DOSTOJEWSKI
„Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.“
Goethe, Westöstlicher Divan
EINKLANG
Es ist schwer und verantwortungsvoll, von Fedor
Michailowitsch Dostojewski und seiner Bedeutung für
unsere innere Welt würdig zu sprechen, denn dieses Einzigen
Weite und Gewalt will ein neues Maß.
Ein umschlossenes Werk, einen Dichter vermeinte erstes
Nahen zu finden und entdeckt Grenzenloses, einen Kosmos
mit eigen kreisenden Gestirnen und anderer Musik
der Sphären. Mutlos wird der Sinn, diese Welt jemals
restlos zu durchdringen: zu fremd ist erster Erkenntnis
ihre Magie, zu weit ins Unendliche verwölkt ihr Gedanke,
zu fremd ihre Botschaft, als daß die Seele unvermittelt aufschauen
könnte in diesen neuen wie in heimatlichen Himmel.
Dostojewski ist nichts, wenn nicht von innen erlebt.
Im tiefsten müssen wir die eigene Kraft des Mitfühlens
und Mitleidens erst prüfen und stählen zu einer neuen
gesteigerten Empfänglichkeit: bis zu den untersten geheimsten
Wurzeln unseres Wesens müssen wir graben, um
die Zusammenhänge mit seiner erst phantastischen und
dann wundervoll wahren Menschlichkeit zu entdecken.
Nur dort, ganz im Untersten, im Ewigen und Unabänderlichen
unseres Seins, Wurzel in Wurzel, können wir uns
Dostojewski zu verbinden hoffen; denn wie fremd scheint
äußerem Blick diese russische Landschaft, die, wie die
Steppen seiner Heimat, weglose und wie wenig Welt von
unserer Welt! Nichts Freundliches umfriedet dort lieblich
den Blick, selten rät eine sanfte Stunde zur Rast.
Mystische Dämmerung des Gefühls, trächtig von Blitzen,
wechselt mit einer frostigen, oft eisigen Klarheit des Geistes,
statt warmer Sonne flammt vom Himmel ein geheimnisvoll
blutendes Nordlicht. Urweltlandschaft, mystische Welt
hat man mit Dostojewskis Sphäre betreten, uralt und jungfräulich
zugleich, und süßes Grauen schlägt einem entgegen
wie vor jeder Nahheit ewiger Elemente. Bald schon sehnt
sich Bewunderung gläubig zu verweilen, und doch warnt
eine Ahnung das ergriffene Herz, hier dürfe es nicht heimisch
werden für immer, müsse es doch wieder zurück in
unsere wärmere, freundlichere, aber auch engere Welt. Zu
groß ist, spürt man beschämt, diese erzene Landschaft für den
täglichen Blick, zu stark, zu beklemmend diese bald eisige,
bald feurige Luft für den zitternden Atem. Und die Seele
würde fliehen vor der Majestät solchen Grauens, wäre nicht
über dieser unerbittlich tragischen, entsetzlich irdischen
Landschaft ein unendlicher Himmel der Güte sternenklar
ausgespannt, Himmel auch unserer Welt, doch höher ins
Unendliche gewölbt in solchem scharfen geistigen Frost,
als in unseren linden Zonen. Beruhigter Aufblick aus
dieser Landschaft zu ihrem Himmel spürt erst die unendliche
Tröstung dieser unendlichen irdischen Trauer, und
ahnt im Grauen die Größe, im Dunkel den Gott.
Nur solcher Aufblick zu seinem letzten Sinne vermag
unsere Ehrfurcht vor dem Werke Dostojewskis in eine
brennende Liebe zu verwandeln, nur der innerste Einblick
in seine Eigenheit das Tiefbrüderliche, das Allmenschliche
dieses russischen Menschen uns klarzutun. Aber wie weit
und wie labyrinthisch ist dieser Niederstieg bis zum innersten
Herzen des Gewaltigen; machtvoll in seiner Weite,
schreckhaft durch seine Ferne, wird dies einzige Werk
in gleichem Maße geheimnisvoller, als wir von seiner unendlichen
Weite in seine unendliche Tiefe zu dringen
suchen. Denn überall ist es mit Geheimnis getränkt. Von
jeder seiner Gestalten führt ein Schacht hinab in die dämonischen
Abgründe des Irdischen, jeder Aufschwung ins
Geistige rührt mit seiner Schwinge bis an Gottes Antlitz.
Hinter jeder Wand seines Werkes, jedem Antlitz seiner
Menschen, jeder Falte seiner Verhüllungen liegt die ewige
Nacht und glänzt das ewige Licht: denn Dostojewski ist
durch Lebensbestimmung und Schicksalsgestaltung allen
Mysterien des Seins restlos verschwistert. Zwischen Tod
und Wahnsinn, Traum und brennend klarer Wirklichkeit
steht seine Welt. Überall grenzt sein persönliches Problem
an ein unlösbares der Menschheit, jede einzelne belichtete
Fläche spiegelt Unendlichkeit. Als Mensch, als Dichter,
als Russe, als Politiker, als Prophet: überall strahlt sein
Wesen von ewigem Sinn. Kein Weg führt an sein Ende,
keine Frage bis in den untersten Abgrund seines Herzens.
Nur Begeisterung darf ihm nahen, und auch sie nur demütig
in der Beschämung, geringer zu sein als seine eigene liebende
Ehrfurcht vor dem Mysterium des Menschen.
Er selbst, Dostojewski, hat niemals die Hand gerührt, um
uns an sich heranzuhelfen. Die anderen Baumeister des
Gewaltigen in unserer Zeit offenbarten ihren Willen.
Wagner legte neben sein Werk die programmatische Erläuterung,
die polemische Verteidigung, Tolstoi riß alle
Türen seines täglichen Lebens auf, jeder Neugier Zutritt,
jeder Frage Rechenschaft zu geben. Er aber, Dostojewski,
verriet seine Absicht nie anders als im vollendeten Werk,
die Pläne verbrannte er in der Glut der Schöpfung.
Schweigsam und scheu war er ein Leben lang, kaum das
Äußerliche, das Körperliche seiner Existenz ist zwingend
bezeugt. Freunde besaß er nur als Jüngling, der Mann
war einsam: wie Verminderung seiner Liebe zur ganzen
Menschheit schien es ihm, einzelnen sich hinzugeben.
Auch seine Briefe verraten nur Notdurft der Existenz,
Qual des gefolterten Körpers, alle haben sie verschlossene
Lippen, so sehr sie Klage und Notruf sind. Viele Jahre,
seine ganze Kindheit sind von Dunkel umschattet, und
schon heute ist er, dessen Blick manche in unserer Zeit
noch brennen sahen, menschlich etwas ganz Fernes und
Unsinnliches geworden, eine Legende, ein Heros und ein
Heiliger. Jenes Zwielicht von Wahrheit und Ahnung, das
die erhabenen Lebensbilder Homers, Dantes und Shakespeares
umwittert, entirdischt uns auch sein Antlitz. Nicht
aus Dokumenten, sondern einzig aus wissender Liebe läßt
sich sein Schicksal gestalten.
Allein also und führerlos muß man hinab in das Herz
dieses Labyrinths zu tasten suchen und den Faden Ariadnes,
der Seele, vom Knäuel der eigenen Lebensleidenschaft
ablösen. Denn je tiefer wir uns in ihn versenken, desto
tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser wahres
allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah.
Wer viel von sich selbst weiß, weiß auch viel von ihm, der
oder keiner das letzte Maß aller Menschlichkeit gewesen.
Und dieser Gang in sein Werk führt durch alle Purgatorien
der Leidenschaft, durch die Hölle der Laster,
führt über alle Stufen irdischer Qual: Qual des Menschen,
Qual der Menschheit, Qual des Künstlers und der letzten,
der grausamsten, der Gottesqual. Dunkel ist der Weg, und
von innen muß man glühen in Leidenschaft und Wahrheitswillen,
um nicht in die Irre zu gehen: unsere eigene
Tiefe erst müssen wir durchwandern, ehe wir uns in die
seine wagen. Er sendet keine Boten, einzig das Erlebnis
führt Dostojewski zu. Und er hat keine Zeugen, keine
anderen als des Künstlers mystische Dreieinheit in Fleisch
und Geist: sein Antlitz, sein Schicksal und sein Werk.
DAS ANTLITZ
Sein Antlitz scheint zuerst das eines Bauern. Lehmfarben,
fast schmutzig falten sich die eingesunkenen Wangen,
zerpflügt von vieljährigem Leid, dürstend und versengt
spannt sich mit vielen Sprüngen die rissige Haut, der jener
Vampir zwanzigjährigen Siechtums Blut und Farbe entzogen.
Rechts und links starren, zwei mächtige Steinblöcke,
die slawischen Backenknochen heraus, den herben Mund,
das brüchige Kinn überwuchert wirrer Busch von Bart. Erde,
Fels und Wald, eine tragisch elementare Landschaft, das
sind die Tiefen von Dostojewskis Gesicht. Alles ist dunkel,
irdisch und ohne Schönheit in diesem Bauern- und beinahe
Bettlerantlitz; flach und farblos, ohne Glanz dunkelt es
hin, ein Stück russische Steppe auf Stein versprengt. Selbst
die Augen, die tief eingesenkten, vermögen aus ihren Klüften
nicht diesen mürben Lehm zu erleuchten, denn nicht
nach außen schlägt klar und blendend ihre gerade Flamme,
gleichsam nach innen ins Blut hinein brennen zehrend
ihre spitzen Blicke. Wenn sie sich schließen, stürzt der
Tod sofort über dies Gesicht, und die nervöse Hochspannung,
die sonst die mürben Züge zusammenhält, sinkt
nieder ins lethargisch Unbelebte.
Wie sein Werk ruft dies Antlitz erst das Grauen vom
Reigen der Gefühle auf, dem sich zögernd Scheu und dann
leidenschaftlich, in wachsender Bezauberung, Bewunderung
gesellt. Denn nur die irdische Niederung, die fleischliche,
seines Antlitzes dämmert hin in dieser düster-erhabenen
naturhaften Trauer. Aber wie eine Kuppel, weißstrahlend
und gewölbt, hebt sich ragend über dem engen
bäurischen Gesicht die aufstrebende Rundung der Stirne:
aus Schatten und Dunkel steigt blank und gehämmert der
geistige Dom: harter Marmor über den weichen Lehm des
Fleisches, das wüste Dickicht des Haares. Alles Licht
strömt in diesem Antlitz nach oben, und blickt man in sein
Bild, so fühlt man immer nur sie, diese breite mächtige,
königliche Stirne, sie, die immer strahlender leuchtet und
sich zu weiten scheint, je mehr das alternde Antlitz in
Krankheit vergrämt und vergeht. Wie ein Himmel steht
sie hoch und unerschütterlich über der Hinfälligkeit des
gebrestigen Körpers, Glorie von Geist über irdischer
Trauer. Und auf keinem Bilde leuchtet dies heilige Gehäuse
des sieghaften Geistes glorreicher als von jenem des
Totenbetts, da die Lider schlaff über die gebrochenen
Augen gefallen sind, die entfärbten Hände, fahl und doch
fest, das Kreuz gierig umfassen (jenes arme kleine Holzkruzifix,
das einst eine Bäuerin dem Zuchthäusler schenkte).
Da strahlt sie wie von morgens die Sonne über nächtiges
Land nieder auf das entseelte Antlitz und kündet mit ihrem
Glanz die gleiche Botschaft wie alle seine Werke: daß der
Geist und der Glaube ihn erlösten vom dumpfen niederen
und körperlichen Leben. In letzter Tiefe ist immer Dostojewskis
letzte Größe: und nie spricht sein Antlitz stärker
als aus seinem Tod.
DIE TRAGÖDIE SEINES LEBENS
„Non vi si pensa quanto sangue costa.“
Dante
Immer ist bei Dostojewski Grauen der erste Eindruck
und der zweite dann Größe. Auch sein Schicksal scheint
anfangs dem flüchtigen Blick so grausam und gemein, wie
sein Antlitz bäuerisch und gewöhnlich. Zuerst empfindet
man es nur als eine sinnlose Marter, denn mit allen Instrumenten
der Qual foltern diese sechzig Jahre den hinfälligen
Körper. Die Feile der Not reibt seiner Jugend und seinem
Alter die Süße weg, die Säge des körperlichen Schmerzes
knirscht in sein Gebein, die Schraube der Entbehrung
wühlt ihm hart bis an den Lebensnerv, die brennenden
Drähte der Nerven zucken und zerren unaufhörlich durch
seine Glieder, der feine Stachel der Wollust reizt unersättlich
seine Leidenschaft. Keine Qual ist gespart, keine
Marter vergessen. Eine sinnlose Grausamkeit, eine blindwütige
Feindseligkeit scheint dies Schicksal vorerst. Rückschauend
nur begreift man, daß es sich so hart zum Hammer
geschmiedet, weil es Ewiges aus ihm meißeln wollte, daß
es gewaltig war, um einem Gewaltigen gemäß zu sein.
Denn nichts mißt es dem Maßlosen gemächlich zu, nirgends
ähnelt sein Lebensgang dem gut gepflasterten breiten
Bürgersteig aller anderen Dichter des neunzehnten
Jahrhunderts, immer fühlt man hier eines finstern Schicksalsgottes
Lust, sich stark an dem Stärksten zu versuchen.
Alttestamentarisch, heroisch und in nichts neuzeitlich und
bürgerlich ist Dostojewskis Schicksal. Ewig muß er mit
dem Engel ringen wie Jakob, ewig sich gegen Gott empören
und ewig sich beugen wie Hiob. Nie läßt es ihn
sicher werden, nie träge, immer muß er den Gott spüren,
der ihn straft, weil er ihn liebt. Nicht eine Minute darf er
rasten im Glück, damit sein Weg bis ins Unendliche gehe.
Manchmal scheint der Dämon seines Schicksals schon
innezuhalten in seinem Zorn und ihm zu verstatten, wie
alle anderen die gemeine Straße des Lebens zu gehen, aber
immer wieder reckt sich die gewaltige Hand und stößt ihn
ins Dickicht zurück, in die brennenden Dornen. Schleudert
es ihn hoch, so ists nur, um ihn in tiefere Abgründe hinabzustürzen,
ihn die ganze Weite der Ekstase und Verzweiflung
zu lehren; es hebt ihn auf in Höhen des Hoffens, wo
andere schwach zerschmelzen in Wollust, und wirft ihn in
Schlünde des Leidens, wo alle andern zerschellen in
Schmerz: und eben wie Hiob zerschmettert es ihn immer
in den Augenblicken der höchsten Sicherheiten, nimmt
ihm Frau und Kind, belädt ihn mit Krankheit und schändet
ihn mit Verachtung, damit er nicht innehalte, mit
Gott zu rechten und ihm durch seine unaufhörliche Empörung
und seine unaufhörliche Hoffnung nur mehr gewonnen
sei. Es ist, als hätte sich diese Zeit lauer Menschen
gerade diesen einen aufgespart, um zu zeigen, welche titanischen
Maße in Lust und Qual auch unserer Welt noch
möglich seien, und er, Dostojewski, scheint dumpf den gewaltigen
Willen über sich zu spüren. Denn niemals wehrt
er sich gegen sein Schicksal, niemals hebt er die Faust.
Der Körper, der wunde, bäumt sich konvulsivisch in
Zuckungen empor, aus seinen Briefen bricht manchmal
wie Blutsturz ein heißer Schrei, aber der Geist, der Glaube,
zwingt die Revolte nieder. Der mystisch Wissende in
Dostojewski spürt das Heilige dieser Hand, den tragisch
fruchtbaren Sinn seines Schicksals. Aus seinem Leid wird
Liebe zum Leiden, und mit der wissenden Glut seiner
Qual umflammt er seine Zeit, seine Welt.
Dreimal schwingt ihn das Leben empor, dreimal reißt
es ihn nieder. Früh schon atzt es ihn mit der süßen
Speise des Ruhms: sein erstes Buch schenkt ihm einen
Namen; aber rasch faßt ihn die harte Kralle und schleudert
ihn wieder zurück ins Namenlose: ins Zuchthaus, in die
Katorga, nach Sibirien. Wieder taucht er, nur noch stärker
und mutiger, empor: seine Memoiren aus dem Totenhause
reißen Rußland in einen Taumel. Der Zar selbst
netzt das Buch mit seinen Tränen, die russische Jugend
steht in Flammen für ihn. Er gründet eine Zeitschrift,
seine Stimme tönt zum ganzen Volke, die ersten Romane
entstehen. Da bricht im Wettersturz seine materielle Existenz
zusammen, Schulden und Sorgen peitschen ihn aus
dem Land, Krankheit beißt sich in sein Fleisch, ein Nomade,
irrt er durch ganz Europa, vergessen von seiner Nation.
Aber zum drittenmal, nach Jahren der Arbeit und Entbehrung,
taucht er aus den grauen Gewässern namenloser
Not: die Rede zu Puschkins Gedächtnis bezeugt ihn als
den ersten Dichter, den Propheten seines Landes. Unauslöschlich
ist nun sein Ruhm. Aber gerade jetzt schlägt ihn
die eiserne Hand nieder, und die verzückte Begeisterung
seines ganzen Volkes schäumt ohnmächtig gegen einen
Sarg. Das Schicksal bedarf seiner nicht mehr, der grausam
weise Wille hat alles erreicht, aus seiner Existenz das
Höchste gewonnen an geistiger Frucht: achtlos wirft es
nun die leere Hülse des Körpers hin.
Durch diese sinnvolle Grausamkeit wird Dostojewskis
Leben zum Kunstwerk, seine Biographie zur Tragödie.
Und in wundervoller Symbolik nimmt sein künstlerisches
Werk die typische Form des eigenen Schicksals an. Es
gibt da geheimnisvolle Identitäten, mystische Zusammenhänge,
wunderbare Spiegelungen, die nicht zu deuten und
zu erklären sind. Schon der Anbeginn seines Lebens ist
Symbol: Fedor Michailowitsch Dostojewski wird im
Armenhaus geboren. Mit der ersten Stunde ist ihm so
schon die Stelle seiner Existenz angewiesen, irgendwo im
Abseits, im Verachteten, nahe dem Bodensatz des Lebens
und doch mitten im menschlichen Schicksal, nachbarlich
von Leiden, Schmerz und Tod. Niemals bis zum letzten
Tage (er starb in einem Arbeiterviertel, in einer Winkelwohnung
des vierten Stocks) ist er dieser Umgürtung entronnen,
alle die sechsundfünfzig schweren Jahre seines
Lebens bleibt er mit Elend, Armut, Krankheit und Entbehrung
im Armenhaus des Lebens. Sein Vater, Militärarzt
wie der Schillers, ist adliger Abstammung, seine Mutter
aus Bauernblut: beide Quellen des russischen Volkstums
strömen so befruchtend in seine Existenz zusammen,
strenggläubige Erziehung wendet schon früh seine Sinnlichkeit
zur Ekstase. Dort im Moskauer Armenhaus, in
einem engen Verschlag, den er mit seinem Bruder teilt,
hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Die ersten
Jahre: man wagt nicht zu sagen: seine Kindheit, denn
dieser Begriff ist irgendwo aus seinem Leben verschollen.
Niemals hat er von ihr gesprochen, und Dostojewskis
Schweigen war immer Scham oder stolze Angst vor fremdem
Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort in seiner
Biographie, wo sonst bei Dichtern bunte Bilder lächelnd
aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein süßes Bedauern.
Und doch meint man ihn zu kennen, blickt man tiefer in
die brennenden Augen der Kindergestalten, die er schuf.
Wie Koljä muß er gewesen sein, frühreif, phantasievoll
bis zur Halluzination, voll jener flackernden, unsicheren
Glut, etwas Großes zu werden, voll jenes gewaltsamen
und knabenhaften Fanatismus, über sich selbst hinauszuwachsen
und „für die ganze Menschheit zu leiden“.
Wie die kleine Njetoscha Neswanowa muß er kelchvoll
gewesen sein mit Liebe und zugleich der hysterischen Angst,
sie zu verraten. Und wie jener Iljutschka, der Sohn des
betrunkenen Hauptmanns, voll Scham über häusliche Kläglichkeiten
und den Jammer der Entbehrungen, aber doch
immer bereit, seine Nächsten vor der Welt zu verteidigen.
Wie er dann, ein Jüngling, aus dieser finsteren Welt
vortritt, ist die Kindheit schon weggelöscht. In die ewige
Freistatt aller Unbefriedigten, das Asyl der Vernachlässigten
ist er geflohen, in die bunte und gefährliche
Welt der Bücher. Er hat unendlich viel damals mit seinem
Bruder gemeinsam gelesen, Tag um Tag und Nacht für
Nacht – schon damals trieb er, der Unersättliche, jede
Neigung bis zum Laster empor –, und diese phantastische
Welt entfernt ihn noch mehr von der Wirklichkeit. Voll
stärkster Begeisterung zur Menschheit ist er doch bis ins
Krankhafte menschenscheu und verschlossen, Glut und
Eis zugleich, ein Fanatiker gefährlichster Einsamkeit. Seine
Leidenschaft tappt wirr umher, geht in diesen „Kellerjahren“
alle dunklen Wege der Ausschweifung, aber immer
einsam mit Ekel in aller Lust, Schuldgefühl bei jedem
Glück und immer mit verbissenen Lippen. Aus Geldnot,
nur um der paar Rubel willen, geht er zum Militär: auch
dort findet er keinen Freund. Ein paar dumpfe Jünglingsjahre
kommen. Wie die Helden aller seiner Bücher lebt
er in einem Winkel ein troglodytisches Dasein, träumend,
sinnend, mit allen geheimen Lastern des Denkens und der
Sinne. Sein Ehrgeiz weiß noch keinen Weg, er lauscht auf
sich selbst und bebrütet seine Kraft. Er spürt sie mit Wollust
und Grauen tief unten gären, er liebt sie und fürchtet
sie, er wagt nicht, sich zu rühren, um dies dumpfe Werden
nicht zu zerstören. Ein paar Jahre verharrt er in diesem
schwarzen, formlosen Puppenstand von Einsamkeit und
Schweigen, Hypochondrie fällt ihn an, eine mystische
Angst zu sterben, ein Grauen oft vor der Welt, oft vor
sich selbst, ein urmächtiger Schauer vor dem Chaos in
der eigenen Brust. In den Nächten übersetzt er, um seinen
verwirrten Finanzen aufzuhelfen (sein Geld zerfloß, typisch
genug, in den gegensätzlichen Neigungen, in Almosen und
Ausschweifungen), Balzacs Eugenie Grandet und Schillers
Don Carlos. Aus dem trüben Dunst dieser Tage ballen
sich langsam eigene Formen, und endlich reift aus diesem
vernebelten traumhaften Zustand von Angst und Ekstase
sein erstes dichterisches Werk, der kleine Roman „Arme
Leute“.
1844, mit vierundzwanzig Jahren, hat er diese meisterhafte
Menschenstudie geschrieben, er, der Einsamste, „mit
leidenschaftlicher Glut, ja fast unter Tränen“. Seine tiefste
Demütigung, die Armut, hat es gezeugt, seine höchste
Gewalt, die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden es
gesegnet. Mißtrauisch betrachtet er die beschriebenen
Blätter. Er ahnt darin eine Frage an das Schicksal, die
Entscheidung, und nur mühsam entschließt er sich, Nekrasoff,
dem Dichter, das Manuskript zur Prüfung anzuvertrauen.
Zwei Tage vergehen ohne Antwort. Einsam
grüblerisch sitzt er nachts zu Hause, arbeitet, bis die Lampe
verqualmt. Plötzlich um vier Uhr morgens wird heftig
an der Klingel gerissen, und Dostojewski, dem erstaunt
Öffnenden, stürzt Nekrasoff in die Arme, umhalst, küßt
ihn und jubelt ihm zu. Er und ein Freund hatten gemeinsam
das Manuskript gelesen, die ganze Nacht gehorcht,
gejubelt und geweint, und am Ende hielt es beide nicht:
sie mußten ihn umarmen. Es ist Dostojewskis erste Lebenssekunde,
diese Klingel nachts, die ihn zum Ruhm ruft.
Bis in den hellen Morgen tauschen die Freunde Glück
und Ekstase in heißen Worten. Dann eilt Nekrasoff zu
Bjelinski, dem allmächtigen Kritiker Rußlands. „Ein neuer
Gogol ist erstanden“, ruft er schon an der Türe, das Manuskript
wie eine Fahne schwingend. „Bei euch wachsen
die Gogols wie die Pilze“, brummt der Mißtrauische, durch
so viel Begeisterung verärgert. Aber als Dostojewski ihn
am nächsten Tag besucht, ist er verwandelt. „Ja, begreifen
Sie denn selbst, was Sie da geschaffen haben“, schreit er
voll Erregung den verwirrten jungen Menschen an. Grauen
überfällt Dostojewski, ein süßer Schauer vor diesem neuen
plötzlichen Ruhm. Wie im Traum geht er die Treppe
hinab, an der Straßenecke bleibt er taumelnd stehen. Zum
erstenmal fühlt er und wagt doch nicht, es zu glauben,
daß all dies Dunkle und Gefährliche, das ihm das Herz
auftrieb, ein Gewaltiges ist und vielleicht das „Große“,
von dem seine Kindheit wirr geträumt, die Unsterblichkeit,
das Leiden für die ganze Welt. Erhebung und Zerknirschung,
Stolz und Demut schwanken wirr durch seine
Brust, er weiß nicht, welcher Stimme er glauben soll. Trunken
taumelt er über die Straße, und in seine Tränen mischen
sich Glück und Schmerz.
So melodramatisch geschieht Dostojewskis Entdeckung
zum Dichter. Auch hier ahmt die Form seines Lebens
die seiner Werke geheimnisvoll nach. Hier wie dort haben
die rohen Konturen etwas von der banalen Romantik eines
Schauerromans, die Schicksalsschläge etwas Kindlich-Primitives,
und nur die innere Größe und Wahrheit reißt
sie empor zum Grandiosen. In Dostojewskis Leben ist
oft der Ansatz Melodram, aber immer wird es zur Tragödie.
Es ist ganz auf Spannung gestellt: in einzelne
Sekunden, ohne Übergang, sind die Entscheidungen komprimiert,
mit zehn oder zwanzig solcher Sekunden der
Ekstase oder des Niedersturzes sein ganzes Schicksal fixiert.
Epileptische Ausbrüche des Lebens – eine Sekunde Ekstase
und ohnmächtiger Zusammenbruch – könnte man
sie nennen. Hinter jeder Ekstase steht schon drohend
die graue Dämmerung des erschlaffenden Gefühls, und
aus langem Gewölk ballt sich behutsam der neue mörderische
Lebensblitz. Jeder Aufschwung ist bezahlt durch
Niedersturz und diese eine Sekunde der Begnadung mit
vielen hoffnungslosen Stunden des Robots und der Verzweiflung.
