
Trauer um die verschwundene Prinzessin wollte ihn nie verlassen. Ja
das Wunder begab sich mit ihm, daß er alle Jahre einmal heimlich
verschwand, ohne daß ein Mensch wußte, wohin. Er sattelte aber dann
sein Roß und rüstete sich in unscheinbarer Rüstung, und ritt
plötzlich davon, so daß niemand seinen Pfad kannte. Er mußte aber in
das Land der Königin reiten, die ihn vogelfrei gemacht hatte, und
jenen Wald besuchen, worin die Prinzessin verschwunden war. Dieser
gewaltige Trieb kam ihm jedes Jahr kurz vor der Zeit, in welcher die
Prinzessin verschwunden war, wo er durch wilde wüste und verborgene
Orte traben mußte, bis er zu wohlbekannten Stätten gelangte, wo er
einst mit seiner Braut gewandelt hatte. Und da war auch ihm die
grüne dunkle Eiche am Bache die Lieblingsstelle. Da brachte er dann
vierzehn Nächte in Thränen und Gebeten und Klagen um die Geliebte zu;
die Tage aber verbarg er sich in dem entlegeneren Dickicht. Da hat
er die kleine Nachtigall oft gesehen und gehört und sich ihres
wundersamen und wunderlieblichen und fast übervögelischen Gesanges
erquickt. Sie haben aber nichts weiter von einander gewußt. Doch
hatte das Vögelchen immer eine große Sehnsucht im Herzen, wann der
Ritter wieder geritten war, sie wußte aber nicht, warum; und auch ihm
klang ihr tiefes und schmachtendes Tiu! Tiut! lange nach, wann er
wieder in das Land seines Vaters ritt. Es ging ihm aber wie den
meisten Menschen, die etwas Geheimes thun oder haben, worüber andere
Leute sich viel die Köpfe zerbrechen, daß er um sein eignes Geheimniß
nicht wußte. Denn daß er jedes Jahr einmal heimlich wegritt, das
wußte er wohl; warum er aber reiten mußte, das wußte er nicht.
Und es waren manche Tage vergangen seit dem Tode des alten Königs und
es ging in das sechste Jahr seit dem Verschwinden der Kinder, und die
Königin lebte herrlich und in Freuden, und ließ die Thiere jagen und
auf alle Vögel schießen, und war auch gegen ihre Unterthanen nicht
weniger hart, als gegen das Wild und Gefieder des Waldes. Sie
däuchte sich fast allmächtig und meinte, ihr Glück und ihre
Herrschaft könne kein Ende nehmen. Doch hatte sie seit jenem Tage
den Wald nicht betreten um das Schloß und den Schloßgarten, sondern
eine heimliche Furcht hatte sie davon zurückgehalten. Sie ließ sich
aber nicht merken, was es war, und daß eine Hexenangst dahinter
steckte. Nun begab es sich, daß sie einmal ein großes Fest und
Gastmal angestellt hatte, wozu alle Fürsten und Fürstinnen des Reichs
und alle Großen des Landes und alle vornehmsten Diener und
Dienerinnen geladen waren, und es war den Nachmittag eine große
Wolfsjagd beschlossen in dem Forst, und die Fürsten baten sie, daß
sie mitgehen mögte. Sie weigerte sich lange unter allerlei Vorwänden,
endlich aber ließ sie sich bereden. Sie setzte sich aber auf einen
hohen Wagen und hieß drei ihrer tapfersten Kriegsmänner sich
wohlbewaffnet neben sich setzen; zugleich hieß sie viele hundert
gewaffnete und gerüstete Reisige vor, neben und hinter dem Wagen
reiten, und eine lange Reihe Wagen voll Herren und Frauen folgten ihr
nach. Und ihr war der Wolf immer im Herzen, doch dachte sie bei sich:
laß den Wolf nur kommen, ja laß hundert Wölfe zugleich kommen, diese
tapfere Schaar wird ihnen wohl das Garaus machen. So verblendet Gott
auch die Klügsten und Feinsten, wann sie zur Strafe reif sind; denn
ihr war geweissagt worden von andern Meistern ihrer losen Kunst, sie
solle sich vor dem sechsten Jahre in Acht nehmen. Daran hatte sie
heute nicht gedacht.
