Carl Ludwig Schleich 1859 - 1922
Carl Ludwig Schleich war ein deutscher Chirurg und Schriftsteller. Von ihm stammt eine Methode der Infiltrationsanästhesie.
Geboren am am 19. Juli 1859 in Stettin; gestorben am 7. März 1922 in Bad
Saarow.
Schleich legte 1879 in Stralsund am Katharinen-Gymnasium das Abitur ab. Anschließend absolvierte er ein Medizinstudium, zunächst in Zürich (Freundschaft mit dem Dichter Gottfried Keller), dann in Greifswald, und bis zum Ersten Staatsexamen 1886 an der Charité in Berlin. Dort war er Famulus u. a. bei Virchow. Er promovierte 1887 in Greifswald und blieb dort als Assistent bis 1889. Im gleichen Jahr eröffnete er eine private Klinik für Gynäkologie und Chirurgie in Berlin und heiratete seine Jugendliebe Hedwig Oelschläger. Unter seinen Leistungen als Arzt ragt besonders die Erfindung der Infiltrationsanästhesie hervor, die es erstmals ermöglichte, schmerzhafte Eingriffe ohne die gefährliche Äther-Vollnarkose durchzuführen.
Parallel zu seinem Medizinerdasein betätigte Schleich sich schon früh als populär-wissenschaftlicher Schriftsteller und Philosoph.
Er war mit August Strindberg befreundet, ihm widmet er ein Kapitel seiner Autobiographie "Besonnte Vergangenheit".
INSTINKT UND SPIEL
Des Lebens letztes Merkmal ist die Reizbarkeit. Hier steht des Menschen Spürsinn still, denn nicht tiefer hinab vermag der Geist der schöpferischen Natur den Gedanken des Lebendigen nachzudenken. Ein armselig Symptom, ein Symbol halten wir in der Hand, statt seines dahinter liegenden Wesenskernes. Und doch ist dieses Merkzeichen des Lebendigen, die Reizbarkeit, die einzige kardinale Eigenschaft sowohl der letzten im Winde verlorenen Pflanzenspore, wie auch der Krönung des Lebendigen, der menschlichen Seele. Ein Automat, eine Maschine beantwortet den Reiz, den auslösenden Anstoß stets in derselben Weise, zu dem einen von ihrem Erbauer gewollten Zweck; die Zelle aber, der lebendige Automat, hat eine Wahl, eine Willkür, eine Freiheit. Aus einfachen reizbaren Zellen ist jedes belebte Wesen geschaffen, und an solche Zellen ist das höchste, wie das niedrigste Leben geknüpft; denn geistiges Leben ist Zellfunktion im Laternchen des Leuchtkäfers nicht minder, wie der Funke hinter der Prometheus-Stirn des Genies ! Aufsteigend von der einfachen Reizbarkeit des einzelligen Lebewesens bis zur Feinfühligkeit des sublimsten Gedankens, der den Harfensaiten der menschlichen Seele entgleitet, wurde der Nerven Stammherr, der Nervus Sympathicus, der den Rhythmus der kriechenden Raupe, wie den Flug der Libelle beherrscht, geschaffen als der erste Schritt zur Organisation chaotischer Bewegungsmöglichkeiten. Nach ihm kam Rückenmark und Nervengeflecht und endlich die Krone des Nervenbaums, das Gehirn. Kein Geringerer als Goethe sah, daß das Schädeldach ein entwickelter Wirbel sei, und die Hülle mußte sich wohl entwickeln, weil an der Spitze der Rückenmarksäule die sich fortbildende Nervenmasse das Gehirn erzeugte. Dessen jüngste Sprossen, die Hirnrindenzellen, sind der Sitz unseres Bewußtseins. Ein jeder von uns trägt also in sich die organischen Niederschläge dessen, was vor uns war. Einst war Stufe für Stufe aufsteigend alles das bewußt, was jetzt unbewußt, automatisch gleichsam "von selbst" sich reguliert: Das Atmen, der Herzschlag, die harmonische Bewegung, die Verdauung, genug das Leben an allen geheimen Laboratorien unseres Leibes. Unter unseren, nunmehr uns selbstbewußten Gehirnteilen muß also ein sich selbst überlassenes Labyrinth des Gewordenen in fester Bahn geordnet liegen, aus dem wohl die dunkelen Gefühle stammen, die wie dunkel empfundene Donner rollen durch die Niederungen unserer Seele. Diese fernen, unterbewußten Triebkräfte, das Resultat der Daseinskämpfe aller derer, die vor uns waren, sind der Inbegriff dessen, was wir mit dem Namen "Instinkt" belegen.