Der Ruhm, dieser funkelnde Reif, den ihm
Bjelinski in jener Stunde aufs Haupt drückt, ist auch
gleichzeitig schon der erste Ring einer Fußkette, an der
Dostojewski klirrend sein Leben lang die schwere Kugel
der Arbeit schleppt. Die „Hellen Nächte“, sein erstes
Buch, bleibt auch das letzte, das er als freier Mann einzig
um der schöpferischen Freude willen schuf. Dichten besagt
für ihn von nun ab auch: erwerben, zurückerstatten,
abzahlen, denn jedes Werk, das er seither beginnt, ist vor
der ersten Zeile schon mit Vorschuß verpfändet, das noch
ungeborene Kind in die Sklaverei des Gewerbes verkauft.
Für immer ist er jetzt in das Bagno der Literatur gemauert,
ein Leben lang gellen die verzweifelten Schreie des Eingesperrten
nach Freiheit, aber erst der Tod bricht seine
Ketten. Noch ahnt der Beginner nicht die Qual in der
ersten Lust. Ein paar Novellen sind rasch vollendet, und
schon plant er einen neuen Roman.
Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will
nicht, sein wachsamer Dämon, daß ihm das Leben zu
leicht werde. Und damit er es erkennen lerne in allen
seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, der ihn liebt, seine
Prüfung.
Wieder wie damals in der Nacht gellt die Klingel,
Dostojewski öffnet erstaunt, aber diesmal ists nicht die
Stimme des Lebens, ein jubelnder Freund, Botschaft des
Ruhms, sondern Ruf des Todes. Offiziere und Kosaken
dringen in sein Zimmer, der Aufgestörte wird verhaftet,
seine Papiere versiegelt. Vier Monate schmachtet er in
einer Zelle der Sankt-Pauls-Festung, ohne das Verbrechen
zu ahnen, dessen man ihn beschuldigt: Teilnahme an den
Diskussionen einiger aufgeregter Freunde, die man übertrieben
die Petraschewskysche Verschwörung genannt hat, ist
sein ganzes Delikt, seine Verhaftung zweifellos ein Mißverständnis.
Dennoch blitzt plötzlich die Verurteilung nieder
zur härtesten Strafe, zum Tode durch Pulver und Blei.
Wieder drängt sich sein Schicksal in eine neue Sekunde,
die engste und reichste seiner Existenz, eine unendliche
Sekunde, in der sich Tod und Leben die Lippen reichen
zum brennenden Kuß. Im Morgengrauen wird er mit
neun Gefährten aus dem Gefängnis geholt, ein Sterbehemd
ihm umgeworfen, die Glieder an den Pfahl geschnürt und
die Augen verbunden. Er hört sein Todesurteil lesen und
die Trommeln knattern – sein ganzes Schicksal ist zusammengepreßt
in eine Handvoll Erwartung, unendliche
Verzweiflung und unendliche Lebensgier in ein einziges
Molekül Zeit. Da hebt der Offizier die Hand, winkt mit
dem weißen Tuche und verliest die Begnadigung, das
Todesurteil in sibirisches Gefängnis verwandelnd.
In einen Abgrund ohne Namen stürzt er jetzt hinab aus
seinem ersten jungen Ruhm. Vier Jahre lang umgrenzen
fünfzehnhundert eichene Pfähle seinen ganzen Horizont.
An ihnen zählt er mit Kerben und mit Tränen Tag um
Tag die viermal dreihundertfünfundsechzig Tage ab. Seine
Genossen sind Verbrecher, Diebe und Mörder, seine Arbeit
Alabasterschleifen, Ziegeltragen, Schneeschaufeln. Die
Bibel wird das einzig verstattete Buch, ein räudiger Hund
und ein flügellahmer Adler seine einzigen Freunde. Vier
Jahre weilt er im „Totenhaus“, in der Unterwelt, Schatten
zwischen Schatten, namenlos und vergessen. Als sie ihm
dann die Kette von den wunden Füßen abschmieden und
die Pfähle hinter ihm liegen, eine braune morsche Mauer,
ist er ein anderer: seine Gesundheit zerstört, sein Ruhm
zerstäubt, seine Existenz vernichtet. Nur seine Lebenslust
bleibt unversehrt und unversehrbar: heller als je flammt
aus dem schmelzenden Wachs seines zerkneteten Körpers
die heiße Flamme der Ekstase. Ein paar Jahre noch muß
er in Sibirien verbleiben, halbfrei und ohne die Verstattung,
eine Zeile zu veröffentlichen. Dort in der Verbannung,
in bitterster Verzweiflung und Einsamkeit geht er jene
seltsame Ehe mit seiner ersten Frau ein, einer kranken
und eigenartigen, die seine mitleidige Liebe unwillig erwidert.
Irgendeine dunkle Tragödie der Aufopferung ist
in diesem seinen Entschluß für immer der Neugier und
Ehrfurcht verborgen, nur aus einigen Andeutungen in
den „Erniedrigten und Beleidigten“ vermag man den
schweigsamen Heroismus dieser phantastischen Opfertat
zu ahnen.
Ein Vergessener, kehrt er nach Petersburg zurück. Seine
literarischen Gönner haben ihn fallen gelassen, seine
Freunde sich verloren. Aber mutig und kraftvoll ringt er
sich aus der Welle, die ihn niederwarf, wieder ans Licht.
Seine „Erinnerungen aus dem Totenhause“, diese unvergängliche
Schilderung einer Sträflingszeit, reißen Rußland
aus der Lethargie gleichgültigen Miterlebens. Mit Grauen
entdeckt die ganze Nation, daß ganz atemnah unter der
flachen Schicht ihrer ruhigen Welt eine andere waltet,
ein Purgatorium aller Qualen. Bis in den Kreml empor
schlägt die Flamme der Anklage, der Zar schluchzt über
dem Buche, von tausend Lippen klingt Dostojewskis Name.
In einem einzigen Jahr ist sein Ruhm wieder erbaut, höher
und dauerhafter als je. Gemeinsam mit seinem Bruder
gründet der Auferstandene eine Zeitschrift, die er selbst
fast allein schreibt, dem Dichter gesellt sich der Prediger,
der Politiker, der „Praeceptor Russiae“. Stürmisch tönt
der Widerhall, die Zeitschrift hat weiteste Verbreitung,
ein Roman wird vollendet, heimtückisch, mit vielen blinzelnden
Blicken lockt ihn das Glück. Dostojewskis Schicksal
scheint für immer gesichert.
Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem
Leben waltet: Es ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist
ihm noch fremd, die Marter des Exils und die fressende
Angst der täglichen, erbärmlichen Nahrungssorgen. Sibirien
und die Katorga, die grauenhafteste Verzerrung Rußlands,
sie war immerhin noch Heimat gewesen, nun soll
er noch die Sehnsucht des Nomaden nach dem Zelte
kennen lernen um der urmächtigen Liebe zum eigenen
Volk willen. Noch einmal muß er zurück ins Namenlose,
noch tiefer hinab in das Dunkel, ehe er der Dichter, der
Herold seiner Nation sein darf. Wieder zuckt ein Blitz
nieder, eine Sekunde der Vernichtung: die Zeitschrift
wird verboten. Wieder ist es ein Mißverständnis und
gleich mörderisch wie das erste. Und nun fällt, Wetterschlag
auf Wetterschlag, das Grauen mitten in sein Leben.
Seine Frau stirbt, kurz nach ihr sein Bruder und gleichzeitig
sein bester Freund und Helfer. Zweier Familien
Schulden hängen sich bleiern an ihn und krümmen sein
Rückgrat unter unerträglicher Last. Noch wehrt er sich
verzweifelt, arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt,
redigiert, druckt selbst, nur um Geld zu ersparen, die Ehre,
die Existenz zu retten, aber das Schicksal ist stärker als
er. Wie ein Verbrecher flüchtet er vor seinen Gläubigern
eines Nachts hinaus in die Welt.
Nun beginnt jene jahrelange ziellose Wanderung durch
das europäische Exil, jene grauenhafte Abschnürung von
Rußland, dem Blutquell seines Lebens, die ärger seine
Seele beengte als die Pfähle der Katorga. Furchtbar ist es
auszudenken, wie der größte russische Dichter, der Genius
seiner Generation, der Bote einer Unendlichkeit, mittellos,
heimatlos, ziellos von Land zu Land irrt. Mit Mühe
findet er Herbergen in kleinen niederen Zimmern, die der
Dunst der Armut füllt, der Dämon der Epilepsie krallt
sich an seine Nerven, Schulden, Wechsel, Verpflichtungen
peitschen ihn von Arbeit zu Arbeit, Verlegenheit und
Scham jagt ihn von Stadt zu Stadt. Blinkt ein Strahl Glück
in sein Leben, so schiebt das Schicksal sogleich neue dunkle
Wolken vor. Ein junges Mädchen, seine Stenographin,
war seine zweite Frau geworden, aber das erste Kind, das
sie ihm schenkt, rafft die Entkräftung, die Not des Exils
schon nach wenigen Tagen fort. War Sibirien das Purgatorium,
der Vorhof seines Leidens, so ist Frankreich,
Deutschland, Italien sicherlich seine Hölle. Kaum wagt
man sich diese tragische Existenz zu vergegenwärtigen.
Aber immer in Dresden, wenn ich durch die Straßen gehe,
vorbei an irgendeinem niederen und schmutzigen Haus,
so faßt michs an, ob er da nicht irgendwo wohnte, zwischen
kleinen sächsischen Krämern und Handlangern, oben
im vierten Stock, einsam, unendlich einsam in dieser fremden
Geschäftigkeit. Keiner hat ihn gekannt in all diesen
Jahren. Eine Stunde weit in Naumburg wohnt Friedrich
Nietzsche, der einzige, der ihn verstehen könnte, Richard
Wagner, Hebbel, Flaubert, Gottfried Keller, die Zeitgenossen
sind da, aber er weiß von ihnen nichts und sie
nichts von ihm. Wie ein großes gefährliches Tier, struppig
und in abgetragenen Kleidern, schleicht er aus seiner Arbeitshöhle
scheu auf die Straße, immer den gleichen Weg,
in Dresden, in Genf, in Paris: ins Café, in einen Klub, um
nur russische Zeitungen zu lesen. Rußland will er spüren,
Heimat, den bloßen Anblick der cyrillischen Lettern, den
flüchtigen Atem des heimischen Wortes. Manchmal setzt
er sich, nicht aus Liebe zur Kunst (ewig blieb er der byzantinische
Barbar, der Bilderstürmer), sondern um sich zu
wärmen, in die Galerie. Er weiß nichts von den Menschen,
die um ihn sind, er haßt sie nur, weil sie nicht Russen sind,
haßt die Deutschen in Deutschland, die Franzosen in
Frankreich. Sein Herz horcht nach Rußland, nur sein
Körper vegetiert teilnahmslos in dieser fremden Welt. Kein
Gespräch, keine Begegnung hat irgendeiner der deutschen,
französischen oder italienischen Dichter bezeugt. Nur im
Bankhaus kennen sie ihn, wo er bleich tagtäglich an den
Schalter kommt und mit vor Erregung zitternder Stimme
fragt, ob nicht endlich der Wechsel aus Rußland gekommen sei, die hundert Rubel, für die er sich tausendfach in Worten
vor niedrigen und fremden Menschen in die Knie gestürzt.
Schon lachen die Angestellten über den armen
Narren und seine ewige Erwartung. Auch im Pfandleihhaus
ist er steter Gast: alles hat er dort versetzt, einmal
sogar seine letzte Hose, um nur ein Telegramm nach
Petersburg senden zu können, einen jener markerschütternden
Schreie, wie sie immer wieder gellend in seinem Briefe
wiederkehren. Das Herz krampft sich zusammen, liest man
die speichelleckerisch, hündisch demütigenden Briefe dieses
Gewaltigen, in denen er um zehn erbetener Rubel willen
fünfmal den Heiland anruft, diese entsetzlichen Briefe, die
keuchen, heulen und winseln für eine erbärmliche Handvoll
Geld. Die Nächte hindurch arbeitet er und schreibt,
während seine Frau nebenan in den Wehen stöhnt, während
die Epilepsie schon die Kralle spannt, ihm das Leben
aus der Kehle zu pressen, während die Hausfrau mit der
Polizei um ihre Miete droht und die Hebamme um ihre
Bezahlung keift – schreibt er „Raskolnikoff“, den „Idioten“,
die „Dämonen“, den „Spieler“, diese monumentalen
Werke des neunzehnten Jahrhunderts, diese universellen
Gestaltungen unserer ganzen seelischen Welt. Die Arbeit
ist seine Rettung und seine Qual. In ihr lebt er in Rußland,
in der Heimat. In der Ruhe schmachtet er in Europa,
in der Katorga. Immer tiefer stürzt er sich darum in seine
Werke hinein. Sie sind das Elixier, das ihn trunken macht,
sie sind das Spiel, das seine Nerven, die gepeinigten, zu
höchster Lust anspannt. Und zwischendurch zählt er, wie
einst die Pfähle des Zuchthauses, gierig die Tage: Heimkehren
können als Bettler, aber nur heimkehren! Rußland,
Rußland, Rußland ist der ewige Schrei seiner Not. Aber
noch darf er nicht zurück, noch muß er der Namenlose
bleiben um des Werkes willen, der Märtyrer all dieser
fremden Straßen, der einsame Dulder ohne Schrei und
Klage. Noch muß er beim Gewürm des Lebens wohnen,
ehe er aufsteigt in die große Herrlichkeit des ewigen Ruhms.
Schon ist sein Körper ausgehöhlt von den Entbehrungen,
immer häufiger schmettern die Keulenschläge der Krankheit
auf sein Gehirn, daß er tagelang betäubt liegen bleibt,
mit verdunkelten Sinnen, um sich mit erster Kraft taumelnd
wieder an den Schreibtisch zu schleppen. Fünfzig Jahre
ist Dostojewski alt: aber er hat die Qual von Jahrtausenden
erlebt.
Da sagt endlich, im letzten, drängendsten Augenblick
sein Schicksal: Es ist genug. Gott wendet Hiob wieder
sein Antlitz zu: Mit zweiundfünfzig Jahren darf Dostojewski
wieder zurück nach Rußland. Seine Bücher haben
für ihn geworben, Turgenjeff, Tolstoi sind verschattet.
Rußland blickt nur mehr auf ihn. Das „Tagebuch eines
Schriftstellers“ macht ihn zum Herold seines Volkes, und
mit letzter Kraft und höchster Kunst vollendet er sein
Testament an die Zukunft der Nation: „Die Karamasoff“.
Und nun entschleiert sein Schicksal endgültig ihm den
Sinn und schenkt dem Geprüften eine Sekunde höchsten
Glücks, die ihm weisen soll, daß der Same seines Lebens
in unendlicher Saat aufgegangen ist. Endlich ist in einem
Augenblick Dostojewskis sein Triumph so zusammengedrängt
wie einst seine Qual, einen Blitz schickt ihm sein
Gott, aber diesmal nicht einen, der ihn niederschlägt, sondern
einen, der ihn wie seine Propheten mit feurigem Wagen
ins Ewige entrückt. Zum hundertsten Geburtstag Puschkins
sind die großen Dichter Rußlands entboten, die Festrede
zu halten. Turgenjeff, der Westler, der Dichter, der
ein Leben lang ihm den Ruhm usurpierte, hat den Vorrang
und spricht unter lauer und freundlicher Zustimmung.
Am nächsten Tag ist das Wort Dostojewski gegeben, und
er faßt es in dämonischer Trunkenheit wie einen Donnerkeil.
Mit Flammen der Ekstase, die aus seiner leisen, heiseren
Stimme plötzlich wie ein Gewitter bricht, verkündet
er die heilige Mission der russischen Allversöhnung, wie
hingemäht stürzen die Zuhörer an seine Knie. Der Saal
erbebt unter der Explosion des Jubels, Frauen küssen ihm
die Hände, ein Student bricht ohnmächtig vor ihm zusammen,
alle anderen Redner verzichten auf das Wort.
Ins Unendliche wächst die Begeisterung und feurig entbrennt
die Glorie über dem Haupt mit der Dornenkrone.
Dies wollte sein Schicksal noch: in einer glühenden
Minute die Erfüllung seiner Mission, den Triumph des
Werkes zeigen. Dann wirft es – die reine Frucht ist gerettet
– die verdorrte Hülse seines Körpers hin. Am 10. Februar
1881 stirbt Dostojewski. Ein Schauer geht durch
Rußland. Ein Augenblick wortloser Trauer. Aber dann
flutets heran, aus den fernsten Städten reisen gleichzeitig
und doch ohne Vereinbarung Deputationen, ihm die letzte
Ehre zu erweisen. Aus allen Winkeln der tausendhäuserigen
Stadt schäumt jetzt – zu spät! zu spät! – die ekstatische
Liebe der Menge heran, alles will den Toten sehen, den
sie ein Leben lang vergessen. Die Schmiedestraße, in der
er aufgebahrt ist, braust schwarz von Menschen, finstere
Massen schwemmen in schauerndem Schweigen die Stiegen
des Arbeiterhauses empor und füllen die engen Räume bis
hart an den Sarg. Nach ein paar Stunden ist der Blumenschmuck
verschwunden, unter den man ihn gebettet, weil
hundert Hände sich einzelne Blüten als kostbare Reliquie
mitnehmen. So stickig wird die Luft des engen Raumes,
daß die Kerzen keine Nahrung mehr haben und verlöschen.
Immer drängender fluten die Massen heran, Welle auf
Welle gegen den Toten. Von ihrem Ansturm schwankt
der Sarg und will hinstürzen: mit den Händen müssen ihn
die Witwe, die erschreckten Kinder aufrecht halten. Der
Polizeipräsident will das öffentliche Leichenbegängnis verbieten,
bei dem die Studenten die Ketten des Sträflings
hinter seinem Sarge zu tragen planen, aber er wagt es
schließlich nicht gegen eine Begeisterung, die sonst mit
Waffen sich die Teilnahme erzwungen hätte. Und bei dem
Leichenzuge wird plötzlich Dostojewskis heiliger Traum
für eine Stunde zum Geschehnis: das einige Rußland.
Wie in seinem Werk durch das bruderselige Gefühl alle
Klassen und Stände Rußlands, so sind die Hunderttausende
hinter dem Sarg durch ihren Schmerz eine einzige Masse;
junge Prinzen, prunkvolle Popen, Arbeiter, die Studenten,
Offiziere, Lakaien und Bettler, sie alle unter einem wehenden
Wald von Fahnen und Bannern klagen mit einer
Stimme um den teuren Toten. Die Kirche, in der man ihn
eingesegnet, ist ein einziger Blumenhain, und vor seinem
offenen Grabe vereinigen sich alle Parteien zu einem Schwur
der Liebe und Bewunderung. So schenkt er seiner Nation
mit seiner letzten Stunde einen Augenblick der Versöhnung
und hält mit dämonischer Kraft noch einmal die zur Raserei
gespannten Gegensätze seiner Zeit zusammen. Und
wie ein grandioser Salut für den Toten springt hinter
seinem letzten Weg die furchtbare Mine auf: die Revolution.
Drei Wochen später wird der Zar ermordet, der
Donner des Aufstandes rollt, Blitze der Züchtigung durchzucken
das Land: Wie Beethoven stirbt Dostojewski im
heiligen Aufruhr der Elemente, im Gewitter.
SINN SEINES SCHICKSALS
Ein Meister bin ich worden
Zu tragen Lust und Leid,
Und meine Lust zu leiden,
Ward mir zur Seligkeit.
Gottfried Keller
Ein unaufhörlicher Kampf ist zwischen Dostojewski
und seinem Schicksal, eine Art liebevoller Feindschaft.
Alle Konflikte spitzt es ihm schmerzhaft zu, alle Kontraste
dehnt es ihm zum Zerreißen schmerzhaft auseinander;
es tut ihm weh, das Leben, weil es ihn liebt, und er
liebt es, weil es ihn so stark faßt, denn im Leiden erkennt
dieser Wissendste die stärkste Möglichkeit des Gefühls.
Nie gibt das Schicksal ihn frei, immer knechtet es ihn aufs
neue, um diesen einen gläubigen Menschen sich zum
ewigen Blutzeugen seiner Macht und Herrlichkeit zu erschaffen.
Wie Jakob ringt es mit ihm, die unendliche Nacht
seines Lebens bis zum Morgenrot des Todes und läßt ihn
nicht aus der Umkrampfung, ehe er es nicht gesegnet hat.
Und Dostojewski, der „Gottesknecht“, begreift die Größe
dieser Botschaft und findet höchstes Glück darin, der ewig
Bezwungene unendlicher Mächte zu sein. Mit fiebernden
Lippen küßt er sein Kreuz: „Es gibt für den Menschen
kein notwendigeres Gefühl, als sich vor dem Unendlichen
beugen zu können.“ In die Knie gebrochen unter der Last
seines Schicksals, hebt er fromm die Hände und bezeugt
die heilige Größe des Lebens.
In dieser Leibeigenschaft des Schicksals ist Dostojewski
durch Demut und Erkenntnis der große Überwinder alles
Leidens geworden, der mächtigste Meister und Umwerter
seit den Tagen des Testaments. Nur durch die Gewalttätigkeiten
seines Schicksals ward er selbst gewaltig, und
die Hammerschläge, die auf den Amboß seiner Existenz
fallen, schmieden erst seine innere Kraft. Je tiefer sein
Körper stürzt, desto höher schwingt sich sein Glaube, je
mehr er als Mensch erleidet, um so seliger erkennt er den
Sinn und die Notwendigkeit des Weltleidens. Amor fati,
die hingegebene Liebe zum Schicksal, die Nietzsche als
das fruchtbarste Gesetz des Lebens preist, läßt ihn in jeder
Feindlichkeit nur die Fülle fühlen, jede Heimsuchung als
Heil. Wie Bileam verwandelt jeder Fluch sich dem Auserwählten
zum Segen, jede Erniedrigung in Erhöhung. In
Sibirien, Ketten an den Füßen, verfaßt er einen Hymnus
an den Zaren, der ihn unschuldig zum Tode verurteilt, in
uns unverständlicher Demut küßt er immer wieder die
Hand, die ihn züchtigt; wie Lazarus noch fahl vom Sarge
erstehend, ist er immer bereit, Zeugnis für die Schönheit
des Lebens abzulegen, und aus seinem täglichen Sterben,
aus seinen Krämpfen und epileptischen Zuckungen, noch
Schaum vor dem Munde, rafft er sich auf, den Gott zu
lobpreisen, der ihm diese Prüfung gesandt. Alles Leiden
zeugt in seiner aufgetanen Seele neue Liebe zum Leiden,
unersättlichen, lechzenden flagellantischen Durst nach
neuen Märtyrerkronen. Schlägt ihn das Schicksal hart, so
stöhnt er, blutend zusammenstürzend, schon nach neuen
Schlägen. Jeden Blitz, der ihn trifft, fängt er auf und verwandelt,
was ihn verbrennen sollte, in seelisches Feuer und
schöpferische Ekstase.
Gegen eine solche dämonische Verwandlungskraft des
Erlebnisses verliert das äußere Schicksal gänzlich seine
Herrschaft. Was Strafe und Prüfung scheint, wird dem
Wissenden Hilfe, was den Menschen in die Knie stürzen
soll, richtet den Dichter erst eigentlich auf. Was einen
Schwächeren zermalmt hätte, stählt diesem Ekstatiker nur
die Kraft. Das Jahrhundert, das gern mit Sinnbildern spielt,
gibt eine Probe solcher Doppelwirkung gleichen Erlebnisses.
Einen anderen Dichter unserer Welt, Oscar Wilde,
streift ähnlicher Blitz. Beide stürzen sie, Schriftsteller von
Namen, Adelige von Rang, eines Tages aus der bürgerlichen
Sphäre ihrer Existenz ins Zuchthaus hinab. Aber
der Dichter Wilde wird in dieser Prüfung zermalmt wie
in einem Mörser, der Dichter Dostojewski aus ihr erst geformt
wie Erz in feurigem Tiegel. Denn Wilde, der noch
sozial empfindet, mit dem äußeren Instinkt des Gesellschaftsmenschen,
fühlt sich geschändet durch das bürgerliche
Brandmal, und das Furchtbarste an Erniedrigung wird
ihm jenes Bad in Reading Gaol, wo sein gepflegter Edelmannsleib
in das von zehn anderen Sträflingen schon beschmutzte
Wasser hinab muß. Eine ganz privilegierte
Klasse, die Kultur der Gentlemen, schauert in seinem
Grauen vor der physischen Vermengung mit dem Gemeinen.
Dostojewski, der neue Mensch über allen Ständen,
brennt dieser Gemeinsamkeit entgegen mit schicksalstrunkener
Seele, zum Purgatorium seines Stolzes wird ihm
das gleiche schmutzige Bad. Und in der demütigen Hilfeleistung
eines schmierigen Tartaren erlebt er ekstatisch
das christliche Mysterium der Fußwaschung. Wilde, in
dem der Lord den Menschen überlebt, leidet bei den Sträflingen
unter der Furcht, sie möchten ihn für ihresgleichen
nehmen, Dostojewski leidet nur so lange, als Diebe und
Mörder ihm noch die Bruderschaft verweigern, denn er
fühlt jeden Abstand, jede Nicht-Bruderschaft als Makel,
als Unzulänglichkeit seiner Menschlichkeit. Wie Kohle
und Diamant gleiches Element, so ist dies Doppelschicksal
eines und doch ein anderes für diese beiden Dichter.
Wilde ist fertig, wie er aus dem Zuchthaus kommt, Dostojewski
beginnt erst, Wilde verbrennt zur wertlosen Schlacke
in gleicher Glut, die Dostojewski zu funkelnder Härte
formt. Wilde wird gezüchtigt wie ein Knecht, weil er sich
wehrt, Dostojewski triumphiert über sein Schicksal durch
Liebe zu seinem Schicksal.
Solch ein Umwandler seiner Heimsuchungen ist Dostojewski,
solch ein Umwerter aller Erniedrigungen, daß nur
ein härtestes Schicksal ihm gemäß war. Denn gerade aus
den äußeren Gefahren seiner Existenz hat er die höchsten
inneren Sicherheiten gewonnen, seine Qualen werden ihm
Gewinn, seine Laster Steigerungen, seine Hemmungen
Auftriebe. Sibirien, die Katorga, die Epilepsie, die Armut,
die Spielwut, die Wollüstigkeit, all diese Krisen seiner
Existenz werden durch eine dämonische Umwertungskraft
fruchtbar in seiner Kunst, denn wie die Menschen ihre
kostbarsten Metalle aus den schwärzesten Tiefen der Bergwerke,
zwischen den Gefahren schlagender Wetter, tief
unter der spaziergängerischen Fläche des gesicherten
Lebens, so gewinnt der Künstler seine flammendsten Wahrheiten,
seine letzten Erkenntnisse immer nur aus den gefährlichsten
Abgründen seiner Natur. Künstlerisch gesehen
eine Tragödie, ist das Leben Dostojewskis moralisch eine
Errungenschaft ohnegleichen, weil Triumph des Menschen
über sein Schicksal, eine Umwertung der äußeren
Existenz durch die innere Magie.