Und es war ein schöner heiterer Frühlingstag, und sie fuhren mit
Trompeten und Posaunen in den Forst, und die Rosse wieherten und die
Rüstungen klirrten und die gezückten Speere und Degen funkelten in
der Sonne; die Königin aber funkelte am hellsten, mit ihren
prächtigsten Kleidern und all ihrem Juwelenschmuck hoch im Wagen
thronend. Und schon schallte ihnen die Jagd entgegen mit Hussa und
Hurra und den schmetternden Hörnern der Jäger und den gellenden
Stimmen der Hunde. Und es lief ein Löwe vorüber und ein Eber fuhr
durch die Reihen; und sie erschracken nicht sondern hielten und
standen ein jeglicher fest auf seinem Stand, und machten die
Ungeheuer nieder. Aber nicht lange, und es ergab sich ein Schrecken,
das ihnen zu mächtig war. Ein fürchterlicher Wolf fuhr aus dem
Dickicht hervor auf einen grünen Anger, und heulte so gräßlich, daß
Jäger, Hunde und Reiter vor ihm ausrissen. Der Wolf lief, wie man
einen Pfeil vom Bogen schießt, nein er lief nicht sondern flog durch
die Männer und Rosse dahin, und keiner dachte daran, daß er Bogen,
Spieß und Eisen trug, so schrecklich war des Unthiers Ansehen und so
wüthig bleckte er den funkelnden Rachen auf. Die Königin, die ihn
auf ihren Wagen zuspringen sah, schrie Hülfe! Hülfe! die Weiber
schrien und fielen in Ohnmacht, viele Männer schrien auch wie die
Memmen: Keiner wehrte dem Wolf, er sprang mit Einem langen weiten
Sprung auf den hohen Wagen, riß das stolze Weib herunter, und wusch
sich Zähne und Rachen in ihrem Blute. Die andern waren alle geflohen
oder standen und hielten von ferne.
Und o Wunder! als sie sich ermannen wollten und das Thier anfallen,
sahen sie es nicht mehr, sondern, wo es eben noch gestanden hatte,
erhob sich die Gestalt eines schönen und reisigen Jünglings. Die
Männer staunten ob dem Zauber, doch zuckten einige die Waffen, als
wenn sie ihn als ein zweites Ungethüm jagen und fällen wollten. Da
sprang plötzlich ein Greis vor, der mit im Zuge war, der Kanzler des
Reichs, und verbot es ihnen, und rief überlaut: bei meinem grauen
Haar, Männer, haltet ein! ihr wisset nicht, auf wen ihr stoßen
wollet und, ehe sie sich besinnen konnten, lag er schon vor dem
Jünglinge auf der Erde, und küßte ihm Kniee und Hände und rief: Sey
uns gegrüßt, du edle Blume eines edlen Vaters, die du wieder
aufgegangen bist in deiner Schöne! und freue dich, o Volk, dein
rechter Königssohn ist wieder gekommen, und dies ist jetzt dein König.
Und auf diese Worte liefen viele herzu und erkannten den Prinzen
wieder und huldeten ihm als ihrem Herrn, und die übrigen thaten
desgleichen. Und alle waren zugleich voll Schrecken und Staunen und
Freude, und dachten nicht mehr an die zerrissene Königin noch an den
Wolf; denn daß er der Wolf gewesen, das wußten sie nicht.
Der junge König aber gebot allen, daß sie ihm nachfolgeten und mit
ihm in das Schloß seines Vaters zögen; er hieß auch sogleich die Jagd
stillen und die Hörner und Trompeten, welche eben noch den Wald und
das Wild aufgeschreckt hatten, seinem fröhlichen Einzuge voranblasen.
Und als er daheim war und von den Zinnen seiner Väter schauete, da
traten ihm die Thränen in die Augen und er weinte beides schmerzlich
und fröhlich; denn er gedachte nun alles Jammers wieder und der zu
schweren Vergangenheit, wo es wie ein dumpfer und thierischer Traum
auf ihm gelegen hatte. Und nun ward es ihm plötzlich hell, und er
konnte es dem Kanzler und den Vornehmsten melden, wie es mit ihm
geschehen war und daß er nur durch das Herzblut der alten greulichen
Hexe, die seine Stiefmutter und ihre Königin geheißen, wieder hatte
verwandelt werden können. Und das Gerücht von diesem erstaunlichen
Wunder ging alsbald in die ganze Stadt und unter alles Volk aus; und
sie freueten sich, daß der geliebte Königssohn wiedergekommen und daß
die Königin, welche alle hasseten, von Wolfszähnen, die sie selbst
geschaffen, zerrissen war.
Aber als der Prinz sich nun allmälig wiedergefunden und über sich
besonnen hatte, da fiel es ihm schwer auf das Herz, wo die königliche
Prinzessin Aurora seine geliebte Schwester wohl seyn mögte und ob sie
auch noch wohl unter irgend einer Thierhaut oder Federdecke steckte;
denn nun fiel ihm ihr trauriger Hochzeittag ein. Und er fragte und
ließ fragen; aber alle schwiegen und keiner konnte von ihr etwas
melden. Da ward der Prinz wieder sehr traurig und sorglich, aber
Gott wandelte diese Traurigkeit auch bald in Freude.