Wahl also, das bewußte Gefühl, so oder so zu handeln, steht dem "Muß" gegenüber, der Wahllosigkeit unseres Tuns aus den unserem Bewußtsein entzogenen Trieben heraus. Der kategorische Imperativ Kants, das Gewissen, was kann es anders sein, als die Hand der vorwärts gestaltenden Innenmacht, die uns alle am Ende zwingt, so zu leben, daß wir entwicklungsfähig ("vorbildlich" Kant) werden können, andernfalls wir als lebens- und entwicklungsunfähig abzutreten haben vom Schauplatz des immer spielenden Dramas: Leben.
Wir vermögen einen Blick zu tun in den Mechanismus dieses grandiosen Getriebes gerade in unserer menschlichen Seele. Denn es ist ein organischer Unterschied zwischen den Gebieten, in welchen wir bewußt denken, Probleme schmieden und uns den neuen Anforderungen des Lebens anpassen, und jenen, wo uns jede Wahl abgeschnitten ist.
Um ein Bild aus der Elektrizität zu geben, wir denken und sinnen mit willkürlich ein- und ausschaltbaren Gedankenelementen, unsere Instinkte aber, unsere Regulationen des Stoffwechsels, unsere Automatien und Reflexe sind definitiv in ihren Bahnen eingestellt, die dazu nötigen Anschlüsse sind ein für allemal bestimmt und aneinander angereiht, sie sind in den Händen einer abgeschlossenen Hemmung.
Wenn wir dem ebengeborenen Säugling, bevor sein Mund je die Mutterbrust erreichte, einen Finger an die Lippen haken, so beginnt er zu saugen; wenn der erste Strahl des Lichtes sein Auge trifft, so verengt sich seine Pupille: das Getriebe der nervösen Reize hat keine andere Wahl, es muß die Bahnen gehen, welche die Reflexbewegung stets in gleicher Weise auslösen, weil diese entwicklungsgeschichtlich angewöhnten Reize stets dieselben Bahnen entlang durchlaufen müssen, weil alle anderen Möglichkeiten durch festgelegte Hemmung ausgeschaltet sind. So sind die Reflexbewegungen also deshalb angeboren, weil Millionen unserer Vorfahren diese Art der Beantwortung von Lebensreizen als die zweckmäßigste und immer wiederkehrende für uns erlernt haben. Die automatischen Reaktionen haben sich also im Laufe der Jahrtausende als die zweckdienlichsten, als die erhaltungsgemäßesten herausgestellt, und sie gehören zu dem definitiven Bestande unseres nervösen Gesamtmechanismus. Die Methode der Natur dabei war die Schaffung einer dauernd fixierten Hemmung, welche Ausweichungen in nervöse Nebenleitungen unmöglich machte. Daß wir niesen, erbrechen, lachen müssen, wenn man uns die Nase, den Rachen, die Sohlen kitzelt, sind zwingende Beweise für die Unausweichbarkeit der bestimmten Reize aus definitiven Leitungsbahnen; das tiefe Atemholen beim kalten Wasserstrahl, das Verschluckenmüssen selbst gefährlicher Gegenstände (Münzen, Gebisse, Gräten usw.), wenn sie den Gaumenring passiert haben, der Lidschluß bei grellstem Licht sind Dinge, die wir mit höchster Willenskraft nicht hemmen können, weil das Spiel der Kräfte eben für diese Aktionen unabänderlich reguliert ist. Es ist ein weitverbreiteter, aber irrtümlicher Glaube, daß man unser ganzes Seelenleben in dieser Weise meint auflösen zu können in die eine Frage nach den Reflexbewegungen. Für weniger elementare und kompliziertere Handlungen, für unser Gedankenspiel und für unsere Empfindungen kommt eben noch ein anderes, uns die Freiheit des Willens aufnötigendes Etwas hinzu. Liegt vor mir ein Buch, so kann ich es aufschlagen oder ich kann es unterlassen; sehe ich einen Apfel, so kann ich ihn fassen oder liegen lassen und habe dabei stets das Gefühl ganz freier Wahl, zu tun, was mir beliebt. Gegenüber einem ethischen Problem habe ich nicht minder das Gefühl der Freiheit, mich für dies oder jenes Tun oder Unterlassen zu entscheiden. Hier empfinde ich die Summe aller auf mich wirkenden Reize nur als einen Richtung gebenden, aber nicht zwingenden Antrieb.