Ohne Beispiel vor allem der Triumph geistiger Lebenskraft
über einen siechen, gebrestigen Körper. Vergessen
wir nicht, daß Dostojewski ein Kranker war, daß dieses
eherne unvergängliche Werk aus geborstenen hinfälligen
Gliedern, aus zuckenden und glühend flackernden Nerven
gewonnen ist. Mitten durch seinen Körper war gefährlichstes
Leiden gepfählt, ewig gegenwärtiges grauenhaftes
Sinnbild des Todes: die Fallsucht. Dostojewski war Epileptiker
die ganzen dreißig Jahre seiner Künstlerschaft.
Mitten im Werk, auf der Straße, im Gespräch, selbst im
Schlaf krallt sich plötzlich die Hand des „würgenden
Dämons“ um seine Kehle und schmettert ihn so jäh,
Schaum vor dem Munde, zu Boden, daß der überraschte
Körper sich im Falle blutig schlägt. Das nervöse Kind
spürt schon in seltsamen Halluzinationen, in grauenhaften
psychischen Anspannungen das Wetterleuchten der Gefahr,
zum Blitz wird aber „die heilige Krankheit“ erst im
Zuchthaus geschmiedet. Dort preßt sie die ungeheuere
Überspannung der Nerven urmächtig heraus, und wie
jedes Unglück, wie Armut und Entbehrung, bleibt die
Körpernot Dostojewski treu bis in die letzte Stunde. Seltsam
aber: niemals lehnt sich der Gemarterte mit einem
Wort gegen die Prüfung auf. Nie klagt er über sein Gebrechen
wie Beethoven über seine Taubheit, Byron über
seinen verkürzten Fuß, Rousseau über sein Blasenleiden,
ja nirgends ist bezeugt, daß er jemals ernstlich dagegen
Heilung gesucht habe. Getrost darf man das Unwahrscheinliche
als gewiß nehmen, daß er mit jener unendlichen Amor
fati diese seine Krankheit liebte, als Schicksal liebte wie
jedes seiner Laster und Gefahren. Die Spürsucht des Dichters
bändigt das Leiden des Menschen: Dostojewski wird
Herr seines Leidens, indem er es belauscht. Die äußerste
Gefahr seines Lebens, die Epilepsie, er verwandelt sie in
ein höchstes Geheimnis seiner Kunst: eine nie gekannte
geheimnisvolle Schönheit saugt er aus diesen Zuständen,
die wundervoll in den Augenblicken taumelnden Vorgefühls
gesammelte Ichekstase. In ungeheuerlichster Abbreviatur
ist hier der Tod mitten im Leben erlebt und in
dieser einen Sekunde vor dem jedesmaligen Sterben, die
stärkste, berauschendste Essenz des Seins, die pathologisch
gesteigerte Anspannung des „Sichselbstempfindens“. Wie
ein magisches Symbol bringt ihm das Schicksal immer
wieder seinen intensivsten Lebensaugenblick, die Minute
am Semenowski-Platz ins Blut zurück, als sollte er niemals
den grausigen Kontrast zwischen dem All und dem
Nichts in seinem Gefühl verlernen. Auch hier schnürt
immer Dunkel den Blick, auch hier stürzt wie Wasser aus
übervoller, gebeugter Schale die Seele dem Körper aus,
schon zittert sie mit gespannten Flügeln zu Gott empor,
schon spürt sie überirdisches Licht auf den entkörperten
Schwingen, Strahl und Gnade einer anderen Welt, schon
sinkt die Erde, schon tönen die Sphären – da stürzt ihn
der Donner des Erwachens wieder zerbrochen ins gemeine
Leben hinab. Immer wenn Dostojewski diese eine Minute
beschreibt, das traumhafte Glücksgefühl, das seine unerhörte
Scharfsichtigkeit beobachtend beseelt, wird seine
Stimme leidenschaftlich in Rückerinnerung und der Augenblick
des Grauens zum Hymnus: „Ihr gesunden Menschen,
ihr ahnt nicht,“ predigt er begeistert, „welches
Wonnegefühl den Epileptiker eine Sekunde vor dem Anfall
durchdringt. Mohammed erzählt im Koran, er sei im
Paradies gewesen in der kurzen Frist, da sein Krug umstürzte
und das Wasser ausrann, und alle klugen Narrenköpfe
behaupten, er sei ein Lügner und Betrüger. Das ist
aber nicht wahr, er lügt nicht. Sicher war er im Paradies
während eines epileptischen Anfalls, einer Krankheit, an
der er wie ich selber litt. Ich weiß nie, ob diese Wonnesekunde
Stunden dauert, aber glaubt mir, alle Freude des
Lebens möchte ich nicht dafür eintauschen.“
In dieser glühenden Sekunde geht Dostojewskis Blick
über das Einzelne der Welt hinaus und umfaßt in loderndem
Allgefühl die Unendlichkeit. Aber was er verschweigt,
ist die bittere Züchtigung, mit der er jede dieser krampfhaften
Annäherungen an Gott bezahlt. Ein grauenhafter
Zusammenbruch klirrt die kristallenen Sekunden in reißende
Scherben, mit zerbrochenen Gliedern und stumpfen
Sinnen stürzt er, ein anderer Ikarus, in die irdische Nacht
zurück. Das Gefühl, noch geblendet vom unendlichen
Licht, tastet sich mühsam im Gefängnis des Körpers zurecht,
wie Würmer kriechen die Sinne blind am Boden
des Seins, die eben mit seligen Schwingen Gottes Antlitz
umfingen. Dostojewskis Zustand nach jedem Anfall ist
ein fast idiotisches Dämmern, dessen ganzes Grauen er
sich selbst im Fürsten Myschkin mit flagellantischer Deutlichkeit
ausgemalt hat. Er liegt im Bett mit zerschlagenen,
oft zerstoßenen Gliedern, die Zunge gehorcht nicht dem
Laut, die Hand nicht der Feder, mürrisch und niedergeschlagen
wehrt er sich gegen alle Gemeinschaft. Die Helligkeit
des Gehirns, das tausend Einzelheiten eben in harmonischer
Verkürzung umfaßte, ist zerschellt, er weiß sich
der nächsten Dinge nicht mehr zu erinnern, der Lebensfaden,
der ihn der Umwelt, der ihn seinem Werk verbindet,
ist zerrissen. Einmal, nach einem Anfall während der
Niederschrift der „Dämonen“, fühlt er mit Grauen, daß ihm
nichts mehr bewußt ist von all den Geschehnissen der
eigenen Erfindung, selbst den Namen des Helden hat er
vergessen. Erst mühsam lebt er sich wieder in die Gestaltung
hinein, treibt die erschlaffenden Visionen mit drängendem
Willen wieder zu voller Glut auf, bis – bis ihn
eben ein neuer Anfall hinschmettert. So, das Grauen der
Fallsucht im Rücken, den bitteren Nachgeschmack des
Todes auf den Lippen, gehetzt von Not und Entbehrung,
sind seine letzten, die gewaltigsten Romane entstanden.
Auf der Kippe zwischen Tod und Wahnsinn, nachtwandlerisch
sicher, steigt sein Schaffen noch gewaltig empor,
und aus diesem ständigen Sterben erwächst dem ewig
Auferstandenen jene dämonische Kraft, das Leben gierig
zu umklammern, um ihm sein Höchstes an Gewalt und
Leidenschaft zu entpressen.
Dieser Krankheit, diesem dämonischen Verhängnis
dankt Dostojewskis Genie so viel (Mereschkowski hat die
Antithese blendend durchgeführt) als Tolstoi seiner Gesundheit.
Sie hat ihn emporgeschwungen zu konzentrierten
Gefühlszuständen, wie sie dem normalen Empfinden
nicht gegeben sind, hat ihm geheimnisvollen Blick verliehen
in die Unterwelt des Gefühles und die Zwischenreiche
der Seele. Das grandios Doppelgängerische seines Wesens,
dies Wachsein im hitzigsten Traum, das Nachschleichen
des Intellekts in die letzten Labyrinthe des Gefühls, hat
ihn befähigt, zum ersten Male den pathologischen Geschehnissen
ihre Metaphysik zu geben, und voll zu schildern, was
sonst das analytische Skalpell der Wissenschaft nur unvollkommen
am abgestorbenen klinischen Fall ertastet. Wie
Odysseus, der Vielgewanderte, Botschaft vom Hades, so
bringt er, der einzig wach Wiederkehrende, peinlichste
Beschreibung aus dem Land der Schatten und Flammen
und bezeugt mit seinem Blut und dem kalten Schauer
seiner Lippen die Existenz ungeahnter Zustände zwischen
Leben und Tod. Dank seiner Krankheit gelingt ihm das
Höchste der Kunst, das Stendhal einmal formulierte,
„d'inventer des sensations inédites“, Gefühle, die bei uns
alle im Keim vorhanden sind und nur infolge der kühlen
Klimatik unseres Blutes nicht zu voller Reife kommen,
in voller tropischer Entfaltung darzustellen. Die Feinhörigkeit
des Kranken läßt ihn die letzten Worte der Seele
erlauschen, ehe sie ins Delirium sinkt, die gesteigerte Feinfühligkeit
mißt mit stärkstem Ausschlag die zartesten Vibrationen
der Sinne, und eine mystische Scharfsichtigkeit
in den Sekunden des Vorgefühls zeugt bei ihm seherische
Gabe des zweiten Gesichts, die Magie des Zusammenhangs.
O wunderbare Verwandlung, fruchtbar in allen
Krisen des Herzens! Der Künstler Dostojewski zwingt
sich alle Gefahr in Besitz um, und auch der Mensch gewinnt
nur neue Größe aus neuem Maß. Denn für ihn
bedeuten Glück und Leid, die Endpunkte des Gefühls,
eine ungleich gesteigerte Intensität, er mißt nicht mit den
gemeinen Werten des durchschnittlichen Lebens, sondern
mit den siedenden Graden seiner eigenen Phrenesie. Das
Maximum an Glück, einem andern ist es Genuß einer
Landschaft, Besitz einer Frau, Gefühl der Harmonie, immer
aber durch irdische Zustände verstatteter Besitz. Bei Dostojewski
sind die Siedepunkte des Empfindens schon im
Unerträglichen, im Tödlichen. Sein Glück ist Spasma,
der schäumende Krampf, seine Qual die Zerschmetterung,
der Kollaps, der Zusammenbruch: immer aber blitzartig
komprimierte essentielle Zustände, die im Irdischen keine
Dauer haben können, die solche Hitzegrade erreichen, daß
kaum eine Sekunde sie in ihren Händen halten kann und
schmerzhaft sinken lassen muß. Wer im Leben ständig
den Tod erlebt, kennt ein urmächtigeres Grauen als der
Normale, wer die körperlose Schwebe gefühlt, eine höhere
Lust als ein Körper, der nie die harte Erde ließ. Sein Begriff
von Glück meint die Verzückung, sein Begriff von
Qual die Vernichtung. Darum hat auch das Glück
seiner Menschen nichts von einer gesteigerten Heiterkeit,
sondern es flimmert und brennt wie Feuer, es zittert von
verhaltenen Tränen und schwült von Gefahr, es ist ein
unerträglicher, undauerhafter Zustand, ein Leiden mehr
als ein Genießen. Seine Qual wiederum hat etwas, das
den gemeinen Zustand von dumpfer würgender Angst,
von Last und Grauen schon überbrückt hat, eine eiskalte,
beinahe lächelnde Klarheit, eine teuflische Gier der Bitterkeit,
die keine Träne kennt, ein trockenes kollerndes
Lachen und ein dämonisches Grinsen, in dem wiederum
beinahe schon Lust ist. Nie war vor ihm die Gegensätzlichkeit
des Gefühles ähnlich weit aufgerissen, nie die
Welt so schmerzhaft weit gespannt als zwischen diesem
neuen Pol der Ekstase und Zernichtung, die er jenseits
aller gewohnten Maße von Glück und Leiden gestellt hat.
In dieser Polarität, die ihm das Schicksal aufgeprägt hat,
und nur aus ihr ist Dostojewski zu verstehen. Er ist das
Opfer eines zwiespältigen Lebens und – als leidenschaftlicher
Bejaher seines Schicksals – darum Fanatiker seines
Kontrastes. Die Heißglut seines künstlerischen Temperaments
entsteht einzig aus der fortwährenden Reibung
dieser Gegensätze und, statt sie zu vereinen, reißt der Maßlose
in ihm den eingeborenen Zwiespalt immer weiter auseinander
zu Himmel und Hölle: nie verheilt die klaffende
Wunde im brennenden geistigen Fieber des Schaffens.
Dostojewski, der Künstler, ist das vollkommenste Gegensatzprodukt,
der größte Dualist der Kunst und vielleicht der
Menschheit. Symbolisch bringt eins seiner Laster diesen
Urwillen seiner Existenz in sichtbare Form: seine krankhafte
Liebe zum Glücksspiel. Der Knabe schon ist leidenschaftlicher
Kartenspieler, aber erst in Europa lernt er
den Teufelsspiegel seiner Nerven kennen: das Rouge et
Noir, das Roulett, dieses in seinem primitiven Dualismus
so grausam gefährliche Spiel. Der grüne Tisch in Baden-Baden,
die Spielbank in Monte Carlo sind seine stärksten
Ekstasen in Europa: mehr als die Sixtinische Madonna,
die Plastiken Michelangelos, die Landschaften des Südens,
Kunst und Kultur aller Welt hypnotisieren sie seinen
Nerv. Denn hier ist Spannung, Entscheidung – Schwarz
oder Rot, gerad oder ungerad, Glück oder Vernichtung, Gewinn
oder Verlust – in eine einzige Sekunde des rollenden
Rades gepreßt, Spannung konzentriert zu jener schmerzhaft-lustvollen
Blitzform des springenden Gegensatzes,
die einzig seinem Charakter entspricht. Die sanften Übergänge,
die Ausgleiche, die matten Steigerungen sind seiner
fiebrischen Ungeduld unerträglich, er mag nicht Geld
verdienen auf deutsche, auf „Wurstmacherart“, durch
Umsicht, Sparsamkeit und Berechnung, ihn reizt der Zufall,
die Hingabe an das Ganze. Die Form seines äußern
Schicksals ahmt vor dem grünen Tische der Wille in steter
Herausforderung bewußt-unbewußt nach: die Abbreviatur
der Entscheidungen in eine einzige Sekunde, die zur Spitze
geschärfte Sensation, die ihre glühende Nadel tief in den
Nerv bohrt, geheimnisvoll ähnlich der Sekunde im Vorgefühl
und Niederbruch des epileptischen Blitzes, und
jener unvergeßlichen Sekunde vom Semenowski-Platz.
Wie das Schicksal mit ihm spielte, so spielt er nun mit
dem Schicksal: er reizt den Zufall zu künstlichen Spannungen,
und gerade wenn er gesichert ist, wirft er immer
mit zitternder Hand seine ganze Existenz auf den grünen
Tisch. Dostojewski ist nicht Spieler aus Geldhunger, sondern
aus unerhörtem „unanständigem“, aus Karamasoffschem
Lebensdurst, der alles in den stärksten Essenzen will,
aus krankhafter Sehnsucht nach Schwindligkeit, aus jenem
„Turmgefühl“, der Lust, sich über den Abgrund zu beugen.
Denn er liebt den Abgrund, die Tiefe des Lebens, das
Dämonische des Zufalls, er liebt in fanatischer Demut die
Mächte, die stärker sind als seine Eigenmacht, und lockt mit
ewiger Reizung immer wieder ihren mörderischen Blitz
auf sein Haupt. Dostojewski provoziert im Glücksspiel
das Schicksal: was er einsetzt, ist nicht Geld und immer
sein letztes Geld, sondern damit seine ganze Existenz;
was er ihm abgewinnt, ist äußerster Nervenrausch, tödliche
Schauer, Urangst, das dämonische Weltgefühl. Selbst
im goldenen Gift hat Dostojewski nur neuen Durst nach
dem Göttlichen getrunken.
Selbstverständlich, daß er diese Leidenschaft wie jede
andere über alles Maß hinaus bis zum Äußersten, bis hinein
in das Laster trieb. Haltzumachen, Vorsicht, Bedenklichkeit
waren diesem Titanentemperament fremd:
„Überall und in allem mein ganzes Leben lang habe ich
die Grenze überschritten.“ Und dies, Grenzen zu überschreiten,
ist künstlerisch seine Größe wie menschlich
seine Gefahr: er macht nicht halt vor den Zäunen der bürgerlichen
Moral, und niemand weiß genau zu sagen, wie
weit sein Leben die juridische Grenze überschritten hat,
wieviel von den verbrecherischen Instinkten seiner Helden
in ihm selbst Tat geworden ist. Einzelnes ist bezeugt,
doch wohl das Geringere nur. Als Kind hat er betrogen
im Kartenspiel, und wie sein tragischer Narr Marmeladow
in „Schuld und Sühne“ aus Gier nach Branntwein die
Strümpfe seiner Frau, so stiehlt auch Dostojewski der seinen
Geld und ein Kleid aus dem Schrank, um es im Roulett
zu verspielen. Wie weit seine sinnlichen Ausschweifungen
aus den „Kellerjahren“ ins Perverse hinüberzittern, wieviel
von den „Spinnen der Wollust“ Swidrigailow, Stawrogin
und Fedor Karamasow sich auch bei ihm in sexuellen
Verstörungen auslebte, wagen die Biographen nicht zu erörtern.
Seine Neigungen und Perversitäten, auch sie wurzeln
jedenfalls in der geheimnisvollen Kontrastgier von
Verderbtheit und Unschuld, aber es ist nicht wesenhaft,
diese Legenden und Konjekturen (so deutsam sie sind) zu
erörtern. Wichtig ist nur, nicht zu verkennen, daß dem
Heiland, dem Heiligen, dem Aljoscha in Dostojewski-Karamasow
der Gegenspieler des Wollüstlings, des überreizten
Sexualmenschen, der schmutzige Fedor im Blute
verschwistert war.
Nur dies ist gewiß: Dostojewski war auch in seiner Sinnlichkeit
Überschreiter des bürgerlichen Maßes und dies nicht
im linden Sinn Goethes, der einst in dem berühmten Worte
sagte, daß er die Anlagen zu allen Schändlichkeiten und Verbrechen
lebendig in sich empfände. Denn Goethes ganze gewaltige
Entwicklung bedeutet nichts als eine einzige, ungeheuere
Anstrengung, diese gefährlich wuchernden Keime
in sich auszuroden. Der Olympier will zur Harmonie, seine
höchste Sehnsucht ist Zerstörung alles Gegensatzes, Erkältung
des Blutes, die ruhevolle Schwebe der Kräfte. Er verschneidet
die Sinnlichkeit in sich, er rottet unter stärksten
Blutverlusten für seine Kunst alle gefährlichen Keime allmählich
um der Sittlichkeit willen aus, allerdings mit dem
Gemeinen auch viel von seiner Kraft vernichtend. Dostojewski
aber, leidenschaftlich in seinem Dualismus wie in
allem, was ihm vom Leben zugefallen, will nicht empor
zur Harmonie, die für ihn Starre ist, er bindet nicht seine
Gegensätze ins Göttlich-Harmonische, sondern spannt sie
auseinander zu Gott und Teufel und hat dazwischen die
Welt. Er will unendliches Leben. Und Leben ist ihm
einzig elektrische Entladung zwischen den Polen des
Kontrastes. Was Keim in ihm war, das Gute und das
Schlechte, das Gefährliche und das Fördernde, muß empor,
alles wird an seiner tropischen Leidenschaft Blüte und
Frucht. Wild läßt er sein Laster aufwuchern, ungehemmt
seine Instinkte, selbst die verbrecherischen, hinein ins
Leben jagen. Er liebt seine Laster, seine Krankheit, das
Spiel, seine Bosheit und selbst die Wollust, weil sie eine
Metaphysik des Fleisches ist, ein Wille des Genusses ins
Unendliche hinein. Goethe will zum Antikisch-Apollinischen,
Dostojewski zum Bacchantischen. Er will nicht
Olympier, nicht gottähnlich, sondern nur starker Mensch
sein. Seine Moral geht nicht auf Klassizität, auf eine
Norm, sondern einzig auf Intensität. Richtig leben heißt
für ihn: stark leben und alles leben, beides zugleich, das
Gute und das Schlechte, und beides in seinen stärksten,
berauschendsten Formen. Deshalb hat Dostojewski nie
eine Norm gesucht, sondern immer nur die Fülle. Neben
ihm steht Tolstoi inmitten seines Werkes beunruhigt auf,
hält inne, läßt die Kunst und quält sich ein Leben lang,
was gut sei, was böse, ob er richtig lebe oder falsch. Tolstois
Leben ist darum didaktisch, ein Lehrbuch, ein Pamphlet,
das Dostojewskis ein Kunstwerk, eine Tragödie, ein
Schicksal. Er handelt nicht zweckmäßig, nicht bewußt,
er prüft sich nicht, er verstärkt sich nur. Tolstoi klagt
sich aller Todsünden an, laut und vor allem Volke. Dostojewski
schweigt, aber sein Schweigen sagt mehr von Sodom,
als alle Anklagen Tolstois. Dostojewski will sich
nicht beurteilen, nicht verändern, nicht verbessern, nur
immer eines: sich verstärken. Gegen das Böse, gegen das
Gefährliche seiner Natur leistet er keinen Widerstand, im
Gegenteil, er liebt seine Gefahr als Antrieb, er vergöttert
seine Schuld um der Reue willen, seinen Stolz für die Demut.
Kindlich wäre es darum, das Dämonische seines
Wesens zu verschweigen (das dem Göttlichen so nahe verschwistert
ist), ihn moralisch zu „entschuldigen“ und für
die kleine Harmonie des bürgerlichen Maßes zu retten,
was die elementare Schönheit des Maßlosen hat.
Wer den Karamasoff schuf, die Gestalt des Studenten
aus der „Jugend“, den Stawrogin der „Dämonen“, den
Swidrigailow des „Raskolnikoff“, diese Fanatiker des
Fleisches, diese großen Besessenen der Wollust, diese wissenden
Meister der Unzucht, dem waren im Leben auch die
niedrigsten Formen der Sinnlichkeit persönlich bewußt,
denn eine geistige Liebe zur Ausschweifung ist vonnöten,
um diesen Gestalten ihre grausame Realität zu geben. Seine
unvergleichliche Reizbarkeit kannte die Erotik in ihrem
doppelten Sinn, kannte die der fleischlichen Trunkenheit,
wo sie in den Schlamm taumelt und Unzucht wird, bis zu
ihren feinsten geistigen Abstiegen, wo sie zur Bosheit,
zum Verbrechen erstarrt, er kannte sie unter allen ihren
Masken, und mit wissendstem Blick lächelt er in ihre
Raserei. Und er kennt sie in ihren edelsten Formen, wo
die Liebe fleischlos wird, Mitleid, seliges Erbarmen, Weltbruderschaft
und stürzende Träne. All diese geheimnisvollen
Essenzen waren in ihm und nicht nur in flüchtigen
chemischen Spuren, wie bei jedem wahrhaften Dichter,
sondern in den reinsten, kräftigsten Extrakten. Mit sexueller
Erregung und einer fühlbaren Vibration der Sinne
ist jede Ausschweifung bei ihm geschildert und vieles wohl
mit Lust erlebt. Damit meine ich aber nicht (Blutfremde
mögen es so verstehen), daß Dostojewski ein Wüstling
war, einer, der sich freute am Fleischlichen, ein Lebemann.
Er war nur lustsüchtig, wie er qualsüchtig war, ein
Leibeigener des Triebes, Sklave einer herrischen geistigen
und körperlichen Neugier, die ihn mit Ruten ins Gefährliche
hineinpeitschte, ins Dornendickicht der abseitigen
Wege. Seine Lust, auch sie ist nicht banales Genießen,
sondern Spiel und Einsatz der ganzen sinnlichen Lebenskraft,
das immer wieder und wieder Empfindenwollen der
geheimnisvollen gewitterigen Schwüle der Epilepsie, Konzentration
des Gefühles in ein paar gespannte Sekunden
gefährlicher Vorlust und dann der dumpfe Niedersturz
in die Reue. Er liebt in der Lust nur das Flimmern von
Gefahr, das Spiel der Nerven, dies Naturhafte innerhalb
des eigenen Körpers, er sucht in einer seltsamen Mischung
von Bewußtheit und dumpfer Scham in jeder Lust das
Gegenspiel, den Bodensatz der Reue, in der Schändung
die Unschuld, im Verbrechen die Gefahr. Dostojewskis
Sinnlichkeit ist ein Labyrinth, in dem sich alle Wege
verschlingen, Gott und das Tier sind nachbarlich in
einem Fleische, und man verstehe in diesem Sinn das
Symbol der Karamasoff, daß Aljoscha, der Engel, der
Heilige gerade der Sohn Fedors, der grausamen „Spinne
der Wollust“ ist. Wollust zeugt die Reinheit, das Verbrechen
die Größe, Lust das Leiden und das Leiden wieder
Lust. Ewig berühren sich die Gegensätze: zwischen
Himmel und Hölle, Gott und Teufel spannt sich seine
Welt.
Grenzenlose, restlose wissend-wehrlose Hingabe an sein
zwiespältiges Schicksal, amor fati ist darum Dostojewskis
letztes und einziges Geheimnis, der schöpferische Feuerquell
seiner Ekstase. Eben weil das Leben ihm so gewaltig zugemessen
war, weil es ihm Unermeßlichkeiten des Gefühles im
Leiden auftat, hat er das grausam-gütige, göttlich-unverständliche,
ewig unerlernbare, ewig mystische Leben geliebt.
Denn sein Maß ist die Fülle, die Unendlichkeit. Nie wollte
er seinen Lebensgang milderen Wellenschlags, einzig sich
selbst noch konzentrierter, intensiver, und darum biegt er nie
inneren und äußeren Gefahren aus, sind sie doch Möglichkeiten
der Sensation, Entzündungen des Nervs. Was Keim
war in ihm, Keim des Guten und des Bösen, jede Leidenschaft,
jedes Laster hat er aufgesteigert durch Begeisterung
und Selbstekstase, nichts ausgerodet an Gefahr in seinem
wissenden Blut. Restlos gibt sich der Spieler in ihm als
Einsatz an das leidenschaftliche Spiel der Mächte, denn
nur im Rollen von Schwarz und Rot, Tod oder Leben,
spürt er taumlig-süß die ganze Wollust seiner Existenz.
„Du hast mich hineingestellt, du wirst mich wieder hinausführen“,
ist mit Goethe seine Antwort an die Natur.