Denn als dieser Jagd- und Wolfslärm im Walde tosete, steckte auch der
arme traurende Prinz aus Ostenland grade in seinem Dickicht, und das
kleine liebliche Nachtigallvögelchen hielt sich schweigend unter den
grünen Blättern seiner Eiche verborgen. Es fuhr aber ein wunderbares
Gefühl durch sein Herzchen, sobald der durstige Wolfszahn seines
Bruders das Herzblut der alten Königin geschlürft hatte. Als nun die
Jagd verschollen und der Wald still geworden und die Sonne
niedergegangen war, da kam der Prinz aus seiner dunkeln Waldschlucht
unter seine grüne Eiche und lehnte sich gar traurig an den Stamm und
netzte das Gras mit seinen stummen Thränen, wie er alle Nächte pflag;
und ihm däuchte viel wehmüthiger um sein Herz zu seyn als gewöhnlich.
Das Vögelein in den Zweigen über ihm fing eben an zu singen nach
seiner Gewohnheit; und es däuchte ihm auch, daß es gar anders sang
als sonst, und viel bedeutsamer und räthselhafter und fast wie mit
menschlicher Stimme. Und dem Manne kam ein Grausen an, und fast voll
Angst rief er in die Zweige hinauf: Vögelein, Vögelein, sage mir,
kannst du sprechen? Und das Nachtigallvögelein antwortete ihm mit Ja,
wie Menschen zu antworten pflegen, und es verwunderte sich selbst,
daß es sprechen konnte, und fing an vor Freuden darüber zu weinen,
und schwieg lange. Darauf that es sein Schnäbelchen wieder auf und
erzählte dem Manne mit vernehmlicher menschlicher Stimme die ganze
Geschichte von seiner Verwandelung und von seines Bruders
Verwandelung, und durch welches Wunder er wieder ein Mensch geworden.
Denn es war ihr nun alles in Einem Augenblicke klar geworden, als
hätte ein Geist es ihr zugeflüstert. Der Mann aber jauchzete in
seiner Seele, als er ihre Rede hörte, und er sann viel in sich hin
und her; und das Vögelchen spielte und flog zutraulich um ihn herum;
doch wiewohl sie sich und alle Dinge so hell wieder erkannte und
wußte, von ihm wußte sie nicht, wer er war. Und er lockte das
Vögelchen und schmeichelte und kosete ihm schön, und bat, es solle
mit ihm kommen, er wolle es in einen Garten setzen, wo ein ewiger
Frühling blühe und nie ein Falke rausche noch ein Jäger tose; das sey
doch viel lustiger, als so in wilden Hainen umzufliegen und vor dem
Winter und vor Jägern und Raubvögeln und Schlingen zu zittern. Das
Vögelein aber wollte davon nichts hören und lobte seine grüne
Freiheit und seine grüne Eiche hier und schwätzte und flötete und
spielte und flatterte um den Mann herum und hatte sein wenig Acht,
denn er gebehrdete sich, als sey er in andern Gedanken.
Aber siehe, welche Gedanken er gehabt hat! Denn ehe das Vögelchen
sich dessen versah, hatte der Mann es bei den Füßchen erfaßt und lief
eilends davon, schwang sich auf sein Roß und flog im sausenden Galopp,
als sey ein Sturmwind hinter ihm, einer Herberge zu, die er in der
Stadt unweit des Schlosses kannte, und bestellte sich ein einsames
Zimmer, worin er sich mit dem Vögelein einsperrte. Das Vögelein, als
es sah, wie er die Schlüssel herauszog und andere Zeichen eines
Gefängnisses machte, fing an jämmerlich zu weinen und zu flehen, daß
er es fliegen ließe; denn es däuchte ihm gar beklommen und angstvoll
in dem verschlossenen Zimmer und es mußte an seine grünen Bäume und
an die liebliche Freiheit denken. Aber der Mann machte sich aus dem
Weinen und Flehen des Vögelchens nichts und wollte es nicht lassen.