Dieser mehr oder weniger entscheidende Antrieb stammt nun aus zwei Quellen: Aus einer bewußten, kontrollierbaren und aus einer nicht kontrollierbaren, unter- oder unbewußten Auslösung von Reizen. Antriebe, deren Quellen uns verborgen liegen, aber um so lebhafter uns beherrschen, nennen wir "Instinkte". In zwei große Gruppen, denke ich, sollte man die Instinkte, die unterbewußten Antriebe zur Handlung einteilen: In solche, welche uns überkommen sind, aus früheren Stufen der Entwicklung, welche also gewissermaßen Rückschlagtriebe aus einer früheren Daseinsperiode der Menschheit sind; und in solche, welche der unaufhaltsamen Vorwärtsentwicklung unserer Seelenmechanismen entstammen.
Jene sind Instinkte des Gewesenen (deszendente), diese des Werdenden (aszendente). Beide stehen in Verbindung mit unserm Willensmechanismus, d.h. sie können die Ein- oder Ausschaltung dieser oder jener Handlungsrichtung mehr oder weniger zwingend hervorrufen. Diese ausgelösten Willensaktionen können uns persönlich nützlich oder schädlich sein, sie können aber auch für die Entwicklung der Menschheit als Ganzes fördernd oder hindernd, also erhaltungsgemäß oder entwicklungshemmend sein.
Wo könnte der Seelenforscher für das Überkommene und Eingeborene tiefere Züge der Erkenntnis tun, als bei der Beobachtung des werdenden Menschen, dem jungen Erben des gesamten Menschheitsbesitzes, dem Kinde? Was aber ist des Kindes tiefste Betätigung ? Das Spiel, dieses für die Wissenschaft ernsteste aller Dinge. Ist der Entwicklungsgedanke richtig, so muß ja in den erwachenden Trieben jedes jungen Infanten alles das oder wenigstens das Wichtigste dessen zu erkennen sein, was einst auch Bestand der Kindheit des ganzen Menschengeschlechtes war. Mit anderen Worten: Die Geschichte der Menschheit muß sich gedrängt, konzentriert, im Wesensabdruck wiederholen in den Lebensäußerungen des jungen Bürgen für die Unsterblichkeit des menschlichen Typus. Es muß also am Geborenen funktionell das frühere Geschehen in großen Zügen bemerkbar sein! Und ist es das etwa nicht? Wer je ein Kind in seinem heißen Triebe Erdarbeiten hat machen sehen; wer es beobachtet hat, wie es mit Wasser umgeht, mit diesem heiligen Ernst einer schweren, selbstverständlichen Lebensarbeit, wer seine Lust am Tier, an Pferd, Kühen, Schafen und Ziegen gesehen und wen das Leuchten seiner hocherregten Augen beim Anblick dieser Urahnen-Genossen erfreut hat, dem muß sich der Gedanke aufdrängen: hier ist wirklich das Wissen und Kennenlernen nur ein sokratisches Erinnern, ein Wiedergewinnen längst in ihm schlummernder Gefühle! Nimmt man hinzu seine Lust zum Kampf, ja seine Grausamkeit, ja selbst den Hang zu Lüge und Betrug, so fällt es uns wie Schuppen von den Augen: das sind ja alles, alles Dinge, die Begleiter, Zwecke, Mittel von unausweichbarer Notwendigkeit im Kampfe des Daseins unserer Menschheits-Ahnen waren. Ja, gewiß: hier prägte die formende Hand der Entwicklung Fähigkeiten und Gelüste vor, die nun wie eine Zwangsvorstellung, wie ein stetes Müssen die Willensaktion wie zugeboren zu den Dingen der Umgebung erscheinen lassen. Zählt man nun die dokumentarisch festgelegten Kettenfolgen dazu, unter denen ein Genie, ein Talent der letzte markante Ausläufer in Generationen vorgeübter Fähigkeiten war, so muß man zugestehen: Nichts beweist deutlicher, als das Kind und seine Seele, daß es Triebe und Instinkte gibt, welche wie Reproduktionen, Rückschläge, Wiederholungen ganzer Abschnitte der Stammesvorfahren sich geradezu aufdrängen. Der daseinkämpfende Urmensch mußte Erdarbeiter, Wasserbeherrscher, Tierpfleger, Kämpfer sein, er mußte List, Lüge, Verstellung, Grausamkeit als Mittel seiner Erhaltung gebrauchen, er war dem Getreide, den Blumen, den Farben der Natur wahrlich näher, als ein