„Corriger la fortune“, das Schicksal zu verbessern, auszubiegen,
abzuschwächen, fällt ihm nicht bei. Nie sucht
er Vollendung, Abschluß, Ende in einer Ruhe, nur Steigerung
des Lebens im Leiden, immer höher lizitiert er sein
Gefühl zu neuen Spannungen, denn nicht sich will er gewinnen,
sondern die höchste Summe des Gefühls. Er will
nicht wie Goethe zum Kristall erstarren, kalt mit hundert
Flächen das bewegte Chaos spiegelnd, sondern Flamme
bleiben, selbstzerstörend, täglich sich vernichtend, um täglich
sich neu aufzubauen, ewig sich wiederholend, aber immer
mit gesteigerter Kraft und aus gespannterem Gegensatz.
Er will nicht das Leben meistern, sondern das Leben fühlen.
Nicht der Herr sein, sondern der fanatische Leibeigene
seines Schicksals. Und nur so, als der „Gottesknecht“, der
Hingebendste aller, konnte er der Wissendste alles Menschlichen
werden.
Dostojewski hat die Herrschaft über sein Schicksal an
das Schicksal zurückgegeben: dadurch wird sein Leben
gewaltig über die zufällige Zeit. Er ist der dämonische
Mensch, untertan den ewigen Mächten, und in seiner Gestalt
ersteht mitten im klaren dokumentarischen Licht
unserer Epoche noch einmal der schon vergangen geglaubte
Dichter mystischer Zeiten, der Seher, der große Rasende,
der Schicksalsmensch. Etwas Urzeitliches und Heroisches
liegt in dieser titanischen Gestalt. Steigen die anderen literarischen
Werke wie beblümte Berge aus den Niederungen
der Zeit, Zeugen einer gestaltenden Urkraft zwar
noch, aber schon gesänftigt in Dauer und zugänglich
selbst in ihren Höhen, wo sie mit weißer Schneekrone
ins Unendliche reichen, so scheint die Kuppe seiner
Schöpfung, phantastisch und grau, ein vulkanisches unfruchtbares
Gestein. Aber aus dem Krater seiner zerrissenen
Brust reicht Glut bis zum untersten feurig-flüssigen
Kern unserer Welt: hier sind noch Zusammenhänge mit
aller Anfänge Anfang, mit dem Elementaren der Urkraft,
und schaudernd spüren wir in seinem Schicksal und Werk
die geheimnisvolle Tiefe aller Menschlichkeit.
DIE MENSCHEN DOSTOJEWSKIS
„O glaubet nicht an die Einheit des Menschen.“
Dostojewski
Vulkanisch er selbst, vulkanisch darum seine Helden,
denn jeder Mensch bezeugt im letzten nur den Gott, der
ihn erschuf. Sie sind nicht friedlich eingeordnet in unsere
Welt, überall reichen sie mit ihrem Empfinden bis zu den
Urproblemen hinab. Der moderne Nervenmensch in ihnen
ist gepaart dem Wesen des Anfangs, das nichts vom Leben
weiß als seine Leidenschaft, und mit den letzten Erkenntnissen
stammeln sie gleichzeitig die ersten Fragen der
Welt. Ihre Formen sind noch nicht ausgekühlt, ihr Gestein
nicht geschichtet, ihre Physiognomien nicht geglättet.
Ewig unvollendet sind sie und darum doppelt lebendig.
Denn der vollendete Mensch ist ja gleichzeitig schon der
abgeschlossene, und bei Dostojewski drängt alles ins Unendliche
hinaus. Ihm erscheinen Menschen nur insolange
als Helden und künstlerisch gestaltungswert, als sie mit
sich entzweit sind, problematische Naturen: die Vollendeten,
die Ausgereiften schüttelt er von sich ab wie der Baum
seine Frucht. Dostojewski liebt seine Menschen nur, solange
sie leiden, solange sie die gesteigerte, zwiespältige
Form seines eigenen Lebens haben, solange sie Chaos sind,
das sich in Schicksal verwandeln will.
Stellen wir seine Helden vor ein anderes Bild, um sie in
ihrer wundervollen Sonderheit besser zu verstehen. Vergleichen
wir. Rufen wir einen Helden Balzacs als den
Typus französischen Romans in uns auf, so entsteht unbewußt
eine Vorstellung von Geradlinigkeit, Umgrenztheit
und innerer Geschlossenheit. Ein Begriff, deutlich wie
eine geometrische Figur und gesetzvoll wie sie. Alle Menschen
Balzacs sind aus einer einzigen, durch die seelische
Chemie genau bestimmbaren Substanz gefertigt. Sie sind
Elemente und haben alle wesenhaften Eigenschaften eines
solchen, also auch typische Formen der Reaktion im Moralischen
und Psychischen. Sie sind kaum Menschen mehr,
sondern beinahe schon menschgewordene Eigenschaft,
Präzisionsmaschinen einer Leidenschaft. Für jeden Namen
kann man bei Balzac als Korrelat eine Eigenschaft setzen:
Rastignac ist gleich Ehrgeiz, Goriot ist gleich Aufopferung,
Vautrin ist gleich Anarchie. In jedem dieser Menschen
hat eine dominierende Triebkraft alle anderen inneren
Kräfte an sich gerissen und in die Richtung des zentralen
Lebenswillens gedrängt. Sie sind charakterologisch klassifizierbar,
diese Helden, denn eine einzige Feder des Antriebs ist
ihrer Seele eingebaut, die sie mit einem bestimmten Maß
von Energie durch die menschliche Gesellschaft treibt:
wie ein Geschoß schleudert sie jeden dieser Jünglinge mitten
ins Leben hinein. Im höchsten Sinn wäre man versucht,
sie Automaten zu nennen um der Präzision willen,
mit der sie auf jeden einzelnen Lebensreiz reagieren, und
wirklich wie eine Maschine sind sie in ihrer Kraftleistung
und ihrem Widerstand für den technischen Kenner berechenbar.
Ist man in Balzac einigermaßen eingelesen, so
kann man die Antwort des Charakters auf die Tatsache
so berechnen, wie die Parabel eines Steinwurfes aus der
Stärke ihres Schwunges und der Schwere des Steins. Grandet,
der Harpagon, wird in dem Maße geiziger werden,
als seine Tochter opferwillig und heroisch. Und man weiß
von Goriot schon zu den Zeiten, da er noch in leidlichem
Wohlstand lebt und seine Perücke sorgfältig gepudert ist,
daß er einmal seine Weste für die Töchter verkaufen wird
und das Silbergeschirr zerbrechen, seinen letzten Besitz.
Er muß notwendigerweise so handeln aus der Einheit seiner
Charakteranlage, aus dem Trieb, den sein irdisches
Fleisch nur unvollkommen mit einer menschlichen Form
umkleidet. Die Charaktere Balzacs (und ebenso Victor
Hugos, Scotts, Dickens') sind alle primitiv, einfarbig, zielstrebig.
Sie sind Einheiten und darum meßbar auf der
Wagschale der Moral. Vielfarbig und tausendgestaltig ist
in jenem geistigen Kosmos nur der Zufall, dem sie begegnen.
Bei jenen Epikern ist das Erlebnis vielfältig, der Mensch
die Einheit, und der Roman selbst der Kampf um die
Macht gegen die irdischen Mächte. Die Helden Balzacs
und des ganzen französischen Romans sind entweder stärker
oder schwächer als der Widerstand der Gesellschaft.
Sie bezwingen das Leben, oder sie kommen unter das Rad.
Der Held des deutschen Romans, als dessen Typus
Wilhelm Meister oder der Grüne Heinrich gedacht sei,
ist nicht dermaßen seiner Grundrichtung gewiß. Er hat
viele Stimmen in sich, er ist psychologisch differenziert, ist
seelisch polyphon. Das Gute und das Böse, das Starke und
das Schwache fließen wirr in seiner Seele durcheinander:
sein Anbeginn ist Verwirrung, und die Nebel der Frühe
umwölken ihm den reinen Blick. Er spürt Kräfte in sich,
aber noch ungesammelt, noch in Widerstreit, er ist ohne
Harmonie, aber doch beseelt vom Willen zur Einheit. Das
deutsche Genie zielt nun im letzten Sinne immer auf Ordnung.
Und alle Entwicklungsromane entwickeln nichts
anderes in diesen deutschen Helden als die Persönlichkeit.
Die Kräfte werden gesammelt, der Mensch zum deutschen
Ideal, zur Tüchtigkeit erhoben, „im Strom der Welt bildet
sich“ nach Goethes Wort „der Charakter“. Die vom Leben
durcheinandergeschüttelten Elemente klären sich in der
errungenen Ruhe zum Kristall, aus den Lehrjahren tritt
der Meister, und vom letzten Blatt all dieser Bücher, aus
dem Grünen Heinrich, dem Hyperion, dem Wilhelm
Meister, dem Ofterdingen blickt ein klares Auge tatkräftig
in eine klare Welt. Das Leben versöhnt sich dem Ideal;
nicht mehr verschwenderisch wirr, sondern zu höchstem
Ziel gespart wirken die nun geordneten Kräfte. Die Helden
Goethes und aller Deutschen verwirklichen sich zu ihrer
höchsten Form, sie werden werktätig und tüchtig: sie erlernen
an Erfahrungen das Leben.
Die Helden Dostojewskis suchen aber und finden überhaupt
kein Verhältnis zum wirklichen Leben: das ist ihre
Sonderheit. Sie wollen gar nicht in die Realität hinein,
sondern von allem Anfang an über sie hinaus, ins Unendliche.
Ihr Schicksal existiert für sie nicht in einem äußern,
sondern nur in einem innern Sinn. Ihr Reich ist nicht von
dieser Welt. All die Scheinformen von Werten, Titel,
Macht und Geld, aller sichtbarer Besitz hat für sie Wert
weder als Zweck, wie bei Balzac, noch als Mittel, wie bei
den Deutschen. Sie wollen sich in dieser Welt gar nicht
durchsetzen, nicht behaupten und nicht ordnen. Sie sparen
nicht mit sich, sondern sie verschwenden sich, sie rechnen
nicht und bleiben ewig unberechenbar. Das Untüchtige ihres
Wesens läßt sie zuerst als müßige und phantastische Träumer
erscheinen, aber ihr Blick scheint nur leer, weil er nicht
nach außen starrt, er zielt mit Glut und Feuer immer nur
zurück in sich selbst, in die eigene Existenz. Der russische
Mensch geht auf das Ganze. Sich selbst wollen sie fühlen
und das Leben, aber nicht dessen Schatten und Spiegelbild,
die äußere Realität, sondern das große mystische Elementare,
die kosmische Macht, das Existenzgefühl. Wo immer
man tiefer sich eingräbt ins Werk Dostojewskis, überall
rauscht als unterste Quelle dieser ganz primitive, fast vegetative
fanatische Lebensdrang, das Existenzgefühl, dies
ganz urhafte Gelüst, das nicht Glück will oder Leid, die
schon Einzelformen des Lebens sind, Wertungen, Unterscheidungen,
sondern die ganz einheitliche Lust, wie man
sie beim Atmen fühlt. Vom Urquell wollen sie trinken,
nicht aus den Brunnen der Städte und Straßen, die Ewigkeit,
die Unendlichkeit in sich fühlen und die Zeitlichkeit
abtun. Sie kennen nur eine ewige, keine soziale Welt. Sie
wollen das Leben weder erlernen, noch bezwingen, gleichsam
nackt wollen sie es bloß fühlen und fühlen als Ekstase
der Existenz.
Weltfremd aus Weltliebe, unwirklich aus Leidenschaft
zur Wirklichkeit, muten Dostojewskis Gestalten vorerst
etwas einfältig an. Sie haben keine Richtung geradeaus,
kein sichtbares Ziel: wie Blinde taumeln und tappen diese
doch erwachsenen Menschen in der Welt herum oder wie
Trunkene. Sie bleiben stehen, sehen sich um, fragen alle
Fragen und rennen ohne Antwort weiter ins Unbekannte:
ganz frisch scheinen sie in unsere Welt eingetreten und
ihr noch nicht eingewöhnt. Und man versteht diese Menschen
Dostojewskis kaum, bedenkt man nicht, daß sie Russen
sind, Kinder eines Volkes, das aus einer jahrtausendalten
barbarischen Unbewußtheit mitten in unsere europäische
Kultur hineingestürzt ist. Von der alten Kultur, vom
Patriarchalischen losgerissen, der neuen noch nicht vertraut,
stehen sie in der Mitte, alle an einem Wegkreuz, und die
Unsicherheit jedes einzelnen ist die eines ganzen Volkes.
Wir Europäer wohnen in unserer alten Tradition wie in
einem warmen Haus. Der Russe des neunzehnten Jahrhunderts,
der Dostojewski-Zeit, hat hinter sich die Holzhütte
der barbarischen Vorzeit verbrannt, aber sein neues
Haus noch nicht gebaut. Entwurzelte, Richtungslose sind
sie alle. Sie haben die Kraft ihrer Jugend, die Kraft der
Barbaren noch in den Fäusten, aber der Instinkt ist verwirrt
von der Tausendfalt der Probleme: die Hände voll
Stärke, wissen sie nicht, was zuerst anfassen. Und so greifen
sie nach allem und haben nie genug. Man fühle hier
die Tragik jedes einzelnen Dostojewski-Menschen, jedes
einzelnen Zwiespalt und Hemmung aus dem Schicksal des
ganzen Volkes. Dieses Rußland um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts weiß nicht wohin: nach Westen
oder nach Osten, nach Europa oder nach Asien, nach
Petersburg, der „künstlichen Stadt“, in die Kultur oder
zurück auf das Bauerngut, in die Steppe. Turgenjew stößt
sie nach vorne, Tolstoi stößt sie zurück. Alles ist Unruhe.
Der Zarismus steht unvermittelt gegenüber einer kommunistischen
Anarchie, die Rechtgläubigkeit, die altererbte,
springt quer über in einen fanatischen und rasenden Atheismus.
Nichts steht fest, nichts hat seinen Wert, sein Maß
in dieser Zeit: die Sterne des Glaubens brennen nicht
mehr über ihren Häuptern und das Gesetz längst nicht
mehr in ihrer Brust. Entwurzelte einer großen Tradition,
sind die Dostojewski-Menschen echte Russen, Übergangsmenschen,
das Chaos des Anfangs im Herzen, beladen mit
Hemmungen und Ungewißheiten. Immer sind sie verschreckt
und verschüchtert, immer fühlen sie sich erniedrigt
und beleidigt, und dies alles aus dem einzigen Urgefühl
der Nation: daß sie nicht wissen, wer sie sind. Daß sie
nicht wissen, ob sie viel sind oder wenig. Ewig stehen sie
auf der Kippe von Stolz oder Zerknirschung, von Selbstüberschätzung
und Selbstverachtung, ewig blicken sie sich
um nach den anderen, und alle sind sie verzehrt von der
rasenden Angst, lächerlich zu sein. Unablässig schämen sie
sich, bald eines abgetragenen Pelzkragens, bald ihrer ganzen
Nation, aber immer schämen, schämen sie sich, sind sie beunruhigt,
verwirrt. Ihr Gefühl, ihr übermächtiges, hat keinen
Halt, keinen Führer, kein einziger hat ein Maß, ein
Gesetz, den Halt einer Tradition, die Krücke einer ererbten
Weltanschauung. Alle sind sie Maßlose und Ratlose
in einer unbekannten Welt. Keine Frage ist für sie beantwortet,
kein Weg geebnet. Menschen des Übergangs,
Menschen des Anfangs sind sie alle. Jeder ein Cortes: hinter
sich verbrannte Brücken, vor sich das Unbekannte.
Aber dies ist das Wunderbare: daß, weil sie Menschen
eines Anfangs sind, in jedem einzelnen noch einmal die
Welt beginnt. Daß alle Fragen, die bei uns schon zu kalten
Begriffen erstarrt sind, ihnen noch im Blute glühen.
Daß unsere bequemen ausgetretenen Wege mit ihren
moralischen Geländern und ethischen Wegweisern ihnen
nicht bekannt sind: immer und überall gehen sie durchs
Dickicht ins Grenzenlose, ins Unendliche hinein. Nirgends
Kirchtürme der Gewißheit, Brücken der Zuversicht: alles
heilige Urwelt. Jeder einzelne fühlt so wie das Rußland
Lenins und Trotzkis, daß er die ganze Weltordnung neu
aufbauen müsse, und das ist der unbeschreibliche Wert des
russischen Menschen für Europa, das in seiner Kultur verkrustete,
daß hier eine unverbrauchte Neugier noch einmal
alle Fragen des Lebens an die Unendlichkeit stellt. Daß,
wo wir träge wurden in unserer Bildung, andere noch glühend
sind. Jeder einzelne revidiert bei Dostojewski noch
einmal alle Probleme, rückt sich selbst mit blutenden
Händen die Grenzsteine von Gut und Böse, jeder einzelne
schafft sich sein Chaos wieder um zur Welt. Jeder einzelne
ist bei ihm Diener, Verkünder des neuen Christus, Märtyrer
und Verkünder eines dritten Reiches. Noch ist das
Chaos des Anfangs in ihnen, aber auch Dämmern des
ersten Tages, der das Licht auf Erden schuf, und schon
Ahnung des sechsten, der den neuen Menschen schafft.
Seine Helden sind Wegebauer einer neuen Welt: der
Roman Dostojewskis ist der Mythos des neuen Menschen
und seiner Geburt aus dem Schoße der russischen
Seele.
Ein Mythos und besonders ein nationaler aber will Gläubigkeit.
Man versuche darum nicht, diese Menschen durch das
kristallene Medium der Vernunft zu erfassen. Nur Gefühl,
das allein brüderliche, kann sie verstehen. Dem common
sense, dem Engländer, dem Amerikaner, dem praktischen
Menschen müssen die vier Karamasoffs als vier verschiedene
Narren erscheinen, als Tollhaus die ganze tragische
Welt Dostojewskis. Denn was sonst Alpha und Omega
der gesunden simplen, irdischen Natur war und ewig sein
wird, scheint ihnen das Gleichgültigste auf Erden, nämlich:
Glücklichsein. Schlagt sie auf, die fünfzigtausend Bücher,
die Europa alljährlich produziert, wovon handeln sie? Vom
Glücklichsein. Ein Weib will einen Mann, oder einer will
reich werden, mächtig und geehrt. Bei Dickens steht am
Ende aller Wünsche das liebliche Cottagehaus im Grünen
mit der munteren Kinderschar, bei Balzac das Schloß mit
dem Pairstitel und den Millionen. Und blicken wir um
uns, auf die Straße, in die Butiken, in die niederen Stuben,
in die hellen Säle, was wollen die Menschen dort?
Glücklich sein, zufrieden sein, reich sein, mächtig sein.
Wer will es von Dostojewskis Menschen? Keiner. Nicht
ein einziger. Sie wollen nirgends haltmachen: nicht einmal
beim Glück. Sie wollen alle weiter, sie haben alle
jenes „höhere Herz“, das sich quält. Glücklichsein ist ihnen
gleichgültig, Zufriedensein ist ihnen gleichgültig, Reichsein
eher verächtlich als erwünscht. Sie wollen nichts von all dem,
diese Seltsamen, was unsere ganze Menschheit will. Sie haben
den uncommon sense. Sie wollen nichts von dieser Welt.
Genügsame also, Phlegmatiker des Lebens, Indifferente
oder Asketen? Im Gegenteil. Die Menschen Dostojewskis
sind, ich sagte es ja, Menschen eines neuen Anfangs. Sie
haben, bei all ihrer Genialität und ihrem diamantenen Verstand,
Kinderherzen, Kindergelüste: sie wollen nicht dies
oder jenes, sondern sie wollen alles. Und alles ganz stark.
Das Gute und das Böse, das Heiße und das Kalte, das Nahe
und das Ferne. Sie sind Übertreiber, sie sind Maßlose. Ich
sagte früher: sie wollen nichts von dieser Welt. Schlecht
gesagt. Sie wollen nichts einzelnes davon, sondern alles,
ihr ganzes Gefühl, ihre ganze Tiefe: das Leben. Vergessen
wir nicht, sie sind keine Schwächlinge, keine Lovelace,
keine Hamlets, keine Werthers, keine Rénés – sie haben
harte Muskeln und einen brutalen Lebenshunger, diese
Menschen Dostojewskis, sie sind Karamasoffs, „Raubtiere
des Gelüsts“, begabt mit jener „unanständigen fanatischen“
Lebensgier, die sich an den letzten Tropfen des Kelches
ansaugt, ehe sie ihn zerklirrt. Von allen Dingen suchen
sie den Superlativ, überall die Rotglut des Empfindens, wo
die gemeinen Legierungen des Gelegentlichen zerschmelzen
und nichts bleibt als das feuerflüssige brennende Weltgefühl;
wie die Amokläufer rennen sie ins Leben hinein,
von der Begierde in die Reue, von der Reue wieder in die
Tat, vom Verbrechen ins Geständnis, vom Geständnis in
die Ekstase, aber alle Gassen ihres Schicksals lang überallhin
bis zum Letzten, bis sie niederstürzen, Schaum vor
den Lippen, oder bis ein anderer sie niederschlägt. O dieser
Lebensdurst jedes einzelnen – eine ganze junge Nation,
eine neue Menschheit lechzt von ihren Lippen nach Welt,
nach Wissen, nach Wahrheit! Sucht mir doch, zeigt mir
einen Menschen im Werk Dostojewskis, der ruhig atmet,
der rastet, der sein Ziel erreicht hat! Keiner, kein einziger!
Alle sind sie in diesem rasenden Wettlauf zur Höhe
und zur Tiefe – denn nach Aljoschas Formel muß, wer
die erste Stufe betreten hat, bis zur letzten hinstreben –
nach allen Seiten, in Frost und Brand, greifen sie, gieren
sie, diese Unersättlichen, diese Maßlosen, die ihr Maß nur
suchen und finden in der Unendlichkeit. Wie Pfeile
schnellen sie sich in ewiger Spannung von der Sehne ihrer
Kraft in den Himmel hinein, immer in der Richtung des
Unerreichbaren, immer zu Sternen zielend, jeder eine
Flamme, ein Feuer der Unruhe. Und Unruhe ist Qual.
Darum sind die Helden Dostojewskis alle die großen Leidenden.
Alle haben sie verzerrte Gesichter, alle leben sie
im Fieber, im Krampf, im Spasma. Ein Hospital von
Nervenkranken, hat erschreckt ein großer Franzose Dostojewskis
Welt genannt, und wirklich, für den ersten, den
äußeren Anblick, welch eine trübe, welch eine phantastische
Sphäre! Schankstuben voll Branntweindunst, Gefängniszellen,
Winkel in Vorstadtwohnungen, Bordellgassen
und Kneipen, und dort in Rembrandtschem Dunkel
ein Gewühl von ekstatischen Gestalten, der Mörder, das
Blut seines Opfers über den erhobenen Händen, der Trunkenbold
im Gelächter der Zuhörer, das Mädchen mit
dem gelben Schein im Zwielicht der Gasse, das epileptische
Kind, bettelnd an den Straßenecken, der siebenfache
Mörder in der Katorga Sibiriens, der Spieler zwischen den
Fäusten der Spießgesellen, Rogoschin, wie ein Tier sich
wälzend vor dem verschlossenen Gemach seiner Frau, der
ehrliche Dieb, sterbend im schmutzigen Bette – welche
Unterwelt des Gefühls, welcher Hades der Leidenschaften!
O, welche tragische Menschheit, welch russischer, grauer,
ewig dämmernder, niederer Himmel über diesen Gestalten,
welche Dunkelheiten des Herzens und der Landschaft!
Gelände des Unglücks, Wüsten der Verzweiflung, Fegefeuer
ohne Gnade und Gerechtigkeit.
O wie dunkel, wie verworren, wie fremd, wie feindlich
ist sie zuerst, diese Menschheit, diese russische Welt! Von
Leiden scheint sie überflutet, und diese Erde, wie Iwan
Karamasoff so grimmig sagt, „getränkt von Tränen bis zu
ihrem innersten Kern“. Aber so wie Dostojewskis Antlitz
dem ersten Blicke düster, lehmig, gedrückt, bäurisch und
gebeugt anmutet, dann aber der Glanz seiner Stirne, aufstrahlend
über die Versunkenheit, das Irdische seiner Züge,
seine Tiefe durch Glauben erleuchtet, so durchstrahlt auch
im Werke das geistige Licht die dumpfe Materie. Aus
Leiden scheint Dostojewskis Welt einzig gestaltet. Und
doch ist nur scheinbar die Summe alles Leidens in seinen
Menschen größer als in jedem anderen Werke. Denn,
Kinder Dostojewskis, sind diese Menschen alle Verwandler
ihres Gefühles, sie treiben es und übertreiben es von Kontrast
zu Kontrast. Und das Leiden, ihr eigenes Leiden ist
oft ihre tiefste Seligkeit. In ihnen wirkt etwas, das der Wollust,
der Lust am Glück, tiefsinnig die Wehlust, die Lust
an der Qual gegenüberstellt: ihr Leiden ist zugleich ihr
Glücklichsein, sie halten es fest mit den Zähnen, wärmen
es an ihrer Brust, sie schmeicheln es mit den Händen, sie
lieben es mit ihrer ganzen Seele. Und sie wären nur dann
die Unglücklichsten, liebten sie es nicht. Dieser Tausch,
der rasende frenetische Tausch des Gefühls im Innern,
diese ewige Umwertung des Dostojewskischen Menschen
kann vielleicht nur ein Beispiel ganz klarmachen, und ich
wähle eines, das in tausend Formen wiederkehrt: das Leid,
das einem Menschen infolge einer Erniedrigung, einer tatsächlichen
oder eingebildeten, widerfährt. Irgendeiner, ein
schlichtes sensitives Geschöpf, gleichgültig ob ein kleiner
Beamter oder eine Generalstochter, wird beleidigt. In
seinem Stolz gekränkt durch ein Wort, eine Nichtigkeit
vielleicht. Diese erste Kränkung ist der Primäraffekt, der
den ganzen Organismus in Aufruhr bringt. Der Mensch
leidet. Er ist gekränkt, liegt auf der Lauer, spannt sich an
und wartet – auf eine neue Kränkung. Und die zweite
Kränkung kommt: also eigentlich Häufung des Leidens.