Da ward das Vögelein böse und fing an sich zu verwandeln, damit es
den Mann erschreckte, daß er Thüren und Fenster öffnete und froh wäre,
wenn das Vögelein davon flöge. So machte es sich zu Tigern und
Löwen, zu Ottern und Schlangen, zu Skorpionen und Taranteln, zuletzt
zu einem scheußlichen Lindwurm, der sich um den Mann flocht und mit
giftiger Zunge auf ihn fuhr. Aber das alles schreckte ihn nicht
sondern er blieb fest auf seinem Sinn, und das Vögelein mußte alle
seine Arbeit verlieren und wieder ein Vögelein werden. Und der Mann
stand in tiefen Gedanken, denn es fiel ihm etwas ein aus alten
Mährchen. Und er zog ein Messer aus der Tasche und schnitt sich ein
Loch in den kleinen Finger der linken Hand, der immer das lebendigste
Herzblut hat. Und es tröpfelte Blut heraus, und er nahm des Blutes
und bestrich des Vögeleins Köpfchen und Leib damit. Und kaum hatte
er das gethan, so stand auch das Wunder fertig da. Das Vögelein ward
in der Minute zu der allerschönsten Jungfrau, und der Prinz lag
alsbald zu ihren Füßen und küßte ihr züchtig und ehrerbietig die
Hände. Die Nachtigall war nun wieder Prinzessin Aurora geworden und
erkannte in dem Manne ihren Bräutigam wieder, den Prinzen aus
Ostenland. Sie war noch eben so jung und schön, als sie vor sechs
Jahren zur Zeit der Verwandelung gewesen. Denn das ist den
Verwandlungen eigen, daß die Jahre, die einer darin bleibt, ihn nicht
älter machen sondern tausend Jahre gelten da nicht mehr als eine
Sekunde.
Man kann denken, wie diese beiden sich gefreut haben; denn wenn zwei
verliebte Herzen, die einander treu geblieben, nach langer Zeit
wieder zusammenkommen, das ist wohl die größte Freude auf Erden.
Doch säumten sie nicht lange sondern ließen dem Könige ansagen, es
seyen zwei fremde Prinzen aus fernen Landen an seinen Hof gekommen
und begehrten fürstliche Herberge. Und der König trat heraus, daß er
sie bewillkommete, und erkannte seine liebe Schwester Aurora und
seinen theuren Freund den Prinzen aus Ostenland, und freuete sich
über die Maaßen; und alles Volk freuete sich mit ihm, daß so alles
wiedergekommen und das Reich nicht bei Fremden bleibe.
Und nach wenigen Tagen setzte er sich die königliche Krone auf und
fing an zu regieren an seines Vaters Statt, seiner Schwester aber gab
er eine überaus prächtige Hochzeit mit Tänzen und Festen und
Ritterspielen; auch erhielt sie nebst ihrem Prinzen an Land und
Leuten eine gar stattliche Abfindung, wovon sie fast wie Könige leben
mogten. Die Prinzessin Aurora aber hatte ihren Bruder um den Wald
gebeten, in welchem sie als Vögelein so manchen fröhlichen und auch
so manchen traurigen Tag umhergezogen war, und er hatte ihn ihr gern
geschenkt. Sie baute sich daselbst ein stolzes königliches Schloß an
dem Bache, wo sie so oft gesessen und gesungen hatte, und die grüne
und dichte Eiche kam mitten in ihrem Schloßgarten zu stehen und hat
noch manches Jahr nach ihr gegrünt, so daß ihre Urenkel noch darunter
gespielt und sich beschattet haben. Sie aber ließ das Gebot ausgehen,
es solle der Wald für ewige Zeiten stehen bleiben in seiner
natürlichen Herrlichkeit; auch gab sie den kleinen Singvögelein den
Frieden und verbot auf das allerstrengeste, in diesem heiligen
Bezirke Schlingen und Fallen zu stellen und die Kleinen mit irgend
einem Gewehr anzugreifen. Und ihr Bruder hat als ein großer und
frommer König regiert, sie aber hat mit ihrem tapfern Gemal bis in
ein schneeweißes Alter in glücklicher Liebe gelebt und viele Kinder
und Kindeskinder gesehen, bis sie endlich im Segen Gottes und der
Menschen sanft entschlafen ist. Das hat auch gegolten seit ihrer
Zeit unter ihren Kindern und Nachkommen, daß der älteste Prinz ihres
Hauses immer Rossignol und die älteste Prinzessin immer Philomela
getauft wurde. Sie wollte nemlich eine fromme Erinnerung stiften für
alle Zeiten von dem wundersamen Unglück, das ihr widerfahren war, da
sie in eine Nachtigall verwandelt worden. Denn diese Worte bedeuten
in der Sprache ihres Landes, was zu teutsch Nachtigall genannt wird,
und Rossignol heißt eigentlich Rosenvogel denn die Nachtigallen
singen meist zur Zeit der Rosen und Philomela Liederfreundin; der
teutsche Name Nachtigall heißt aber so viel als Nachtsängerin, und
ist wohl der allerfeinste.
No comments:
Post a Comment