Großstadtkind, das, trotzdem es am Asphalt und zwischen Steinmauern gedieh, doch seine unendliche Sehnsucht nach Feld, Wald, Wiese eingeboren beibehalten hat. Seht es spielen mit eifergeröteten Wangen am Sandhaufen, am Bach und seht es Blümlein pflücken, nach einem Pferdchen strampeln, nach einem Soldaten zittern, seht es nach dem hellen Sternhimmel langen und zum Mond die Händchen heben—man muß es zugeben: hier waltet ein Erinnern: ein aus den Tiefen des Gewordenen jauchzend aufbrausendes Wiedererkennen ! Dieses Wiedererkennen, dieses Zugehörigkeitsgefühl zu der umgebenden Natur und zu Erstlingsfunktionen vergangener Epochen verläßt nun auch den aufmerksam sich beobachtenden Erwachsenen nie, wenn auch das umgebende Leben neue, erst zu bewältigende Aufgaben an uns stellt und ganz allmählich damit die meisten unserer eingeborenen Instinkte hinabsinken läßt in den tieferen Schacht unseres Innern. Sie sind und bleiben aber doch die Wärme, Licht und Glanz strahlenden Quaderzüge im abgelagerten Gestein der Seelentiefe und des Charakters, Wollen und Wesen eines Menschen ist fest verankert mit der Summe dieser unserer Beobachtung längst entzogenen Urgefühle. Wie viel von unseren Sympathien, von unserm Haß und Lieben, von Neigung und Gewohnheiten, bösen und guten Lüsten mag ferner in der Tiefe des Unterbewußten seine unverschüttbaren Quellen haben ? Was kann des Gewissens Stimme anders sein als das Gefühl der Disharmonie gegen allen Bestand des Überlieferten, in welche uns eine Handlung oder Unterlassung bringt ? Denn ein tiefer Zwiespalt in uns mahnt uns, daß wir mit einer einzigen Tat an den Grundfesten dessen rütteln können, was alle Väter vor uns aufgebaut !
Aber diese Entwicklung steht niemals still, sie drängt unaufhaltsam an gegen die hemmenden Mächte der uns Grenze weisenden Natur. Und dieser Vorwärtstrieb der Entwicklung, diese Sehnsucht unsererseits, wieder vorbildlich zu werden, Merksteine des Erworbenen zu schaffen für die nach uns Kommenden, ist die Quelle dessen, was wir kommende Instinkte nannten. Bietet gerade unsere Zeit nicht ein klassisches Beispiel dafür, wie mächtig diese Triebe eingreifen in das Gestalten der Welt in uns und um uns? Es ist, als schaffte der Menschengeist Geschöpfe, Maschinen, Werkzeuge, Kräfte nach einem in sich selbst gefühlten Ebenbilde! Er spinnt ein Netz gleichsam nervöser, elektrischer Verbindung von Menschengehirn zu Menschengehirn über die ganze Erde, er durchfliegt Erdteile und Meere, er schuf im Leib des Planeten Organe, die ihm Licht und Wärme und neue Kräfte liefern, und hält im bewegten Bilde (Kinematoskop) die Zeit fest und zeigt späteren Generationen die Geschehnisse geschwundener Sekunden ! Wahrlich wir sind in einem klassischen Zeitalter, Zeugen unerhörten Gestaltens, und unser Trieb ist: technische Vollkommenheit. Was Wunder ! wenn bei diesem rasenden Ansturm der aufsteigenden, aufwärtsführenden Instinkte die Probleme des Herzens, der Sittlichkeit, der Religiosität, der Ehrfurcht, der Behaglichkeit, des sich Genügeseins zu kurz kommen ? Das ist die Gefahr schnell vorwärts brausender Kultur. Die Neurasthenie, das allgemeine Nervenzittern ist die Kehrseite der Medaille: die eingeborenen Instinkte sind im Kampf mit den erworbenen. Möglich, daß an diesem Konflikt die moderne Kultur zerschellt, aber die Hoffnung bleibt bestehen, daß auch diese Triebe eben einrücken können in den definitiven Bestand des zu Überliefernden. Wäre das nicht der Fall, so wäre der Weg der Kultur ein einziger großer Ozean des Irrtums. Denn nur, wenn unsere zeitlichen Probleme fähig sind, zu dauernden Instinkten sich einzufügen in den Zukunftsbestand der Menschheit, ist die Fortentwicklung des Menschen als eines auf der Erde dauernd lebensfähigen Organismus garantiert.
No comments:
Post a Comment