Aber seltsam, sie tut nicht mehr weh. Zwar der Gekränkte
klagt, er schreit, aber seine Klage ist schon nicht mehr
wahr: denn er liebt diese Kränkung. In diesem „fortwährend-sich-seiner-Schmach-bewußt-sein
ist ein unnatürlicher
heimlicher Genuß“. Für den beleidigten Stolz
hat er einen neuen: den des Märtyrers. Und jetzt entsteht
in ihm der Durst nach neuer Kränkung, nach mehr und
mehr. Er beginnt zu provozieren, er übertreibt, er fordert
heraus: das Leiden ist jetzt seine Sehnsucht, seine Gier,
seine Lust: man hat ihn erniedrigt, so will er (der Mensch
ohne Maß) ganz niedrig sein. Und er gibt es nicht her mehr,
sein Leiden, mit verbissenen Zähnen hält er es fest: jetzt
wird der Hilfreiche sein Feind, der Liebende. So schlägt die
kleine Nelly dem Arzt dreimal das Pulver ins Gesicht, so stößt
Raskolnikoff Sonja zurück, so beißt Iljutschka den frommen
Aljoscha in die Finger – aus Liebe, aus fanatischer Liebe
zu ihrem Leiden. Und alle, alle lieben sie das Leiden, weil
sie darin das Leben, das geliebte, so stark spüren, weil sie
wissen, „man kann auf dieser Erde nur durch Leiden wahrhaft
lieben“, und das wollen sie, das vor allem! Es ist ihr
stärkster Existenzbeweis: statt des cogito, ergo sum, „ich
denke, also bin ich“, setzen sie das: „ich leide, also bin
ich“. Und dieses „Ich bin“ ist bei Dostojewski und allen
seinen Menschen der höchste Triumph des Lebens. Der
Superlativ des Weltgefühls. Im Kerker jauchzt Dimitry die
große Hymne an dieses „Ich bin“, an die Wollust des
Seins, und eben um dieser Liebe zum Leben willen ist
ihnen allen das Leiden notwendig. Nur scheinbar, sagte
ich, ist darum die Summe des Leidens größer bei Dostojewski
als bei allen anderen Dichtern. Denn wenn es eine
Welt gibt, wo nichts unerbittlich ist, aus jedem Abgrund
noch ein Weg führt, aus jedem Unglück noch Ekstase,
aus jeder Verzweiflung noch Hoffnung, so ist es die seine.
Was ist dies Werk anderes als eine Reihe von modernen
Apostelgeschichten, Legenden der Erlösung vom Leiden
durch den Geist? Der Bekehrungen zum Lebensglauben,
der Kalvariengänge zur Erkenntnis? Der Wege nach
Damaskus mitten durch unsere Welt?
In Dostojewskis Werk ringt der Mensch um seine letzte
Wahrheit, um sein allmenschliches Ich. Ob ein Mord geschieht
oder eine Frau in Liebe brennt, alles das ist Nebensache,
Außensache, Kulisse. Sein Roman spielt im innersten
Menschen, im Seelenraum, in der geistigen Welt: die
Zufälle, die Ereignisse, die Schickungen des äußeren Lebens
sind nur Stichworte, Maschinerie, der szenische Rahmen.
Die Tragödie ist immer innen. Und sie heißt immer:
die Überwindung der Hemmungen, der Kampf um die
Wahrheit. Jeder seiner Helden fragt sich, wie Rußland
selbst: Wer bin ich? Was bin ich wert? Er sucht sich oder
vielmehr den Superlativ seines Wesens im Haltlosen, im
Raumlosen, im Zeitlosen. Er will sich erkennen als der
Mensch, der er vor Gott ist, und er will sich bekennen.
Denn jedem Dostojewski-Menschen ist die Wahrheit mehr
als Bedürfnis, sie ist ihm ein Exzeß, eine Wollust und das
Geständnis seine heiligste Lust, sein Spasma. Im Geständnis
bricht bei Dostojewski der innere Mensch, der Allmensch;
der Gottesmensch durch den irdischen, die Wahrheit
– und dies ist Gott – durch seine fleischliche Existenz.
O die Wollust, mit der sie darum mit dem Geständnis
spielen, wie sie es verbergen und – Raskolnikoff vor Porphyri
Petrowitsch – immer heimlich zeigen und wieder
verstecken, und dann wieder, wie sie sich überschreien, mehr
Wahrheit bekennen als wahr ist, wie sie in rasendem Exhibitionismus
ihre Blößen aufdecken, wie sie Laster und
Tugend vermengen – hier, nur hier, im Ringen um das
wahre Ich sind die eigentlichen Spannungen Dostojewskis.
Hier, ganz innen ist der große Kampf seiner Menschen,
die mächtigen Epopöen des Herzens: hier, wo das Russische,
das Fremdartige in ihnen sich aufzehrt, hier wird auch ihre
Tragödie erst ganz zur unseren, zur allmenschlichen. Da
wird das typische Schicksal seiner Menschen deutsam und
erschütternd, und restlos erleben wir im Mysterium der
Selbstgeburt den Mythos Dostojewskis vom neuen Menschen,
vom Allmenschen in jedem Irdischen.
Das Mysterium der Selbstgeburt: so nenne ich in der
Kosmogonie, in der Weltschöpfung Dostojewskis die Erschaffung
des neuen Menschen. Und ich möchte versuchen,
die Geschichte aller Naturen Dostojewskis in einer
zu erzählen, als seinen Mythos; denn alle diese verschiedenartigen,
hundertfach variierten Menschen haben im letzten
nur ein einheitliches Schicksal. Alle leben sie Varianten eines
einzigen Erlebnisses: der Menschwerdung. Vergessen wir
nicht: die Kunst Dostojewskis zielt immer auf den Mittelpunkt
und in der Psychologie darum auf den Menschen
im Menschen, den absoluten, den abstrakten Menschen,
der weit hinter allen kulturellen Schichtungen liegt. Für
die meisten Künstler sind die Schichtungen noch wesentlich,
die Vorgänge der Durchschnittsromane spielen in sozialer,
gesellschaftlicher, erotischer und konventioneller
Sphäre und bleiben in diesen Schichten stecken. Dostojewski
stößt, weil er zentral gerichtet ist, immer durch
zum Allmenschen im Menschen, zu jenem Ich, das allgemeinsam
ist. Immer bildet er diesen letzten Menschen und
immer in verwandter Form seine Sendung. Gleich ist all
seiner Helden Anbeginn. Als echte Russen beunruhigt sie
ihre eigene Lebenskraft. In den Jahren der Pubertät, des
sinnlichen und geistigen Erwachens, verdüstert sich ihnen
der heitere und freie Sinn. Dumpf fühlen sie in sich eine
Kraft gären, ein geheimnisvolles Drängen; irgend etwas
Eingesperrtes, Wachsendes und Quellendes will aus ihrem
noch unmündigen Kleid. Eine geheimnisvolle Schwangerschaft
(es ist der neue Mensch, der in ihnen keimt, aber
sie wissen es nicht) macht sie träumerisch. Sie sitzen „einsam
bis zur Verwilderung“ in dumpfen Stuben, in einsamen
Winkeln und denken, denken Tag und Nacht über
sich nach. Jahrelang brüten sie oft dahin in dieser seltsamen
Ataraxie, sie verharren in einem fast buddhistischen
Zustand der Seelenstarre, sie beugen sich tief über den
eigenen Leib, um wie die Frauen in den frühen Monaten
das Klopfen dieses zweiten Herzens in sich zu erlauschen.
Alle geheimnisvollen Zustände der Befruchteten überkommen
sie: die hysterische Angst vor dem Tode, das
Grauen vor dem Leben, krankhafte, grausame Begierden,
sinnliche perverse Gelüste.
Endlich wissen sie, daß sie befruchtet sind von irgendeiner
neuen Idee: und nun suchen sie das Geheimnis zu entdecken.
Sie schärfen ihre Gedanken, bis sie spitz und schneidend
werden wie chirurgische Instrumente, sie sezieren
ihren Zustand, sie zerreden ihre Bedrückung in fanatischen
Gesprächen, sie zerdenken ihr Gehirn, bis es sich in Wahnsinn
zu entflammen droht, sie schmieden alle ihre Gedanken
in eine einzige fixe Idee, die sie bis ans letzte Ende
denken, in eine gefährliche Spitze, die sich in ihrer Hand
gegen sie selbst wendet. Kirillow, Schatow, Raskolnikoff,
Iwan Karamasoff, alle diese Einsamen haben „ihre“ Idee,
die des Nihilismus, die des Altruismus, die des napoleonischen
Weltwahns, und alle haben sie ausgebrütet in dieser
krankhaften Einsamkeit. Sie wollen eine Waffe gegen den
neuen Menschen, der aus ihnen werden soll, denn ihr
Stolz will sich gegen ihn wehren, ihn unterdrücken. Andere
wieder suchen dieses geheimnisvolle Keimen, diesen
drängenden gärenden Lebensschmerz mit aufgepeitschten
Sinnen zu überrasen. Um im Bilde zu bleiben: sie suchen
die Frucht abzutreiben, wie Frauen von Treppen springen
oder durch Tanz und Gifte sich vom Unerwünschten zu
befreien trachten. Sie toben, um dies leise Quellen in sich
zu übertönen, sie zerstören manchmal sich selbst, nur um
diesen Keim zu zerstören. Sie verlieren sich mit Absicht
in diesen Jahren. Sie trinken, sie spielen, sie werden ausschweifend
und all dies (sie wären sonst nicht Menschen
Dostojewskis) fanatisch bis zur letzten Raserei. Schmerz
treibt sie in ihre Laster, nicht eine lässige Begierde. Es ist
nicht ein Trinken um Zufriedenheit und Schlaf, nicht das
deutsche Trinken um die Bettschwere, sondern um den
Rausch, um das Vergessen ihres Wahnes, ein Spielen nicht
um Geld, sondern um die Zeit zu ermorden, ein Ausschweifen
nicht um der Lust willen, sondern um in der
Übertreibung ihr wahres Maß zu verlieren. Sie wollen
wissen, wer sie sind; darum suchen sie die Grenze. Den
äußersten Rand ihres Ich wollen sie in Überhitzung und
Abkaltung kennen und vor allem die eigene Tiefe. Sie
glühen in diesen Lüsten bis zum Gott empor, sie sinken
bis zum Tier hinab, aber immer, um den Menschen in sich
zu fixieren. Oder sie versuchen, da sie sich nicht kennen,
sich wenigstens zu beweisen. Kolja wirft sich unter einen
Eisenbahnzug, um sich zu „beweisen“, daß er mutig ist,
Raskolnikoff ermordet die alte Frau, um seine Napoleonstheorie
zu beweisen, sie tun alle mehr, als sie eigentlich
wollen, nur um an die äußerste Grenze des Gefühls zu gelangen.
Um ihre eigene Tiefe zu kennen, das Maß ihrer
Menschheit, werfen sie sich in jeden Abgrund hinab: von
der Sinnlichkeit stürzen sie in die Ausschweifung, von der
Ausschweifung in die Grausamkeit und hinab bis zu ihrem
untersten Ende, der kalten, der seelenlosen, der berechneten
Bosheit, aber all dies aus einer verwandelten Liebe, einer
Gier nach Erkenntnis des eigenen Wesens, einer verwandelten
Art von religiösem Wahn. Aus weiser Wachheit
stürzen sie sich in die Kreisel des Irrsinns, ihre geistige Neugier
wird zur Perversion der Sinne, ihre Verbrechen glühen
bis zur Kinderschändung und zum Mord, aber typisch
ist für sie alle die gesteigerte Unlust in der gesteigerten Lust:
bis in den untersten Abgrund ihrer Raserei zuckt die
Flamme des Bewußtseins der fanatischen Reue nach.
Aber je weiter hinein sie in der Übertreibung der Sinnlichkeit
und des Denkens rasen, um so näher sind sie schon
sich selbst, und je mehr sie sich vernichten wollen, um so
eher sind sie zurückgewonnen. Ihre traurigen Bacchanale
sind nur Zuckungen, ihre Verbrechen die Krämpfe der
Selbstgeburt. Ihre Selbstzerstörung zerstört nur die Schale
um den innern Menschen und ist Selbstrettung im höchsten
Sinn. Je mehr sie sich anspannen, je mehr sie sich
krümmen und winden, um so mehr befördern sie unbewußt
die Geburt. Denn nur im brennendsten Schmerz kann das
neue Wesen zur Welt kommen. Ein Ungeheures, ein
Fremdes muß dazu treten, muß sie befreien, irgendeine
Macht Wehmutter werden in ihrer schwersten Stunde, die
Güte muß ihnen helfen, die allmenschliche Liebe. Eine
äußerste Tat, ein Verbrechen, das all ihre Sinne zur Verzweiflung
spannt, ist nötig, um die Reinheit zu gebären,
und hier wie im Leben ist jede Geburt umschattet von tödlichster
Gefahr. Die beiden äußersten Kräfte des menschlichen
Vermögens, Tod und Leben, sind in dieser Sekunde
innig verschränkt.
Dies also ist der menschliche Mythos Dostojewskis, daß
das gemischte, dumpfe, vielfältige Ich jedes einzelnen befruchtet
ist mit dem Keim des wahren Menschen (jenes
Urmenschen der mittelalterlichen Weltanschauung, der
frei ist von der Erbsünde), des elementaren, rein göttlichen
Wesens. Diesen urewigen Menschen aus dem vergänglichen
Leib des Kulturmenschen in uns zum Austrag zu
bringen, ist höchste Aufgabe und die wahrste irdische Pflicht.
Befruchtet ist jeder, denn keinen verstößt das Leben, jeden
Irdischen hat es in einer seligen Sekunde mit Liebe empfangen,
doch nicht jeder gebiert seine Frucht. Bei manchem
verfault sie in einer seelischen Lässigkeit, sie stirbt
ab und vergiftet ihn. Andere wieder sterben in den Wehen,
und nur das Kind, die Idee, kommt zur Welt. Kirillow ist
einer, der sich ermorden muß, um ganz wahr bleiben zu
können, Schatow ist einer, der ermordet wird, um seine
Wahrheit zu bezeugen.
Aber die anderen, die heroischen Helden Dostojewskis,
der Staretz Sossima, Raskolnikoff, Stepanowitsch, Rogoschin,
Dmitrij Karamasoff vernichten ihr soziales Ich,
den dunklen Raupenstand ihres inneren Wesens, um wie
Schmetterlinge sich der abgestorbenen Form zu entschwingen,
das Beflügelte aus dem Kriechenden, das Erhobene
aus dem Erdschweren. Die Umkrustung der seelischen
Hemmung zerbricht, die Seele, die Allmenschenseele
strömt aus, strömt ins Unendliche zurück. Alles Persönliche,
alles Individuelle ist in ihnen abgetan, daher auch die
absolute Ähnlichkeit all dieser Gestalten im Augenblick
ihrer Vollendung. Aljoscha ist kaum von dem Staretz,
Karamasoff kaum von Raskolnikoff zu unterscheiden,
wie sie aus ihren Verbrechen mit tränengebadetem Gesicht
in das Licht des neuen Lebens treten. Am Ende
aller Romane Dostojewskis ist die Katharsis der griechischen
Tragödie, die große Entsühnung: über den verdonnernden
Gewittern und der gereinigten Atmosphäre
flammt die erhabene Glorie des Regenbogens, das höchste
russische Symbol der Versöhnung.
Erst wenn die Helden Dostojewskis den reinen Menschen
aus sich geboren haben, treten sie in die wahre Gemeinschaft.
Bei Balzac triumphiert der Held, wenn er
die Gesellschaft bezwingt, bei Dickens, wenn er sich in
die soziale Schicht, in das bürgerliche Leben, in die Familie,
in den Beruf friedlich einordnet. Die Gemeinschaft, die
der Held Dostojewskis anstrebt, ist keine soziale mehr,
sondern schon eine religiöse, er sucht nicht Gesellschaft,
sondern Weltbruderschaft. Und dies Hingelangen zur
eigenen Innerlichkeit und damit zur mystischen Gemeinsamkeit
ist die einzige Hierarchie in seinem Werk. Einzig
von diesem letzten Menschen handeln alle seine Romane:
das Soziale, die Zwischenstadien der Gesellschaft mit ihrem
halben Stolz und schiefen Haß sind überwunden, der Ichmensch
ist zum Allmenschen geworden, seine Einsamkeit,
seine Absonderung, die nur Stolz war, hat jeder zerbrochen,
und in unendlicher Demut und glühender Liebe grüßt
sein Herz den Bruder, den reinen Menschen in jedem
anderen. Dieser letzte, gereinigte Mensch kennt keine
Unterschiede mehr, kein soziales Standesbewußtsein: nackt,
wie im Paradies, hat seine Seele keine Scham, keinen Stolz,
keinen Haß und keine Verachtung. Verbrecher und Dirne,
Mörder und Heilige, Fürsten und Trunkenbolde, sie halten
Zwiesprache in jenem untersten und eigentlichsten Ich
ihres Lebens, alle Schichten fließen ineinander, Herz zu
Herz, Seele in Seele. Nur das entscheidet bei Dostojewski:
wie weit einer wahr wird und zum wirklichen Menschentum
gelangt. Wie diese Entsühnung, diese Selbstgewinnung
zustande kam, ist gleichgültig. Keine Ausschweifung beschmutzt,
kein Verbrechen verdirbt, es gibt kein Tribunal
vor Gott als das Gewissen. Recht und Unrecht, Gut und
Böse, diese Worte zerfließen im Leidensfeuer. Wer wahr
ist im Willen, der ist entsühnt: denn wer wahr ist, ist
demütig. Wer erkannt hat, versteht alles und weiß, „daß
die Gesetze des Menschengeistes noch so unerforscht und
geheimnisvoll sind, daß es weder gründliche Ärzte noch
endgültige Richter gibt“, weiß, es ist keiner schuldig oder
alle, keiner darf keines Richter sein, jeder nur Bruder dem
Bruder. Im Kosmos Dostojewskis gibt es darum keine endgültig Verworfenen, keine „Bösewichter“, keine Hölle und
keinen untersten Kreis wie bei Dante, aus denen selbst
Christus die Verurteilten nicht zu erheben vermag. Er kennt
nur Purgatorien und weiß, daß der irrhandelnde Mensch
noch immer mehr der seelisch Glühende ist und näher
dem wahren Menschen als die Stolzen, die Kalten und
Korrekten, in deren Brust er erfroren ist zu bürgerlicher
Gesetzmäßigkeit. Seine wahren Menschen haben gelitten,
haben darum Ehrfurcht vor dem Leiden und damit das
letzte Geheimnis der Erde. Wer leidet, ist durch Mitleid
schon Bruder, und allen seinen Menschen ist, weil sie nur
auf den innern Menschen, auf den Bruder blicken, das
Grauen fremd. Sie besitzen die erhabene Fähigkeit, die er
einmal die typisch russische nennt, nicht lange hassen zu
können, und darum eine unbegrenzte Verstehensfähigkeit
alles Irdischen. Noch hadern sie oft mitsammen, noch quälen
sie sich, weil sie sich ihrer eigenen Liebe schämen, weil
sie die eigene Demut für eine Schwäche halten und noch nicht
ahnen, daß sie die furchtbarste Kraft der Menschheit ist.
Aber ihre innere Stimme weiß immer schon um die Wahrheit.
Während sie einander mit Worten schmähen und
befeinden, blicken die inneren Augen sich längst selig verstehend
an, Lippe küßt leidvoll den Brudermund. Der
nackte, der ewige Mensch in ihnen hat sich erkannt, und
dies Mysterium der Allversöhnung in der brüderlichen
Erkennung, dieser orphische Gesang der Seelen, ist die
lyrische Musik in Dostojewskis dunklem Werk.
REALISMUS UND PHANTASTIK
„Was kann für mich phantastischer sein als die Wirklichkeit?“
Dostojewski
Wahrheit, die unmittelbare Wirklichkeit seines begrenzten
Seins sucht der Mensch bei Dostojewski: Wahrheit,
die unmittelbare Wesenheit des Alls der Künstler Dostojewski
selbst. Er ist Realist und ist es so konsequent –
immer geht er ja an die äußerste Grenze, wo die Formen
ihrem Widerspiel: dem Gegensatz so geheimnisvoll ähnlich
werden –, daß diese Wirklichkeit jeden an das Mittelmaß
gewöhnten täglichen Blick phantastisch anmutet. „Ich
liebe den Realismus bis dorthin, wo er an das Phantastische
reicht,“ sagt er selbst, „denn was kann für mich phantastischer
und unerwarteter, ja unwahrscheinlicher sein als
die Wirklichkeit?“ Die Wahrheit – dies entdeckt man bei
keinem Künstler zwingender als bei Dostojewski – steht
nicht hinter, sondern gleichsam gegen die Wahrscheinlichkeit.
Sie ist über die Sehschärfe des gemeinen, des psychologisch
unbewehrten Blickes hinaus: wie im Wassertropfen
das unbewaffnete Auge noch klare spiegelnde Einheit, das
Mikroskop aber wimmelnde Vielfalt, myriadenhaftes Chaos
von Infusorien schaut, eine Welt, wo jene nur eine Einzelform
bemerkten, so erkennt der Künstler mit dem höheren
Realismus Wahrheiten, die widersinnig scheinen gegen die
offenbaren.
Diese höhere oder diese tiefere Wahrheit zu erkennen,
die gleichsam tief unter der Haut der Dinge liegt und schon
nah dem Herzpunkt aller Existenz, war Dostojewskis Leidenschaft.
Er will gleichzeitig den Menschen als Einheit
und Vielfalt, im Freiblick und im geschärften gleich wahr
erkennen, und darum ist sein visionärer und wissender Realismus,
der die Kraft eines Mikroskops und die Leuchtstärke
des Hellsehers vereinigt, wie durch eine Mauer geschieden
von dem, was die Franzosen als erste Wirklichkeitskunst
und Naturalismus benannten. Denn obzwar
Dostojewski in seinen Analysen exakter ist und weiter geht
als irgendeiner von denen, die sich „konsequente Naturalisten“
nannten (womit sie meinten, daß sie bis an das Ende
gingen, während Dostojewski jedes Ende noch überschreitet),
ist seine Psychologie gleichsam aus einer anderen
Sphäre des schöpferischen Geistes. Der exakte Naturalismus
von anno Zola kommt geradeswegs aus der Wissenschaft
her. Umgestülpte Experimentalpsychologie, ist er
irgendwie an Fleiß und Schweiß, an Studium und Erfahrung
gebunden: Flaubert destilliert in der Retorte seines
Gehirns 2000 Bücher aus der Pariser Nationalbibliothek,
um das Naturkolorit der „Tentation“ oder der „Salambo“
zu finden, Zola läuft drei Monate, ehe er seine Romane
schreibt, wie ein Reporter mit dem Notizbuch auf die Börse,
in die Warenhäuser und Ateliers, um Modelle abzuzeichnen,
Tatsachen einzufangen. Die Wirklichkeit ist diesen
Weltabzeichnern eine kalte, berechenbare, offenliegende
Substanz. Sie sehen alle Dinge mit dem wachen, wägenden,
tarierenden Blick des Photographen. Sie sammeln,
ordnen, mischen und destillieren, kühle Wissenschaftler
der Kunst, die einzelnen Elemente des Lebens, und betreiben
eine Art Chemie der Bindung und Lösung.
Dostojewskis künstlerischer Beobachtungsprozeß dagegen
ist vom Dämonischen nicht abzulösen. Ist Wissenschaft
jenen anderen Kunst, so ist die seine Schwarzkunst.
Er treibt nicht experimentelle Chemie, sondern Alchimie
der Wirklichkeit, nicht Astronomie, sondern Astrologie
der Seele. Er ist kein kühler Forscher. Als heißer Halluzinant
starrt er nieder in die Tiefe des Lebens wie in einen
dämonischen Angsttraum. Aber doch, seine sprunghafte
Vision ist vollkommener als jener geordnete Betrachtung.
Er sammelt nicht, und hat doch alles. Er berechnet nicht,
und doch ist sein Maß unfehlbar. Seine Diagnosen, die
hellseherischen, fassen im Fieber der Erscheinung den geheimnisvollen
Ursprung, ohne den Puls der Dinge nur anzutasten.
Etwas von hellsichtiger Traumerkenntnis ist in
seinem Wissen, etwas von Magie in seiner Kunst. Zauberisch
durchdringt er die Rinde des Lebens und saugt von
seinen süßen, quellenden Säften. Immer kommt sein Blick
nur aus der eigenen Tiefe seines freilich allwissenden Seins,
aus dem Mark und Nerv dämonischer Natur und übertrifft
doch an Wahrhaftigkeit, an Realität, alle Realisten. Mystisch
erkennt er alles von innen. Ein Zeichen bloß, und
schon faßt er faustisch die Welt. Ein Blick, und schon
wird er zum Bild. Er braucht nicht viel zu zeichnen, nicht
die Kärrnerarbeit des Details zu leisten. Er zeichnet mit
Magie. Man besinne einmal die großen Gestalten dieses
Realisten: Raskolnikoff, Aljoscha und Fedor Karamasoff,
Myschkin, sie, die uns allen so ungeheuer gegenständlich
sind im Gefühl. Wo schildert er sie? In drei Zeilen vielleicht
umreißt er ihr Antlitz mit einer Art zeichnerischer
Kurzschrift. Er sagt von ihnen gleichsam nur ein Merkwort,
umschreibt ihr Gesicht mit vier oder fünf schlichten
Sätzen, und das ist alles. Das Alter, der Beruf, der Stand, die
Kleidung, die Haarfarbe, die Physiognomik, all das scheinbar
so Wesentliche der Personenbeschreibung ist in bloß
stenographischer Kürze festgehalten. Und doch, wie glüht
jede dieser Figuren uns im Blut. Man vergleiche nun mit
diesem magischen Realismus die exakte Schilderung eines
konsequenten Naturalisten. Zola nimmt, ehe er zu arbeiten
anfängt, ein ganzes Bordereau von seinen Figuren auf, er
verfaßt (man kann sie heute noch nachsehen, diese merkwürdigen
Dokumente) einen regelrechten Steckbrief, einen
Passierschein für jeden Menschen, der die Schwelle des
Romanes übertritt. Er mißt ihn ab, wieviel Zentimeter er
hoch ist, notiert, wieviel Zähne ihm fehlen, er zählt die
Warzen auf seinen Wangen, streicht den Bart nach, ob er
rauh oder zart ist, greift jeden Pickel auf der Haut ab,
tastet die Fingernägel nach, er weiß die Stimme, den Atem
seiner Menschen, er verfolgt ihr Blut, Erbschaft und Belastung,
schlägt sich ihr Konto auf in der Bank, um ihre
Einnahmen zu wissen. Er mißt, was man von außen überhaupt
nur messen kann. Und doch, kaum daß die Gestalten
in Bewegung geraten, verflüchtigt sich die Einheit
der Vision, das künstliche Mosaik zerbricht in seine tausend
Scherben. Es bleibt ein seelisches Ungefähr, kein
lebendiger Mensch.
Hier ist nun der Fehler jener Kunst: die französischen
Naturalisten schildern exakt die Menschen zu Anfang des
Romanes in ihrer Ruhe, gleichsam in ihrem seelischen
Schlaf: ihre Bilder sind darum bloß von der nutzlosen Treue
der Totenmasken. Man sieht den Toten, die Figur, nicht
das Leben darin. Aber genau wo jener Naturalismus endet,
beginnt erst der unheimlich große Naturalismus Dostojewskis.
Seine Menschen werden plastisch erst in der Erregtheit,
in der Leidenschaft, im gesteigerten Zustand.
Während jene versuchen, die Seele durch den Körper darzustellen,
bildet er den Körper durch die Seele: erst wenn
die Leidenschaft seinen Menschen die Züge strafft und
spannt, das Auge sich feuchtet im Gefühl, wenn die Maske
der bürgerlichen Stille, die Seelenstarre, von ihnen abfällt,
wird sein Bild erst bildhaft. Erst wenn seine Menschen
glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an das Werk, sie
zu formen.
Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski
die anfänglich dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen
der ersten Schilderung. In seine Romane tritt man
ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht nur Umrisse,
hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie
zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das
Auge: wie auf den Rembrandtschen Gemälden beginnt
aus einer tiefen Dämmerung das feine seelische Fluidum
in den Menschen zu strahlen. Erst wenn sie in die Leidenschaft
geraten, treten sie ins Licht. Bei Dostojewski muß
der Mensch immer erst glühen, um sichtbar zu werden,
seine Nerven müssen gespannt sein bis zum Zerreißen, um
zu klingen: „Um eine Seele formt sich bei ihm nur der
Körper, um eine Leidenschaft nur das Bild.“ Jetzt erst, da
sie gleichsam angeheizt sind, da in ihnen der merkwürdige
Fieberzustand beginnt – alle Menschen Dostojewskis sind
ja wandelnde Fieberzustände –, setzt sein dämonischer
Realismus ein, beginnt jene zauberische Jagd nach den
Einzelheiten, jetzt erst schleicht er der kleinsten Bewegung
nach, gräbt das Lächeln aus, kriecht in die krummen Fuchslöcher
der verworrenen Gefühle, folgt jeder Fußspur ihrer
Gedanken bis in das Schattenreich des Unbewußten. Jede
Bewegung zeichnet sich plastisch ab, jeder Gedanke wird
kristallen klar, und je mehr sich die gejagten Seelen ins
Dramatische verstricken, um so mehr glühen sie von innen,
um so durchsichtiger wird ihr Wesen. Gerade die unfaßbarsten,
die jenseitigsten Zustände, die krankhaften, die
hypnotischen, die ekstatischen, die epileptischen haben bei
Dostojewski die Präzision einer klinischen Diagnose, den
klaren Umriß einer geometrischen Figur. Nicht die feinste
Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste Schwingung
entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade
dort, wo die anderen Künstler versagen und, gleichsam geblendet
vom übernatürlichen Licht, den Blick wegwenden,
dort wird Dostojewskis Realismus am sichtbarsten. Und
diese Augenblicke, wo der Mensch die äußersten Grenzen
seiner Möglichkeiten erreicht, wo Wissen schon fast Wahnwitz
wird und Leidenschaft zum Verbrechen, sie sind auch
die unvergeßlichsten Visionen seines Werkes. Rufen wir
uns das Bild Raskolnikoffs in die Seele, so sehen wir ihn
nicht als schlendernde Gestalt auf der Straße oder im Zimmer,
als einen jungen Mediziner von 25 Jahren, als Menschen
von diesen und jenen äußeren Eigenheiten, sondern
in uns ersteht die dramatische Vision seiner irren Leidenschaft,
wie er mit zitternden Händen, kalten Schweiß auf
der Stirn, gleichsam mit geschlossenen Augen die Treppe
des Hauses hinaufschleicht, wo er gemordet hat, und in geheimnisvoller
Trance, um seine Qualen noch einmal sinnlich
zu genießen, die blecherne Klingel an der Türe der
Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasoff in den
Purgatorien des Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend
vor Leidenschaft, den Tisch zertrümmern mit seinen rasenden
Fäusten. Immer sehen wir bei Dostojewski den Menschen
erst bildhaft im Zustande der höchsten Erregtheit,
am Endpunkte seines Gefühles. So wie Leonardo in seinen
grandiosen Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität
des Physischen zeichnet, dort, wo sie über die
gemeine Form hervordrängt, so faßt Dostojewski die Seele
des Menschen im Augenblick des Überschwangs, gleichsam
in den Sekunden, wo sich der Mensch über den äußersten
Rand seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere
Zustand ist ihm wie jeder Ausgleich, wie jede Harmonie,
verhaßt: nur das Außerordentliche, das Unsichtbare, das
Dämonische reizt seine künstlerische Leidenschaft zum
äußersten Realismus. Er ist der unvergleichlichste Plastiker
des Ungewöhnlichen, der größte Anatom der reizbaren und
kranken Seele, den die Kunst je gekannt.
Das Instrument nun, das geheimnisvolle, mit dem Dostojewski
in diese Tiefe seiner Menschen dringt, ist das Wort.
Goethe schildert alles durch den Blick. Er ist – Wagner
hat diese Unterscheidung am glücklichsten ausgesprochen –
Augenmensch, Dostojewski Ohrenmensch. Er muß seine
Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir
sie als sichtbar empfinden, und ganz deutlich hat Mereschkowski
in seiner genialen Analyse der beiden russischen
Epiker ausgedrückt: bei Tolstoi hören wir, weil wir sehen,
bei Dostojewski sehen wir, weil wir hören. Seine Menschen
sind Schatten und Lemuren, solange sie nicht sprechen.
Erst das Wort ist der feuchte Tau, der ihre Seele befruchtet:
sie tun im Gespräch, wie phantastische Blüten, ihr Inneres
auf, zeigen ihre Farben, die Pollen ihrer Fruchtbarkeit.
In der Diskussion erhitzen sie sich, wachen sie auf aus
ihrem Seelenschlaf, und erst gegen den wachen, gegen den
leidenschaftlichen Menschen, ich sagte es ja schon, wendet
sich Dostojewskis künstlerische Leidenschaft. Er lockt
ihnen das Wort aus der Seele, um dann die Seele selbst zu
fassen. Jene dämonische psychologische Scharfsichtigkeit
des Details bei Dostojewski ist im letzten nichts anderes
als eine unerhörte Feinhörigkeit. Die Weltliteratur kennt
keine vollkommeneren plastischen Gebilde als die Aussprüche
der Menschen Dostojewskis. Die Wortstellung
ist symbolisch, die Sprachbildung charakteristisch, nichts zufällig,
jede abgebrochene Silbe, jeder weggesprungene Ton
die Notwendigkeit selbst. Jede Pause, jede Wiederholung,
jedes Atemholen, jedes Stottern ist wesentlich, denn immer
hört man unter dem ausgesprochenen Wort das unterdrückte
Mitschwingen: mit dem Gespräch flutet die ganze
heimliche Erregung der Seele auf. Man weiß aus der Rede
bei Dostojewski nicht nur, was jeder einzelne Mensch sagt
und sagen will, sondern auch, was er verschweigt. Und
dieser geniale Realismus des seelischen Hörens geht restlos
mit in die geheimnisvollsten Zustände des Wortes, in die
sumpfige, stockende Fläche des trunkenen Irreredens, in
die beflügelte, keuchende Ekstase des epileptischen Anfalles,
in das Dickicht der lügnerischen Verworrenheit. Aus dem
Dampf der erhitzten Rede ersteht die Seele, aus der Seele
kristallisiert sich allmählich der Körper. Ohne daß man
es selbst weiß, beginnt durch den Dunst des Wortes, durch
den Haschischrauch der Rede bei Dostojewski die Vision
des Sprechenden im körperlichen Bild aufzusteigen. Was
die anderen durch fleißiges Mosaik erzielen, durch die Farbe,
Zeichnung und Beschränkung, dieses Bild ballt sich bei
ihm visionär aus dem Wort. Man träumt bei Dostojewski
hellseherisch seine Menschen, sobald man sie sprechen hört.
Dostojewski kann es sich ersparen, sie graphisch zu zeichnen,
denn wir selber werden in der Hypnose ihrer Rede zum
Visionär. Ich will ein Beispiel wählen. Im „Idioten“ geht
der alte General, der pathologische Lügner, neben dem
Fürsten Myschkin her und erzählt ihm Erinnerungen. Er
beginnt zu lügen, gleitet immer tiefer in seine Lügen hinein
und verstrickt sich gänzlich darin. Er redet, redet, redet.
Über Seiten flutet seine Lüge hin.
Mit keiner Zeile nun schildert Dostojewski seine Haltung,
aber aus seinem Wort, aus seinem Stolpern, seinem
Stocken, seiner nervösen Hast spüre ich, wie er neben
Myschkin hergeht, wie er sich verstrickt hat, sehe, wie er
aufschaut, von der Seite den Fürsten vorsichtig anblickt,
ob er ihm nicht mißtraue, wie er stehen bleibt, hoffend,
der Fürst würde ihn unterbrechen. Ich sehe, wie der
Schweiß auf seiner Stirne perlt, sehe, wie sein Gesicht, das zuerst
begeisterte, nun sich immer mehr verkrampft in Angst,
sehe, wie er in sich zusammenkriecht, ein Hund, der fürchtet,
Prügel zu bekommen, und ich sehe den Fürsten, der selbst
alle Anstrengungen des Lügners in sich fühlt und niederhält.
Wo ist dies beschrieben bei Dostojewski? Nirgends,
nicht in einer einzelnen Zeile, und doch sehe ich jedes Fältchen
in seinem Gesicht mit leidenschaftlicher Klarheit.
Irgendwo ist da das Arkanum des Visionären in der Rede,
im Tonfall, in der Stellung der Silben, und so magisch ist
diese Kunst der Wiedergabe, daß selbst durch die unumgängliche
Verdickung, die ja jede Übertragung in eine
fremde Sprache darstellt, noch die ganze Seele seiner Menschen
schwingt. Der ganze Charakter des Menschen ist
bei Dostojewski im Rhythmus seiner Rede. Und diese
Komprimierung gelingt seiner genialen Intuition oft in
einer winzigen Einzelheit, durch eine Silbe fast. Wenn
Fedor Karamasoff auf das Briefkuvert der Gruschenka zu
ihrem Namen schreibt: „Mein Küchelchen!“ so sieht man
das Antlitz des senilen Wüstlings, sieht die schlechten
Zähne, durch die ihm der Speichel über die schmunzelnden
Lippen rinnt. Und wenn in den „Erinnerungen aus dem
Totenhaus“ der sadistische Major beim Stockprügeln
„Hie-be, Hie-be“ schreit, so ist in diesem winzigen Apostroph
sein ganzer Charakter, ein brennendes Bild, ein
Keuchen von Gier, flackernde Augen, das gerötete Gesicht,
das Keuchen der bösen Lust. Diese kleinen realistischen
Details bei Dostojewski, die sich wie spitze Angelhaken
ins Gefühl einbohren und widerstandslos mit ins fremde
Erleben reißen, sie sind sein erlesenstes Kunstmittel und
gleichzeitig der höchste Triumph des intuitiven Realismus
über den programmatischen Naturalismus. Dostojewski
verschwendet durchaus nicht diese seine Details. Er setzt
ein einziges ein, wo andere Hunderte applizieren, aber er
spart sich diese kleinen grausamen Einzelheiten der letzten
Wahrheit mit einem wollüstigen Raffinement auf, er überrascht
mit ihnen gerade im Augenblick der höchsten Ekstase,
wo man sie am wenigsten erwartet. Immer gießt er mit
unerbittlicher Hand den Galletropfen Irdischkeit in den
Kelch der Ekstase, denn für ihn heißt wirklich und wahrhaftig
sein: antiromantisch und antisentimental wirken.
Dostojewski ist, nie darf man es eine Sekunde vergessen,
nicht nur der Gefangene seines Kontrastes, sondern auch
sein Prediger. Es ist seine Leidenschaft, auch in der Kunst
die beiden Enden des Lebens, die grausamste, nackteste,
kälteste, schmutzigste Wirklichkeit mit den edelsten sublimsten
Träumen zu gatten. Er will, daß wir in allem
Irdischen das Göttliche fühlen, im Realistischen das Phantastische,
im Erhabenen das Gemeine, im lautern Geist das
bittere Salz der Erde und immer all dies gleichzeitig. Er
will, daß wir zwiespältig genießen, wie er selber zwiespältig
empfindet, er will auch hier keine Harmonie, keinen Ausgleich.
Immer in allen seinen Werken sind diese schneidenden
Zerrissenheiten, wo er mit satanischem Detail die
sublimsten Sekunden aufsprengt und dem Heiligsten des
Lebens seine Banalität entgegengrinst. Ich erinnere nur
an die Tragödie des „Idioten“, um einen solchen Augenblick
des Kontrastes sichtlich zu machen. Rogoschin hat
Nastassja Philipowna ermordet, nun sucht er Myschkin,
den Bruder. Er findet ihn auf der Straße, er rührt ihn an
mit der Hand. Sie brauchen nicht miteinander zu sprechen,
furchtbare Ahnung weiß alles voraus. Sie gehen über die
Straße in das Haus, wo die Ermordete liegt: irgendein ungeheueres
Vorempfinden von Größe und Feierlichkeit hebt
sich in einem auf, alle Sphären erklingen. Die beiden Feinde
eines Lebens, Brüder im Gefühl, schreiten in das Zimmer
zur Ermordeten. Nastassja Philipowna liegt tot. Man spürt,
diese Menschen werden sich nun das Letzte sagen, wie sie
einander gegenüberstehen an der Leiche der Frau, die sie
entzweite. Und dann kommt das Gespräch – und alle
Himmel sind zerschlagen von der nackten, brutalen, brennend
irdischen, teuflisch geistigen Sachlichkeit. Sie sprechen
davon als erstes, als einziges – ob die Leiche riechen
wird. Und Rogoschin erzählt mit schneidender Sachlichkeit,
er habe „gute amerikanische Wachsleinwand“ gekauft
und „vier Fläschchen einer desinfizierenden Flüssigkeit“
darauf gegossen.
Solche Details sind es, die ich bei Dostojewski die sadistischen,
die satanischen nenne, weil hier der Realismus
mehr ist als ein bloßer Kunstgriff der Technik, weil er
eine metaphysische Rache ist, Ausbruch geheimnisvoller
Wollust, einer gewaltsamen ironischen Enttäuschung.
„Vier Fläschchen!“ das Mathematische der Zahl, „amerikanische
Wachsleinwand!“ die grauenhafte Präzision des
Details – das sind absichtliche Zerstörungen der seelischen
Harmonie, grausame Revolten gegen die Einheit des Gefühls.
Hier wird Wahrheit über sich selbst hinaus schon
Exzeß, Laster und Marter, und diese entsetzlichen Niederstürze
aus den Himmeln des Gefühls in die schmutzigen
Steinbrüche der Wirklichkeit würden Dostojewski unerträglich
machen, wäre die gleiche Gewalt des Kontrastes
nicht auch im Gegenspiel vorhanden, entstünde nicht
immer wieder auch die ungeheuere seelische Ekstase bei ihm
aus den schmutzigsten Winkeln der Wirklichkeit. Man erinnere
sich nur an die Welt Dostojewskis. Sie ist, rein sozial
genommen, ein Wurmloch, knapp an der Gosse des Lebens,
immer in den dumpfesten Sphären der Armut und Kläglichkeit.
Mit absichtlicher Bewußtheit (er ist der Antiromantiker,
wie er der Antisentimentale ist) stellt er seine
Szenerie mitten in die Banalität hinein. Schmutzige Kellerlokale,
stinkend von Bier und Schnaps, dumpfe enge „Särge“
von Zimmern, nur abgetrennt durch Holzwände, nie Salons,
Hotels, Paläste, Kontore. Und mit Absicht sind
seine Menschen äußerlich „uninteressant“, schwindsüchtige
Frauen, verlumpte Studenten, Nichtstuer, Verschwender,
Tagediebe, niemals aber soziale Persönlichkeiten.
Aber gerade in diese dumpfe Alltäglichkeit stellt er die
größten Tragödien der Zeit. Aus dem Erbärmlichen steigt
das Erhabene phantastisch auf. Nichts wirkt dämonischer
bei ihm als dieser Kontrast äußerer Nüchternheit und seelischer
Trunkenheit, räumlicher Armut und Verschwendung
des Herzens. In Schnapszimmern verkünden trunkene
Menschen die Wiederkehr des Dritten Reiches, sein
Heiliger Aljoscha erzählt die tiefste Legende, während
ihm eine Dirne auf dem Schoße sitzt, in Bordellen und
Spielhäusern entfalten sich die Apostolate der Güte und
Verkündung, und die erhabenste Szene Raskolnikoffs,
wo der Mörder sich niederwirft und vor dem Leiden der
ganzen Menschheit sich beugt, sie spielt im Zimmerwinkel
einer Dirne bei dem stotternden Schneider Kapernaumow.
Ein ununterbrochener Wechselstrom, kalt oder warm,
warm oder kalt, aber nie lau, ganz im Sinne der Apokalypse,
durchblutet seine Leidenschaft das Leben. In einer
Phrenesie von Kontrasten stellt der Dichter hier das Erhabene
mit dem Banalen stetig Stirn an Stirn, von Unruhe
zu Unruhe wirft er die aufgereizten Gefühle. Nie gerät
man darum bei den Romanen Dostojewskis zur Rast, nie
in die sanfte, musikalische Rhythmik des Lesens, nie läßt
er einem ruhig den Atem rinnen, immer zuckt man wie
unter elektrischen Schlägen beunruhigt auf, heißer, brennender,
unruhiger, neugieriger von Seite zu Seite. Solange
wir in seiner dichterischen Gewalt sind, werden wir ihm
selber ähnlich. Wie in sich selbst, dem ewigen Dualisten,
dem Menschen am Kreuzholz des Zwiespalts, wie in seinen
Gestalten, zersprengt Dostojewski auch dem Leser die
Einheit des Gefühls.
Das ist ewige Eigenart seiner Darstellung, und es wäre
Herabwürdigung, sie mit dem Handwerkerwort „Technik“
zu benennen, denn diese Kunst kommt mitten aus Dostojewskis
Persönlichkeit, aus dem brennenden Urzwiespalt
seines Gefühls. Seine Welt ist offenbare Wahrheit und
Geheimnis, zugleich hellseherische Erkenntnis der Wirklichkeit,
Wissen und Magie. Das Unfaßbarste scheint verständlich,
das Verständlichste unfaßbar: beugen sich die
Probleme schon über den äußersten Rand der Möglichkeiten
hinaus, so stürzen sie doch nie ins Gestaltlose hinab.
Mit unerhörtester Kraft klemmen die visionär-realen Einzelheiten
seine Figuren im Irdischen fest, nie gleitet eine
ins Schattenhafte hinüber. Wen Dostojewski schildert,
dessen Wesen hat er visionär inne bis in die letzte Wirrnis
seiner Nervenstränge, er tastet ihm nach bis in den
Meeresgrund seiner Träume, durchfiebert seine Leidenschaft,
durchsiebt seine Trunkenheit, nie geht ein Atemzug
seelischer Substanz bei ihm verloren, wird ein Gedanke
übersprungen. Glied um Glied hämmert er die psychologische
Kette um die in der Kunst Gefangenen. Es gibt
bei ihm keine psychologischen Irrtümer, keine Verknotung,
die sein visionärer Intellekt, seine hellseherische Logik nicht
durchleuchtete. Nie einen Fehler, einen Verstoß gegen die
innere Wahrheit. Welche Kunstbauten des Geistes und der
Vision sind da errichtet, unübersehbar und unzerstörbar!
Der dialektische Zweikampf des Porphyri Petrowitsch
mit Raskolnikoff, die Architektonik der Verbrechen, das
logische Labyrinth der Karamasoff, das ist geistige Architektonik
ohnegleichen, fehllos wie Mathematik und doch
berauschend wie Musik. Sie vereinigen die höchsten Kräfte
des Geistes mit den seherischen der Seele zu einer neuen,
tieferen Wahrheit, als die Menschheit sie vordem gekannt.
Aber doch – die Frage muß beantwortet sein –, warum
wirkt trotz solcher dämonischer Vollendung der Wahrheit
Dostojewskis Werk, dieses irdischeste aller Werke,
doch wiederum unirdisch auf uns, als Welt zwar, aber
doch wie eine neben oder über unserer Welt, nur nicht
sie selbst? Warum stehen wir innen mit unserem tiefsten
Gefühl und sind doch irgendwie befremdet? Warum brennt
in allen seinen Romanen etwas wie künstliches Licht und
ist Raum darinnen wie aus Halluzinationen und Träumen?
Warum empfinden wir ihn, diesen äußersten Realisten,
immer mehr als Somnambulen denn als Darsteller der
Wirklichkeit? Warum ist trotz aller Feurigkeit, ja Überhitztheit
doch nicht fruchtbare Sonnenwärme darin, sondern
irgendein schmerzhaftes Nordlicht, blutig und blendend,
warum empfinden wir diese wahrste Darstellung des
Lebens, die je gegeben wurde, doch irgendwie nicht als
das Leben selbst? Als unser eigenes Leben?
Ich versuche zu antworten. Das höchste Maß der Vergleiche
ist für Dostojewski nicht zu gering, und am Erhabensten,
am Unvergänglichsten der Weltliteratur können
sie gewertet werden. Für mich ist die Tragödie der
Karamasoffs nicht geringer als die Verstrickungen der
Orestie, die Epik Homers, der erhabene Umriß von Goethes
Werk. Sie alle, diese Werke, sind sogar einfältiger, schlichter,
weniger erkenntnisreich, weniger zukunftsträchtig als
die Dostojewskis. Aber sie sind doch irgendwie weicher
und freundsamer für die Seele, sie geben Erlösung des
Gefühls, während Dostojewski nur Erkenntnis gibt. Ich
glaube: diese ihre Entspannung danken sie, daß sie nicht so
menschlich, nur menschlich sind. Sie haben um sich einen
heiligen Rahmen von strahlendem Himmel, von Welt,
einen Atem von Wiesen und Feldern, einen Sternblick von
Himmel, wo sich das Gefühl, das verschreckte, entspannt
hinflüchtet und befreit. Im Homer, mitten in den Schlachten,
im blutigsten Gemetzel der Menschen stehen ein paar
Zeilen der Schilderung, und man atmet salzigen Wind vom
Meer, das silberne Licht Griechenlands glänzt über die
Blutstatt, beseligt erkennt das Gefühl den schmetternden
Kampf der Menschen als einen kleinen nichtigen Wahn
gegen das Ewige der Dinge. Und man atmet auf, man ist
erlöst von der menschlichen Trübe. Auch Faust hat seinen
Ostersonntag, schwingt die eigene Qual in die zerklüftete
Natur, wirft seinen Jubel in den Frühling der
Welt. In allen diesen Werken erlöst die Natur von der
Menschenwelt. Dostojewski aber fehlt die Landschaft,
fehlt die Entspannung. Sein Kosmos ist nicht die Welt, sondern
nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für Bilder,
stumpf für Landschaft: mit einer ungeheueren Gleichgültigkeit
gegen die Natur, gegen die Kunst ist sein unergründliches,
sein unvergleichliches Wissen um den Menschen
bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe
von Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele,
nicht auch in den Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn
Pantheismus, das die deutschen, das die hellenischen Werke
so selig und so befreiend macht. Seine, Dostojewskis, Werke,
sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen
Straßen, in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche,
allzu menschliche Luft ist darinnen, die nicht klärend
durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und dem
Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch einmal sich
zu entsinnen bei seinen großen Werken, bei „Raskolnikoff“,
dem „Idioten“, bei den „Karamasoffs“, dem „Jüngling“,
in welcher Jahreszeit, in welcher Landschaft sie
spielen. Ist es Sommer, Frühling oder Herbst? Vielleicht
ist es irgendwo gesagt. Aber man fühlt es nicht. Man atmet
es, man schmeckt es, man spürt, man erlebt es nicht. Sie
spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das die
Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren
Hohlraum des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne
Stille und Schweigen. Großstadtrauch verdunkelt den Himmel
ihrer Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der Erlösung
vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen,
die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst
und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose
Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in seinen Büchern:
wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit
heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und
klar in einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit
bloß des Gefühls. Seine Sphäre ist Seelenwelt und
nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.
Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig
jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus,
auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen
Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet
ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von
Schatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr
wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn
Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen
sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und
durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht
aus Körperlichkeit. Dostojewskis Menschen kennen wir
alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl, Wesen
aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß
dieses Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen
körperlich an. Auf den zwanzigtausend Seiten
seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen
sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen
oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß
sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie
im Fieber, immer denken sie. Nie sind sie vegetativ, pflanzlich,
tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt,
und immer, immer wach. Wach und sogar überwach.
Immer im Superlativ ihres Seins. Alle haben sie die seelische
Übersichtigkeit Dostojewskis, alle sind sie Hellseher,
Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und
alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von
psychologischer Wissenschaft. Im gemeinen, im banalen
Leben stehen – erinnern wir uns nur – die meisten Menschen
im Konflikt miteinander und dem Schicksal einzig
darum, weil sie sich nicht verstehen, weil sie einen bloß
irdischen Verstand haben. Shakespeare, der andere große
Psychologe der Menschheit, baut die Hälfte seiner Tragödien
auf diese eingeborene Unwissenheit, auf dieses Fundament
von Dunkel, das zwischen Mensch und Mensch
als Verhängnis, als Stein des Anstoßes liegt. Lear mißtraut
seiner Tochter, denn er ahnt ihren Edelmut nicht, die
Größe der Liebe, die sich hier in Schamhaftigkeit verschanzt,
Othello wiederum nimmt sich Jago als Einflüsterer,
Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie dem wahren
Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei
Shakespeare wird wie im realen Leben das Mißverständnis,
die irdische Unzulänglichkeit, zeugende tragische Kraft,
die Quelle aller Konflikte. Die Menschen Dostojewskis
aber, diese Überwissenden, sie kennen kein Mißverstehen.
Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen
einander restlos bis in die letzten Tiefen, sie saugen sich
das Wort aus dem Munde, noch ehe es gesagt ist, und den
Gedanken noch aus dem Mutterleib der Empfindung. Sie
wittern, sie ahnen einander alle im voraus, nie enttäuschen
sie sich, nie staunen sie, jedes einzelnen Seele umfaßt in
geheimnisvoller Witterung schon der anderen Sinn. Das
Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen überentwickelt,
alle sind sie Propheten, alle Ahnende und Visionäre,
überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen
Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich will
ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja
Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es
vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde,
in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht
vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr
eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar
Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin
weiß es, auch er kennt das Messer und ebenso
Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im Gespräch
zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht.
Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasoffs ist das
Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die
Knie, weil er das Verbrechen wittert, selbst der Spötter
Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt
seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt,
auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht.
Iwan fährt nach Tchermaschnjä, um nicht Zeuge des
Verbrechens zu sein. Der Schmutzfink Smerdjakoff sagt
es ihm lächelnd voraus. Alle, alle wissen sie es, und den
Tag und die Stunde und den Ort aus einer Überladenheit
mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in
ihrer Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner,
alle Allesversteher.
Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache
Form aller Wahrheit für den Künstler. Obwohl
Dostojewski den Menschen tiefer kennt als irgendeiner vor
ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als Kenner der
Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt,
das Gemeine und Gleichgültige neben das Grandiose gestellt,
wo Dostojewski einen jeden ins Unendliche steigert.
Shakespeare hat die Welt im Fleisch erkannt, Dostojewski
im Geist. Seine Welt ist vielleicht die vollkommenste
Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer
Traum von der Seele, ein Traum, der die Wirklichkeit
noch überflügelt: aber Realismus, der über sich selbst hinaus
ins Phantastische reicht. Der Überrealist Dostojewski,
der Überschreiter aller Grenzen, er hat die Wirklichkeit
nicht geschildert: er hat sie über sich selbst hinaus gesteigert.
Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt
in Kunst gestaltet, von innen gebunden, von innen erlöst.
Diese Art von Kunst, die tiefste und menschlichste aller,
hat keine Vorfahren in der Literatur, weder in Rußland
noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat nur Brüder
in der Ferne. An die griechischen Tragiker gemahnt
manchmal der Krampf und die Not, dieses Übermaß von
Qual in den Menschen, die unter dem Griff des übermächtigen
Schicksales sich krümmen, an Michelangelo manchmal
durch die mystische, steinerne, unerlösbare Traurigkeit
der Seele. Aber der wahre Bruder Dostojewskis durch
die Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem
Leben von Mühsal, Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene
der Irdischkeit, gepeitscht von den Bütteln des Geldes
in die tiefste Tiefe des menschlichen Seins hinab. Beide
wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den
ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine
Schönheit tiefer ist als die heilige der Seele, die aus der
Nüchternheit des Seins gewonnen ist. Wie Dostojewski
seine Heiligen aus russischen Bauern, Verbrechern und
Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine biblischen Figuren
von den Modellen der Hafengassen; beiden ist in den niedersten
Formen des Lebens irgendeine geheimnisvolle, neue
Schönheit verborgen, beide finden sie ihren Christus im
Abhub des Volks. Beide wissen sie von dem ständigen
Spiel und Widerspiel der Erdenkräfte, von Licht und
Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen wie im Beseelten
waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem
letzten Dunkel des Lebens genommen. Je mehr man in
die Tiefe der Bilder Rembrandts, der Bücher Dostojewskis
blickt, sieht man das letzte Geheimnis der weltlichen und
geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit. Und
wo die Seele zuerst nur schattenhafte Form, nur trübe Wirklichkeit
zu schauen meint, erkennt sie, tiefer blickend, mit
erkennender Lust entrungenes Licht: jenen heiligen Glanz,
der als Märtyrerkrone über den letzten Dingen des Lebens
liegt.
ARCHITEKTUR UND LEIDENSCHAFT
„Que celui aime peu, qui aime la mesure!“
La Boetie
„Alles treibst du bis zur Leidenschaft.“ Das Wort
Nastassja Philipownas trifft alle Menschen Dostojewskis
und trifft vor allem ihn, Dostojewski selbst, mitten in die
Seele. Nur leidenschaftlich kann dieser Gewaltige den
Phänomenen des Lebens entgegentreten und darum am
leidenschaftlichsten seiner leidenschaftlichsten Liebe: der
Kunst. Selbstverständlich, daß der schöpferische Prozeß,
die künstlerische Bemühung, bei ihm nicht eine geruhige,
ordnend aufbauende, kühl berechnend architektonische
ist. Dostojewski schreibt im Fieber, wie er im Fieber
denkt, im Fieber lebt. Unter der Hand, die die Worte in
fließenden kleinen Perlenketten (er hat die nervöse Eilschrift
aller hitzigen Menschen) über das Papier rinnen
läßt, hämmert der Puls in verdoppelten Schlägen, seine
Nerven zucken im Krampf. Schöpfung ist ihm Ekstase,
Qual, Entzückung und Zerschmetterung, eine zum Schmerz
gesteigerte Wollust, ein zur Wollust gesteigerter Schmerz,
das ewige Spasma, der immer wiederholte vulkanische
Ausbruch seiner übermächtigen Natur. „Unter Tränen“
schreibt der Zweiundzwanzigjährige sein erstes Werk
„Arme Leute“, und seitdem ist jede Arbeit eine Krise, eine
Krankheit. „Ich arbeite nervös, unter Qual und Sorgen.
Wenn ich angestrengt arbeite, bin ich auch physisch
krank.“ Und tatsächlich, die Epilepsie, seine mystische
Krankheit, dringt ein mit ihrem fiebrigen, entzündlichen
Rhythmus, mit ihren dunklen, dumpfen Hemmungen, bis
in die feinsten Vibrationen seines Werks. Immer aber
schafft Dostojewski mit dem Ganzen seines Wesens, im
hysterischen Furor. Selbst die kleinsten, scheinbar gleichgültigen
Partien seines Werkes, wie die journalistischen Aufsätze,
sind gegossen und geschmolzen in der feurigen Esse
seiner Leidenschaft. Nie schafft er mit dem bloß abgelösten,
frei wirkenden Teil seiner schaffenden Kraft, gleichsam
aus dem Handgelenk, aus der spielhaften Leichtigkeit der
Technik, immer ballt er seine ganze physische Erregbarkeit
in das Geschehnis, bis an den letzten Nerv seines
Lebens leidend und mitleidend in seinen Gestalten. Alle
seine Werke sind gleichsam explosiv in rasenden Wetterschlägen
durch einen ungeheuren atmosphärischen Druck
herausgeschwemmt. Dostojewski kann nicht gestalten
ohne inneren Anteil, und für ihn gilt das bekannte Wort
über Stendhal: „Lorsqu'il n'avait pas d'émotion, il était
sans esprit.“ Wenn Dostojewski nicht leidenschaftlich war,
war er nicht Dichter.
Aber Leidenschaft in der Kunst wird ebenso zerstörendes
Element, als sie bildnerisches war. Sie schafft nur das
Chaos der Kräfte, dem der klare Geist erst die ewigen Formen
erlöst. Alle Kunst braucht die Unruhe als Antrieb der
Gestaltung, aber nicht minder eine überlegen-überlegte
Ruhe der Auswägung zu einer Vollendung. Dostojewskis
mächtiger, die Wirklichkeit diamanten durchdringender
Geist weiß nun wohl um die marmorne, eherne Kühle,
die das große Kunstwerk umwittert. Er liebt, er vergöttert
die große Architektonik, er entwirft prachtvolle Maße,
erhabene Ordnungen des Weltbildes. Aber immer wieder
überflutet das leidenschaftliche Gefühl die Fundamente. Der
Zwiespalt, der ewige zwischen Herz und Geist, wirkt auch
im Werke und nennt sich hier Kontrast von Architektonik
und Leidenschaft. Vergebens sucht Dostojewski als Künstler
objektiv zu schaffen, außen zu bleiben, bloß zu erzählen und
zu gestalten, Epiker zu sein, Referent von Geschehnissen,
Analytiker der Gefühle. Unwiderstehlich reißt ihn seine
Leidenschaft in Leiden und Mitleiden immer wieder
in die eigene Welt. Immer ist etwas vom Chaos des Anfangs
selbst in den vollendeten Werken Dostojewskis, nie
die Harmonie erreicht („Ich hasse die Harmonie“, so
schreit Iwan Karamasoff, der Verräter seiner geheimsten
Gedanken). Auch hier ist zwischen Form und Wille kein
Friede, kein Ausgleich, sondern – o ewige Zweiheit seines
Wesens, alle Formen durchdringend von der kalten Schale
bis zum glühendsten Kerne! – ein unablässiger Kampf
zwischen außen und innen. Der ewige Dualismus seines
Wesens heißt im epischen Werke Kampf zwischen Architektur
und Leidenschaft.
Nie erreicht Dostojewski in seinen Romanen, was man
fachmännisch „den epischen Vortrag“ nennt, jenes große
Geheimnis, bewegtes Geschehen in ruhiger Darstellung zu
bändigen, das von Homer bis Gottfried Keller und Tolstoi
sich in unendlicher Ahnenreihe von Meister auf Meister
vererbt. Leidenschaftlich formt er seine Welt, und nur
leidenschaftlich, nur erregt, kann man sie genießen. Nie stellt
sich in seinen Büchern jenes sanfte rhythmische, einwiegende
Gefühl der Behaglichkeit ein, nie fühlt man sich
sicher und außen gegenüber den Geschehnissen, gleichsam
an dem sicheren Ufer, Brandung und Tumult eines erregten
Meeres schauspielhaft betrachtend. Immer ist man
innen bei ihm eingewühlt, verstrickt in die Tragödie. Wie
eine Krankheit erlebt man die Krise seiner Menschen im
Blute, wie eine Entzündung brennen die Probleme im
aufgepeitschten Gefühl. Mit allen unseren Sinnen taucht
er uns in seine brennende Atmosphäre, stößt er uns an
den Abgrundrand der Seele, wo wir keuchend stehen,
schwindeligen Gefühls, mit abgerissenem Atem. Und erst,
wenn unsere Pulse jagen wie die seinen, wir selbst der
dämonischen Leidenschaft verfallen sind, erst dann gehört
sein Werk ganz uns, gehören wir ihm ganz. Dostojewski
will eben nur angespannte, gesteigerte Menschen als Mitempfinder
seiner Epik, so wie er sie als seine Helden wählt.
Die Leihbibliothekskonsumenten, die behaglichen Flaneure
des Lesens, die Spaziergänger auf den Bürgersteigen ausgetretener
Probleme, müssen auf ihn und er auf sie verzichten.
Nur der brennende Mensch, der leidenschaftlich
entzündete, der glühende im Gefühl, findet hinab in seine
wahre Sphäre.
Es läßt sich nicht verleugnen, nicht verbergen, nicht
verschönern: das Verhältnis Dostojewskis zum Leser ist
weder ein freundschaftliches noch ein behagliches, sondern
eine Zwietracht voll gefährlicher, grausamer, wollüstiger
Instinkte. Es ist eine leidenschaftliche Beziehung wie
zwischen Mann und Weib, nicht wie bei den andern
Dichtern ein Verhältnis der Freundschaft und des Vertrauens.
Dickens oder Gottfried Keller, seine Zeitgenossen,
führen mit sanfter Überredung, mit musikalischer Lockung
den Leser in ihre Welt, sie plaudern ihn freundlich ins
Geschehnis hinein, sie reizen nur die Neugier, die Phantasie,
nicht aber wie Dostojewski das ganze aufschäumende
Herz. Er, der Leidenschaftliche, will uns ganz haben, nicht
bloß unsere Neugier, unser Interesse, er begehrt unsere
ganze Seele, selbst unsere Körperlichkeit. Zuerst lädt er
die innere Atmosphäre mit Elektrizität, raffiniert steigert er
unsere Reizbarkeit. Eine Art Hypnose setzt ein, ein Willensverlust
in seinen leidenschaftlichen Willen: wie das
dumpfe Murmeln des Beschwörenden, endlos und sinnlos
umtut er den Sinn mit breiten Gesprächen, reizt mit Geheimnis
und Andeutungen die Anteilnahme bis tief nach
innen. Er duldet nicht, daß wir zu früh uns hingeben, er
dehnt in wollüstigem Wissen die Marter der Vorbereitung,
Unruhe beginnt in einem leise zu kochen, aber immer
wieder verzögert er, neue Figuren vorschiebend, neue Bilder
entrollend, den Einblick in das Geschehnis. Ein wissender,
ein wollüstiger Erotiker, hält er seine, hält er unsere
Hingebung mit teuflischer Willenskraft zurück und steigert
damit den innern Druck, die Gereiztheit der Atmosphäre
ins Unendliche. Schicksalsträchtig fühlt man über sich ein
Gewölk von Tragik (wie lange dauert es in Raskolnikoff,
ehe man weiß, daß all diese sinnlosen seelischen Zustände
Vorbereitungen zu seinem Morde sind, und doch spürt
man längst in den Nerven Furchtbares voraus!), auf dem
Himmel der Seele wetterleuchtet schaurige Ahnung. Aber
Dostojewskis sinnliche Wollüstigkeit berauscht sich im
Raffinement der Verzögerung, sie prickelt wie Nadelstiche
kleine Andeutungen in die Haut des Empfindens. Mit
satanischer Verlangsamung stellt Dostojewski vor seinen
großen Szenen noch Seiten und Seiten mystischer und
dämonischer Langweile, bis er in dem Reizmenschen (ein
anderer fühlt ja nichts von diesen Dingen) ein geistiges
Fieber, eine physische Qual erzeugt. Auch das Lustgefühl
der Spannung treibt dieser Fanatiker des Kontrastes bis in
den Schmerz hinein, und erst dann, wenn im überheizten
Kessel der Brust das Gefühl schon brodelt und die Wände
sprengen will, dann erst schlägt er einem mit dem Hammer
auf das Herz, dann zuckt eine jener sublimen Sekunden
nieder, wo wie ein Blitz die Erlösung aus dem Himmel
seines Werkes in die Tiefe unserer Herzen fährt. Erst
wenn die Spannung unerträglich geworden ist, zerreißt
Dostojewski das epische Geheimnis und löst das zerspannte
Gefühl in weiche, flutende, tränenfeuchte Empfindung.
So feindlich, so wollüstig, so raffiniert leidenschaftlich
umstellt, umfaßt Dostojewski seine Leser. Nicht im Ringkampf
zwingt er sie nieder, sondern wie ein Mörder, der
stundenlang und stundenlang sein Opfer umkreist, durchstößt
er einem dann plötzlich mit einer spitzen Sekunde
das Herz. So leidenschaftlich ist er im eigenen Aufruhr,
daß man zweifelt, ihn noch einen Epiker nennen zu dürfen.
Seine Technik ist eine explosive: er höhlt nicht kärrnerhaft,
Schaufel um Schaufel, die Straße in sein Werk
hinein, sondern von innen herauf mit einer ins kleinste
geballten Kraft sprengt er die Welt auf und die erlöste
Brust. Ganz unterirdisch sind seine Vorbereitungen, gleichsam
eine Verschwörung, eine blitzartige Überraschung
für den Leser. Nie weiß man, obwohl man fühlt, daß man
einer Katastrophe entgegengeht, in welchen Menschen er
die Stollen seiner Minengänge eingräbt, von welcher Seite,
in welcher Stunde die furchtbare Entladung erfolgt. Von
jedem einzelnen führt ein Schacht in den Mittelpunkt des
Geschehens, jeder einzelne ist geladen mit dem Zündstoff
der Leidenschaft. Wer aber den Kontakt zündet (zum
Beispiel, wer von den vielen, die alle innerlich von den
Gedanken vergiftet sind, den Fedor Karamasoff tötet), das
ist mit einer unerhörten Kunst verborgen bis zum letzten
Augenblick, denn Dostojewski, der alles ahnen läßt, verrät
nichts von seinem Geheimnis. Man fühlt nur immer
das Schicksal wie einen Maulwurf unter der Fläche des
Lebens wühlen, fühlt, wie sich bis hart unter unser Herz die
Mine vorschiebt, und vergeht, verzehrt sich in unendlicher
Spannung bis zu den kleinen Sekunden, die wie ein Blitz
die Schwüle der Atmosphäre zerschneiden.
Und für diese kleinen Sekunden, für die unerhörte Konzentration
des Zustandes benötigt der Epiker Dostojewski
eine bisher ungekannte Wucht und Breite der Darstellung.
Nur eine monumentale Kunst kann solch eine Intensität,
eine solche Konzentration erzielen, nur eine Kunst urweltlicher
Größe und mythischer Wucht. Hier ist Breite nicht
Geschwätzigkeit, sondern Architektur: wie für die Spitzen
der Pyramiden riesige Fundamente, sind für die spitzen
Höhepunkte bei Dostojewski die gewaltigen Dimensionen
seiner Romane notwendig. Und wirklich, wie die Wolga,
der Dnjepr, die großen Ströme seiner Heimat, rollen diese
Romane dahin. Etwas Stromhaftes ist ihnen allen zu eigen,
langsam wogend rollen sie ungeheuere Mengen des Lebens
heran. Auf ihren Tausenden und Tausenden Seiten schwemmen
sie, gelegentlich die Ufer des künstlerischen Gestaltens
übertretend, viel politisches Geröll und polemisches
Gestein mit sich fort. Manchmal, wo die Inspiration nachläßt,
haben sie auch breite, sandige Stellen. Schon scheinen
sie zu versiegen. In stockendem Lauf winden sich mühsam
durch Krümmungen und Wirrungen die Geschehnisse
weiter, die Flut stagniert an den Sandbänken der Gespräche
für Stunden, bis sie wieder dann die eigene Tiefe und den
Schwung ihrer Leidenschaft findet.
Aber dann, in der Nähe des Meeres, der Unendlichkeit,
kommen plötzlich jene unerhörten Stellen der Stromschnelle,
wo sich die breite Erzählung zum Wirbel zusammenballt,
die Seiten gleichsam fliegen, das Tempo beängstigend
wird, die Seele mitgerissen in den Abgrund des
Gefühls hinpfeilt. Schon fühlt man die nahe Tiefe, schon donnert
der Wassersturz her, die ganze breite schwere Masse ist
plötzlich in schäumende Geschwindigkeit verwandelt, und
wie die Strömung der Erzählung, gleichsam magnetisch
vom Katarakt angezogen, der Katharsis zuschäumt, so
sausen wir selbst unwillkürlich rascher durch diese Seiten
und stürzen dann plötzlich in den Abgrund des Geschehens,
gleichsam mit zerschmetterten Gefühlen.
Und dieses Gefühl, wo gleichsam die ungeheuere Summe
des Lebens in einer einzigen Ziffer gezogen ist, dieses Gefühl
äußerster Konzentration, qualvoll und schwindlig
zugleich, das er selbst einmal das „Turmgefühl“ nennt, –
den göttlichen Wahnsinn, sich über die eigene Tiefe zu
beugen und die Seligkeit des tödlichen Niedersturzes vorempfindend
zu genießen – dieses äußerste Gefühl, in dem
man mit dem ganzen Leben auch noch den Tod empfindet,
es ist immer auch die unsichtbare Spitze der großen
epischen Pyramiden Dostojewskis. Alle Romane sind vielleicht
nur geschrieben um dieser Augenblicke der weißglühenden
Empfindung willen. Zwanzig oder dreißig solcher
grandioser Stellen hat Dostojewski geschaffen, und
alle sind sie von so unvergleichlicher Vehemenz der leidenschaftlichen
Zusammenballung, daß sie einem nicht nur
beim ersten Lesen, da sie einen gleichsam noch wehrlos überfallen,
sondern noch beim vierten oder fünften Wiederholen
wie eine Stichflamme durch das Herz fahren. Immer sind in
diesem Augenblick plötzlich alle Menschen des ganzen
Buches in einem Zimmer versammelt, immer alle in der
äußersten Intensität ihres Eigenwillens. Alle Straßen, alle
Ströme, alle Kräfte laufen magisch zusammen, lösen sich auf
in einer einzigen Geste, einer einzigen Gebärde, einem einzigen
Wort. Ich erinnere nur an die Szene in den „Dämonen“,
wo die Ohrfeige Schatows mit ihrem „trockenen
Schlag“ das Spinnweb des Geheimnisses zerreißt, wie im
„Idioten“ Nastassja Philipowna die 100 000 Rubel ins Feuer
wirft, oder die Geständnisszene in „Raskolnikoff“ und
den „Karamasoff“. In diesen höchsten, schon nicht mehr
stofflichen, in diesen ganz elementaren Momenten seiner
Kunst gattet sich restlos Architektur und Leidenschaft.
Nur in der Ekstase ist Dostojewski der einheitliche Mensch,
nur in diesen kurzen Augenblicken der vollendete Künstler.
Aber diese Szenen sind rein künstlerisch ein Triumph
der Kunst über den Menschen ohnegleichen, denn erst
rücklesend wird man gewahr, mit einer wie genialen Berechnung
alle Anstiege zu diesem Höhepunkt geführt sind,
mit welch wissender Verteilung hier Menschen und Umstände
sich magisch ergänzen, wie die ungeheure Gleichung,
die tausendstellige und verschränkte, sich plötzlich
auflöst in die kleinste Zahl, die letzte, restlose Einheit des
Gefühls: die Ekstase. Das ist das größte künstlerische Geheimnis
Dostojewskis, alle seine Romane zu solchen Spitzen
hinaufzubauen, in denen sich die ganze elektrische
Atmosphäre des Gefühls sammelt und die den Blitz des
Schicksals mit unfehlbarer Sicherheit in sich auffangen.
Muß noch besonders auf den Ursprung dieser einzigartigen
Kunstform hingewiesen sein, die vor Dostojewski
keiner besessen und vielleicht nie ein Künstler in gleichem
Maße besitzen wird? Muß es noch gesagt sein, daß dieses
Aufzucken der gesamten Lebenskräfte zu einzigen Sekunden
nichts anderes ist, als in Kunst verwandelte, sinnfällige
Form seines eigenen Lebens, seiner dämonischen
Krankheit? Nie ist das Leiden eines Künstlers fruchtbarer
gewesen als diese künstlerische Verwandlung der
Epilepsie, denn nie hat sich vor Dostojewski in der Kunst
eine ähnliche Konzentration von Lebensfülle in das engste
Maß von Raum und Zeit gebannt. Er, der am Semenowskiplatz
gestanden, die Augen verschnürt, und in zwei Minuten
sein ganzes vergangenes Leben noch einmal durchlebte,
der bei jedem epileptischen Anfall in der Sekunde zwischen
dem wankenden Taumel und dem harten Niedersturz vom
Sessel auf den Boden Welten visionär durchirrt, nur er
konnte diese Kunst erreichen, in eine Nußschale von Zeit
einen Kosmos von Geschehnissen einzubetten. Nur er das
Unwahrscheinliche solcher explosiver Sekunden so dämonisch
ins Wirkliche zwingen, daß wir dieser Fähigkeit der
Überwindung von Raum und Zeit kaum gewahr werden.
Wahre Wunder der Konzentration sind seine Werke. Ich
erinnere nur an ein Beispiel: Man liest den ersten Band
des „Idioten“, der über 500 Seiten umfaßt. Ein Tumult
von Schicksal hat sich erhoben, ein Chaos von Seelen ist
durchflogen, eine Vielzahl von Menschen innerlich belebt.
Man hat mit ihnen Straßen durchwandert, in Häusern gesessen,
und plötzlich, bei zufälligem Besinnen, entdeckt
man, daß diese ganze ungeheure Fülle von Geschehnissen in
einem Ablauf von kaum zwölf Stunden vor sich ging, von
Morgen bis Mitternacht. Ebenso ist die phantastische
Welt der Karamasoff in bloß ein paar Tage, die Raskolnikoffs
in eine Woche zusammengeballt, – Meisterstücke
der Gedrängtheit, wie sie ein Epiker noch nie und selbst
das Leben nur in den seltensten Augenblicken erreicht.
Einzig die antike Tragödie des Ödipus etwa, der in der
engen Spanne von Mittag bis Abend ein ganzes Leben
und das vergangener Generationen zusammendrängt, kennt
diesen rasenden Niedersturz von Höhe zu Tiefe, von Tiefe
zu Höhe, diese erbarmungslosen Wetterstürze des Geschicks,
aber auch diese reinigende Kraft der seelischen
Gewitter. Mit keinem epischen Werk läßt sich diese Kunst
vergleichen, und darum wirkt Dostojewski immer in seinen
großen Augenblicken als Tragiker, seine Romane gleichsam
wie umhüllte, verwandelte Dramen; im letzten sind
die Karamasoff Geist vom Geiste der griechischen Tragödie,
Fleisch vom Fleische Shakespeares. Nackt steht
in ihnen, wehrlos und klein, der riesige Mensch unter
dem tragischen Himmel des Schicksals.
Und seltsam, in diesen leidenschaftlichen Augenblicken
der Niederstürze verliert plötzlich der Roman Dostojewskis
auch seinen erzählerischen Charakter. Die dünne epische
Umschalung schmilzt ab in der Hitze des Gefühls und
verdunstet; nichts bleibt als der blasse weißglühende Dialog.
Die großen Szenen in Dostojewskis Romanen sind nackte
dramatische Dialoge. Man kann sie, ohne ein Wort beizufügen
oder fortzulassen, auf die Bühne pflanzen, so festgezimmert
ist jede einzelne Figur, so zur dramatischen
Sekunde verdichtet sich in ihnen der breite strömende Gehalt
der großen Romane. Das tragische Gefühl in Dostojewski,
das immer zu Endgültigem drängt, zur gewaltsamen
Spannung, zur blitzartigen Entladung, schafft in diesen
Höhepunkten sein episches Kunstwerk scheinbar restlos
zum dramatischen um.
Was in diesen Szenen an dramatischer, ja theatralischer
Schlagkraft enthalten ist, haben selbstverständlich die eilfertigen
Theaterhandwerker und Boulevarddramatiker zuerst
erkannt, lang vor den Philologen, und rasch einige
robuste Theaterstücke aus dem „Raskolnikoff“, dem „Idioten“,
den „Karamasoff“ gezimmert. Aber hier hat sich
erwiesen, wie kläglich solche Versuche scheitern, Figuren
Dostojewskis von außen, von ihrer Körperlichkeit und
ihrem Schicksal zu fassen, sie aus ihrer Sphäre, der Seelenwelt,
zu heben und von der gewitternden Atmosphäre der rhythmischen
Reizbarkeit abzulösen. Wie abgeschälte Baumstämme,
nackt und leblos, wirken diese Figuren dramatisch
im Vergleich zu ihrer lebendigen, raunenden, rauschenden
Wipfelhaftigkeit, die an die Himmel rührt und jede doch
mit tausend geheimen Nervenfäden im epischen Erdreich
wurzelt. Ihr Aderwerk, breitfältig verästelt auf Hunderten
von Seiten, zieht seine stärkste bildnerische Kraft aus
dem Dunkel, aus Andeutung und Ahnung. Die Psychologie
Dostojewskis ist keine für grelles Lampenlicht, sie
spottet ihrer „Bearbeiter“ und Vereinfacher. Denn in
dieser epischen Unterwelt gibt es geheimnisvolle psychische
Kontakte, Unterströmungen und Nuancierungen. Nicht
aus sichtbaren Gesten, sondern aus tausend und tausend
einzelnen Andeutungen bildet und formt sich bei ihm eine
Gestalt, nichts Spinnwebzarteres kennt die Literatur, als
dies seelische Netzwerk. Um einmal die Durchgängigkeit
dieser subkutanen, gleichsam unter der Haut fließenden
Unterströmungen der Erzählung zu empfinden, versuche
man zur Probe einen Roman Dostojewskis in einer der
gekürzten französischen Ausgaben zu lesen. Es fehlt anscheinend
nichts darin: der Film der Geschehnisse rollt
geschwinder ab, die Figuren erscheinen sogar agiler, geschlossener,
leidenschaftlicher. Aber doch, sie sind irgendwo
verarmt, ihrer Seele fehlt jener wunderbare irisierende
Glanz, ihrer Atmosphäre die funkelnde Elektrizität, jene
Schwüle der Spannung, die erst die Entladung so furchtbar
und so wohltätig macht. Irgend etwas ist zerstört, das nicht
wieder zu ersetzen ist, ein Zauberkreis gebrochen. Und
gerade aus diesen Versuchen von Kürzungen und Dramatisierung
erkennt man den Sinn der Breite bei Dostojewski,
die Zweckhaftigkeit seiner scheinbaren Weitschweifigkeit.
Denn die kleinen, flüchtigen, gelegentlichen Andeutungen,
die ganz zufällig und überflüssig scheinen, sie haben Erwiderung
hundert und hundert Seiten später. Unter der
Oberfläche der Erzählung laufen solche Leitungen verborgener
Kontakte, die Meldungen weitertragen, geheimnisvolle
Reflexe tauschen. Es gibt bei ihm seelische Chiffrierungen,
ganz winzige physische und psychische Zeichen,
deren Sinn erst beim zweiten, beim dritten Lesen offenbar
wird. Kein Epiker hat ein gleichsam so durchnervtes System
des Erzählens, ein so unterirdisches Gewirr der Begebenheit
unter dem Knochenwerk des Geschehnisses, unter der Haut
des Dialogs. Und doch, System kann man es kaum nennen:
nur mit der scheinbaren Willkürlichkeit und doch geheimnisvollen
Ordnung des Menschen selbst läßt sich dieser
psychologische Prozeß vergleichen. Während die anderen
epischen Künstler, insbesondere Goethe, mehr die Natur als
den Menschen nachzuahmen scheinen und das Geschehnis
organisch wie eine Pflanze, bildhaft wie eine Landschaft
genießen lassen, erlebt man einen Roman Dostojewskis
wie die Begegnung mit einem sonderbar tiefen und leidenschaftlichen
Menschen. Dostojewskis Kunstwerk ist urirdisch
bei aller Ewigkeit, ein zweispältiges, wissendes, erregt
leidenschaftliches Nervenwesen, immer gegorenes
Fleisch und Hirn, nie ehernes Metall, reines ausgeglühtes
Element. Es ist unberechenbar und unergründbar, wie die
Seele es in den Grenzen ihrer Körperlichkeit ist, und unvergleichbar
innerhalb der Formen der Kunst.
Unvergleichbar: Bewunderung seiner Kunst, seiner seelischen
Meisterschaft, sie ist jenseitig allen Maßes, und je
tiefer man sich in sein Werk versenkt, desto unwahrscheinlicher
und gewaltiger scheint ihre Größe. Damit soll keineswegs
gesagt sein, daß diese Romane an sich alle vollendete
Kunstwerke wären, ja sie sind es viel weniger als manche
ärmere Werke, die engere Kreise ziehen und sich mit
Schlichterem bescheiden. Der Maßlose kann das Ewige
erreichen, aber nicht nachbilden. Viel ihrer unerhörten
Architektonik ist von Leidenschaft verschwemmt, manche
heroische Konzeption von Ungeduld zerstört. Aber diese
Ungeduld Dostojewskis, sie führt von der Tragödie seiner
Kunst in die seines Lebens zurück. Denn dies war äußeres
Schicksal und nicht innere Leichtfertigkeit bei ihm
ebenso wie bei Balzac, daß er getrieben war vom Leben zur
Eiligkeit und zu sehr gehetzt, um die Werke vollendet
zu gestalten. Man vergesse nicht, wie diese Werke entstanden
sind. Immer war schon der ganze Roman verkauft,
während Dostojewski noch das erste Kapitel schrieb,
jede Arbeit eine Hetzjagd von Vorschuß zu neuem Vorschuß.
„Wie ein alter Postgaul“ arbeitend, auf der Flucht
durch die Welt, fehlt es ihm manchmal an Zeit und Ruhe,
die letzte Feile anzulegen, und er weiß es selbst, der
Wissendste aller, und empfindet es wie Schuld! „Mögen
sie doch sehen, in welchem Zustande ich arbeite. Sie verlangen
von mir schlackenlose Meisterwerke, und aus
bitterster, elendster Not bin ich zur Eile gezwungen“,
schreit er erbittert auf. Er flucht Tolstoi und Turgenjew,
die, gemächlich auf ihren Gütern sitzend, die Zeilen runden
und ordnen können, und denen er um nichts sonst neidisch
ist. Keine Armut scheut er persönlich, aber der Künstler,
erniedrigt zum Proletarier der Arbeit, schäumt gegen
die „Gutsherrnliteratur“ aus der unbändigen Sehnsucht
des Artisten, einmal in Ruhe, einmal in Vollendung gestalten
zu können. Jeden Fehler in seinen Werken kennt
er, er weiß, daß nach seinen epileptischen Anfällen die
Spannung nachläßt, die straffe Hülle des Kunstwerks
gleichsam undicht wird und Gleichgültiges einströmen
läßt. Oft müssen ihn Freunde oder seine Frau auf grobe
Vergeßlichkeiten aufmerksam machen, die er in jener Verdunklung
der Sinne nach dem Anfall begeht, wenn er die
Manuskripte liest. Dieser Proletarier, dieser Taglöhner
der Arbeit, dieser Sklave des Vorschusses, der in der Zeit
seiner ärgsten Not drei gigantische Romane hintereinander
schreibt, ist innerlich der bewußteste Artist. Er liebt fanatisch
die Goldschmiedearbeit, den Filigran der Vollendung.
Noch unter der Peitsche der Not feilt und bosselt er stundenlang
an einzelnen Seiten, zweimal vernichtet er den „Idioten“,
obzwar seine Frau hungert und die Hebamme noch
nicht bezahlt ist. Unendlich ist sein Wille zur Vollendung,
aber auch die Not ist unendlich. Wieder ringen die beiden
gewaltigsten Mächte um seine Seele, der äußere Zwang
und der innere. Auch als Künstler bleibt er der große
Zerspaltene der Zweiheit. Wie der Mensch in ihm ewig
nach Harmonie und Ruhe, so dürstet der Künstler in ihm
ewig nach Vollendung. Hier wie dort hängt er mit zerrissenen
Armen am Kreuze seines Schicksals.
Auch die Kunst also, auch sie, die Einzig-Eine, ist nicht
Erlösung dem Gekreuzigten des Zwiespalts, auch sie Qual,
Unruhe, Hast und Flucht, auch sie nicht Heimat dem
Heimatlosen. Und die Leidenschaft, die ihn in die Gestaltung
treibt, sie jagt ihn über die Vollendung hinaus.
Auch hier wird er über die Vollendung gehetzt dem ewig
Endlosen zu; mit ihren abgebrochenen Türmen, den
nicht zu Ende gebauten (denn die Karamasoff ebenso
wie der Raskolnikoff versprechen beide einen zweiten,
nie geschriebenen Teil), ragen seine Romanbauten in den
Himmel der Religion, in das Gewölk der ewigen Fragen.
Nennen wir sie nicht Roman mehr und werten wir sie
nicht mit epischem Maß: sie sind längst nicht mehr Literatur,
sondern irgendwie geheime Anfänge, prophetische
Vorklänge, Präludien und Prophetien eines Mythus vom
neuen Menschen. So sehr er die Kunst liebt, Dostojewski,
sie ist ihm nicht das Letzte, und wie alle seine erlauchten
russischen Ahnen empfindet er sie nur als Brücke des Bekenntnisses
vom Menschen zu Gott. Erinnern wir uns
nur: Gogol wirft nach den „Toten Seelen“ die Literatur
fort und wird Mystiker, geheimnisvoller Bote des neuen
Rußlands, Tolstoi verflucht, ein Sechzigjähriger, die Kunst,
die eigene und die fremde, und wird Evangelist der Güte
und Gerechtigkeit, Gorki verzichtet auf den Ruhm
und wird Verkünder der Revolution. Dostojewski hat bis
zur letzten Stunde die Feder nicht gelassen, aber was er
gestaltet, ist längst nicht mehr ein Kunstwerk im irdischen
engen Sinne, sondern das Evangelium des Dritten Reiches,
irgendein Mythus der neuen russischen Welt, eine apokalyptische
Verkündung, dunkel und rätselhaft. Kunst
war dem ewig Ungenügsamen nur ein Anfang, und sein
Ende war im Endlosen. Sie war ihm nur eine Stufe und
nicht der Tempel selbst. In der Vollkommenheit seiner
Werke ist noch ein Größeres, das sich in Worte nicht
mehr gestaltet, und eben weil dies Letzte in ihnen nur geahnt
und nicht in vergängliche Form gegossen ist, sind sie
Wege zur Vollendung des Menschen und der Menschheit.
DER ÜBERSCHREITER DER GRENZEN
„Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.“
Goethe
Tradition ist steinerne Grenze von Vergangenheiten
um die Gegenwart: wer ins Zukünftige will, muß sie
überschreiten. Denn die Natur will kein Innehalten im
Erkennen. Zwar scheint sie Ordnung zu fordern und liebt
doch nur den, der sie zerstört um einer neuen Ordnung
willen. Immer schafft sie sich in einzelnen Menschen durch
Übermaß ihrer eigenen Kräfte jene Konquistadoren, die
von den heimischen Ländern der Seele in die dunklen
Ozeane des Unbekannten hinausfahren zu neuen Zonen
des Herzens, neuen Sphären des Geistes. Ohne diese kühnen
Überschreiter wäre die Menschheit in sich gefangen, ihre
Entwicklung ein Kreisgang. Ohne diese großen Boten,
in denen sie sich gleichsam selbst vorauseilt, wäre jede
Generation unkund ihres Weges. Ohne diese großen
Träumer wüßte die Menschheit nicht um ihren tiefsten
Sinn. Nicht die ruhigen Erkenner, die Geographen der
Heimat, haben die Welt weit gemacht, sondern die Desperados, die über unbekannte Ozeane zum neuen Indien
fuhren: nicht die Psychologen, die Wissenschaftler, haben
die moderne Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen
unter den Dichtern, die Überschreiter der Grenzen.
Von diesen großen Grenzüberschreitern der Literatur
ist Dostojewski in unseren Tagen der größte gewesen, und
keiner hat so viel Neuland der Seele entdeckt als dieser
Ungestüme, dieser Maßlose, dem nach seinem eignen Wort
„das Unermeßliche und Unendliche so notwendig war
wie die Erde selbst“. Nirgends hat er innegehalten, „überall
habe ich die Grenze überschritten,“ schreibt er stolz
und selbstanklagend in einem Briefe, „überall“. Und unmöglich
ist es fast, alle seine Taten aufzuzählen, die Wanderungen
über die eisigen Grate des Gedankens, die Niederstiege
zu den verborgensten Quellen des Unbewußten, die
Aufstiege, die gleichsam traumwandlerischen Aufstiege
zu den schwindelnden Gipfeln des Selbsterkennens. Wo
kein gewöhnlicher Weg war, er hat ihn beschritten, wo
Labyrinth und Wirrnis war, am liebsten gelebt. Nie hat
die Menschheit zuvor so tief den Mechanismus und die
Mystik ihres seelischen Wesens erkannt, sie ist wacher
und bewußter geworden in seinem Blick und gleichzeitig
geheimnisvoller und göttlicher in seinem Gefühl. Ohne
ihn, den großen Überschreiter alles Maßes, wüßte die
Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter
als je blicken wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige
hinein.
Die erste Grenze, die Dostojewski durchstieß, die erste
Ferne, die er uns auftat, war Rußland. Er hat seine Nation
für die Welt entdeckt, unser europäisches Bewußtsein erweitert,
als erster die Seele des Russen uns als Fragment
und als ein Kostbarstes der Weltseele erkennen lassen.
Vor ihm bedeutete Rußland für Europa eine Grenze: den
Übergang gegen Asien, einen Fleck Landkarte, ein Stück
Vergangenheit unserer eigenen barbarischen, überwundenen
Kulturkindheit. Er aber zeigte als erster uns die
zukünftige Kraft in dieser Öde, seit ihm fühlen wir Rußland
als eine Möglichkeit neuer Religiosität, als ein kommendes
Wort im großen Gedichte der Menschheit. Er hat
das Herz der Welt so reicher gemacht um eine Erkenntnis
und um eine Erwartung. Puschkin (der uns ja schlecht
zugänglich ist, weil sein poetisches Medium in jeder Übertragung
die elektrische Kraft verliert) hat uns nur die
russische Aristokratie gezeigt, Tolstoi wiederum den einfachen,
patriarchalischen bäurischen Menschen, die Wesen
der alten, abgeteilten, abgelebten Welt. Erst er entzündet
uns die Seele mit der Verkündung neuer Möglichkeiten,
erst er entflammt den Genius dieser neuen Nation und
läßt uns fast sehnsüchtig werden, daß dieser glühende
Tropfen Weltkindheit und Seelenanfang seines Russenvolkes
in die müde, stagnierende Welt des alten Europa
einglühe. Und gerade in diesem Kriege haben wir gefühlt,
daß wir alles, was wir von Rußland wußten, nur durch
ihn wußten und daß er es uns möglich gemacht, dieses
Feindesland auch als Bruderland der Seele zu empfinden.
Aber tiefer noch und bedeutsamer als diese kulturelle
Erweiterung des Weltwissens um die Idee Rußlands (denn
diese hätte vielleicht schon Puschkin erreicht, wäre ihm
nicht im 37. Jahre die Duellkugel durch die Brust gefahren)
ist jene ungeheure Erweiterung unseres seelischen Selbstwissens,
die ohne Beispiel ist in der Literatur. Dostojewski
ist der Psychologe der Psychologen. Die Tiefe des menschlichen
Herzens zieht ihn magisch an, das Unbewußte, das
Unterbewußte, das Unergründliche ist seine wahre Welt.
Seit Shakespeare haben wir nicht soviel vom Geheimnis des
Gefühls und den magischen Gesetzen seiner Verschränkung
gelernt, und wie Odysseus, der einzige, der vom Hades
wiederkehrte, von der unterirdischen Welt, erzählt er von
der Unterwelt der Seele. Denn auch er, wie Odysseus,
war begleitet von einem Gotte, von einem Dämon. Seine
Krankheit, ihn aufreißend zu Höhen des Gefühls, die der
gemeine Sterbliche nicht erreicht, ihn niederschmetternd
in Zustände der Angst und des Grauens, die schon jenseits
des Lebens liegen, ließen ihn erst atmen in dieser bald
frostigen, bald feurigen Atmosphäre des Unbelebten und
Überlebendigen. Wie die Nachttiere in der Finsternis
sehen, sieht er in den Dämmerzuständen klarer wie andere
am lichten Tag. In den feurigen Elementen, wo andere
verbrennen, wird ihm erst wahre, wohlige Wärme des
Gefühls; er ist weit über die gesunde Seele hinaus gewachsen
und hat in der kranken gehaust und damit im
tiefsten Geheimnis des Lebens. Atemnah hat er dem Wahnsinn
ins Gesicht geleuchtet, wie ein Mondsüchtiger ist er
sicher über die Spitzen des Gefühls geschritten, von denen
die Wachenden und Wissenden in Ohnmacht abstürzen.
Dostojewski ist tiefer in die Unterwelt des Unbewußten gedrungen als die Ärzte, die Juristen, die Kriminalisten und Psychopathen. Alles was die Wissenschaft erst später entdeckte und benannte, was sie in Experimenten gleichsam wie mit einem Skalpell von toter Erfahrung losschabte, alle die telepathischen, hysterischen, halluzinativen, perversen Phänomene, hat er voraus geschildert aus jener mystischen Fähigkeit des hellseherischen Mitwissens und Mitleidens. Bis an den Rand des Wahnsinns (den Exzeß des Geistes), bis an die Klippe des Verbrechens (den Exzeß des Gefühls) hat er den Phänomenen der Seele nachgespürt und unendliche Strecken seelischen Neulandes damit durchschritten. Eine alte Wissenschaft schlägt mit ihm das letzte Blatt zu in ihrem Buch, Dostojewski beginnt in der Kunst eine neue Psychologie.
Dostojewski ist tiefer in die Unterwelt des Unbewußten gedrungen als die Ärzte, die Juristen, die Kriminalisten und Psychopathen. Alles was die Wissenschaft erst später entdeckte und benannte, was sie in Experimenten gleichsam wie mit einem Skalpell von toter Erfahrung losschabte, alle die telepathischen, hysterischen, halluzinativen, perversen Phänomene, hat er voraus geschildert aus jener mystischen Fähigkeit des hellseherischen Mitwissens und Mitleidens. Bis an den Rand des Wahnsinns (den Exzeß des Geistes), bis an die Klippe des Verbrechens (den Exzeß des Gefühls) hat er den Phänomenen der Seele nachgespürt und unendliche Strecken seelischen Neulandes damit durchschritten. Eine alte Wissenschaft schlägt mit ihm das letzte Blatt zu in ihrem Buch, Dostojewski beginnt in der Kunst eine neue Psychologie.
Eine neue Psychologie: denn auch die Wissenschaft
der Seele hat ihre Methoden, auch die Kunst, die vorerst
durch die Zeiten eine unendliche Einheit scheint, ewig
neue Gesetze. Auch hier gibt es Wandlungen des Wissens,
Fortschritte des Erkennens durch immer neue Auflösung
und Determinierung, und so wie etwa die Chemie durch
Experimente die Anzahl der Urelemente, der anscheinend
unteilbaren, immer mehr verringert hat und im scheinbar
Einfachen noch die Zusammensetzungen erkennt, so löst
die Psychologie durch immer weiter schreitende Differenzierung
die Einheit des Gefühls in eine Unendlichkeit von
Trieb und Widertrieb auf. Trotz aller vorausschauenden
Genialität einiger einzelner Menschen ist eine Grenzlinie
zwischen der alten Psychologie und der neuen nicht zu
verkennen. Von Homer und weit bis nach Shakespeare
gibt es eigentlich nur die Psychologie der Einlinigkeit. Der
Mensch ist noch Formel, eine Eigenschaft in Fleisch und
Knochen: Odysseus ist listig, Achilles mutig, Ajax zornvoll,
Nestor weise ... jede Entschließung, jede Tat dieser
Menschen liegt klar und offen in der Schußfläche ihres
Willens. Und noch Shakespeare, der Dichter an der Wende
der alten und der neuen Kunst, zeichnet seine Menschen
so, daß immer eine Dominante die widerstreitende Melodik
ihres Wesens auffängt. Aber gerade er ist es auch, der
den ersten Menschen aus dem seelischen Mittelalter in
unsere neuzeitliche Welt voraussendet. In seinem Hamlet
erschafft er die erste problematische Natur, den Ahnherrn
des modernen differenzierten Menschen. Hier ist zum
ersten Male im Sinne der neuen Psychologie der Wille
durch Hemmungen gebrochen, der Spiegel der Selbstbetrachtung
in die Seele selbst gestellt, der um sich selbst
wissende Mensch gestaltet, der zwiefach lebt, außen und
innen zugleich, im Handeln denkend, im Denken sich
verwirklichend. Hier lebt der Mensch zum erstenmal
sein Leben, wie wir es fühlen, fühlt, wie wir Gegenwärtigen
fühlen, freilich noch aus einer Dämmerung des
Bewußtseins heraus: noch ist er, der Dänenprinz, umwoben
vom Requisit einer abergläubischen Welt, noch
wirken Zaubertränke und Geister auf seinen beunruhigten
Sinn, statt bloß Wahn und Ahnung. Aber doch, hier ist
er schon vollendet, das ungeheuere psychologische Geschehnis
der Verzweifachung des Gefühls. Der neue Kontinent
der Seele ist entdeckt, die zukünftigen Forscher haben
freie Bahn. Der romantische Mensch Byrons, Goethes,
Shelleys, Child Harold und Werther, den leidenschaftlichen
Widerspruch seines Wesens zur nüchternen Welt im
ewigen Gegensatz empfindend, fördert durch seine Unruhe
die chemische Zersetzung der Gefühle. Die exakte
Wissenschaft gibt inzwischen noch manche wertvolle
Einzelerkenntnis. Dann kommt Stendhal. Er weiß schon
mehr als alle früheren von der kristallinischen Bildung
der Gefühle, der Vieldeutigkeit und Verwandlungsfähigkeit
der Empfindungen. Er ahnt den geheimnisvollen
Widerstreit der Brust um jeden einzelnen ihrer Entschlüsse.
Aber die seelische Trägheit seines Genies, die spaziergängerische
Lässigkeit seines Charakters vermögen noch
nicht die ganze Dynamik des Unbewußten zu erhellen.
Erst Dostojewski, der große Zerstörer der Einheit, der
ewige Dualist, dringt ein in das Geheimnis. Er oder keiner
schafft die vollkommene Analyse des Gefühls. Bei Dostojewski
ist die Einheit des Gefühls in eine Masse zerrissen,
als wäre seinen Menschen eine andere Seele eingebaut
wie all den früheren. Die kühnsten Seelenanalysen aller
Dichter vor ihm scheinen irgendwie oberflächenhaft neben
seinen Differenzierungen, sie wirken, wie etwa ein Lehrbuch
der Elektrotechnik wirken mag, das 30 Jahre alt ist,
in dem eben nur die Anfangsgründe angedeutet und das
Wesentliche noch nicht einmal geahnt ist. Nichts ist in
seiner Seelensphäre einfaches Gefühl, unteilbares Element
– alles Konglomerat, Zwischengangsform, Durchgangsform,
Übergangsform. In unendlicher Verkehrung und Verwirrung
taumelt und schwankt die Empfindung zur Tat, ein
rasender Tausch von Wille und Wahrheit schüttelt die Gefühle
durcheinander. Immer meint man, schon am letzten
Grunde eines Entschlusses, eines Begehrens angelangt zu
sein, und immer wieder deutet es wieder weiter zurück in
ein anderes. Haß, Liebe, Wollust, Schwäche, Eitelkeit,
Stolz, Herrschgier, Demut, Ehrfurcht, alle Triebe sind
ineinander verschlungen in ewigen Verwandlungen. Die
Seele ist eine Wirrnis, ein heiliges Chaos in Dostojewskis
Werk. Es gibt bei ihm Trunkenbolde aus Sehnsucht nach
Reinheit, Verbrecher aus Gier nach der Reue, Mädchenschänder
aus Verehrung der Unschuld, Gotteslästerer aus
religiösem Bedürfnis. Wenn seine Menschen begehren,
tun sie es ebenso aus Hoffnung auf Zurückgestoßensein
wie auf Erfüllung. Ihr Trotz, faltet man ihn ganz auf,
ist nichts anderes als eine verborgene Scham, ihre Liebe
ein verkümmerter Haß, ihr Haß eine verborgene Liebe.
Gegensatz befruchtet den Gegensatz. Es gibt bei ihm Lüstlinge
aus Gier nach dem Leiden und wieder Selbstquäler
aus Gier nach der Lust, in rasendem Kreislauf dreht
sich der Wirbel ihres Wollens. In der Begierde genießen
sie schon den Genuß, im Genuß schon den Ekel, in der
Tat genießen sie die Reue und in der Reue wieder, rückfühlend,
die Tat. Es gibt gleichsam ein Oben und Unten,
eine Vervielfachung der Empfindungen bei ihnen. Die
Taten ihrer Hände sind nicht die ihrer Herzen, die Sprache
ihrer Herzen wieder nicht die ihrer Lippen, jedes einzelne
Gefühl ist so Zerspaltenheit, Vielfalt und Vieldeutigkeit.
Nie wird es gelingen, bei Dostojewski eine Einheit des
Gefühls zu fassen, nie einen Menschen im Netz eines
Sprachbegriffes zu fangen. Man nenne Fedor Karamasoff
einen Wüstling: der Begriff scheint ihn zu erschöpfen,
aber doch, ist nicht Swidrigailoff auch einer und jener
namenlose Student in den „Werdenden“, und doch: welche
Welt zwischen ihnen und ihren Gefühlen! Bei Swidrigailoff
ist die Wollust eine kalte, seelenlose Ausschweifung,
er ist der berechnende Taktiker seiner Unzucht. Karamasoffs
Wollust wieder ist Lebenslust, Ausschweifung
bis zur Selbstbeschmutzung betrieben, ein tiefer Trieb,
sich in das Niederste des Lebens noch einzumengen, nur
weil es Leben ist, sein Unterstes, seinen Absud noch zu
genießen aus einer Ekstase der Vitalität. Jener ist Wollüstling
aus Mangel, der andere aus Exzeß des Gefühls,
was bei diesem kranke Erregung des Geistes, ist bei jenem
eine chronische Entzündung. Swidrigailoff wieder ist der
Mittelmensch der Wollust, der „Lasterchen“ hat statt der
Laster, ein kleines schmutziges Tierchen, ein Insekt der
Sinne, und jener, der namenlose Student der „Werdenden“,
wiederum ist Perversion geistiger Bosheit ins Sexuelle. Man
sieht, Welten des Gefühls stehen zwischen diesen Menschen,
die sonst ein einziger Begriff zusammenfaßt, und so wie
hier die Wollust differenziert ist und aufgelöst in ihre geheimnisvollen
Verwurzlungen und Komponenten, so ist
bei Dostojewski jedes Gefühl, jeder Trieb immer zurückgeführt
in die letzte Tiefe, in den Ursprung aller Kraftströmung,
in jenen letzten Gegensatz zwischen Ich und
Welt, Behauptung und Hingabe, Stolz und Demut, Verschwendung
und Sparsamkeit, Vereinzelung und Gemeinschaft,
zentripetale und zentrifugale Kraft, Selbststeigerung
oder Selbstvernichtung, Ich oder Gott. Man mag die Gegensatzpaare
nennen, wie es der Augenblick fordert, immer
sind es letzte, sind es Urgefühle jener Welt zwischen Geist
und Fleisch. Nie haben wir vor ihm von dieser wimmelnden
Vielfalt des Gefühls, von unserer seelischen Gemengtheit
so viel gewußt.
Am überraschendsten aber wird diese Auflösung des
Gefühls bei Dostojewski in der Liebe. Es ist die Tat seiner
Taten, daß er den Roman, ja die ganze Literatur, die seit
Hunderten von Jahren, seit der Antike, immer nur in diesem
Zentralgefühl zwischen Mann und Weib, als in den Urquell
alles Seins gemündet hatte, noch tiefer hinab, noch
höher hinauf, in letzte Erkenntnisse geführt hat. Liebe,
anderen Dichtern der Endzweck des Lebens, das Erzählungsziel
des Kunstwerkes, ihm ist sie nicht Urelement,
sondern nur Stufe des Lebens. Für die anderen dröhnt die
glorreiche Sekunde der Versöhnung, der Ausgleich aller
Widerstreite im Augenblicke, wo Seele und Sinne, Geschlecht
und Geschlecht sich restlos in himmlische Gefühle
lösen. Im letzten Grunde ist bei ihnen, den anderen
Dichtern, der Lebenskonflikt lächerlich primitiv im Vergleich
zu Dostojewski. Liebe rührt den Menschen an,
ein Zauberstab aus göttlicher Wolke, Geheimnis, die große
Magie, unerklärbar, unerläuterbar, letztes Mysterium des
Lebens. Und der Liebende liebt: er ist glücklich, erlangt
er die Begehrte, er ist unglücklich, erlangt er sie nicht.
Wiedergeliebt sein ist der Himmel der Menschheit bei
allen Dichtern. Aber Dostojewskis Himmel sind höher.
Umarmung ist bei ihm noch nicht Vereinigung, Harmonie
noch nicht die Einheit. Für ihn ist Liebe nicht ein Glückszustand,
ein Ausgleich, sondern erhobener Streit, intensiveres
Schmerzen der ewigen Wunde und darum ein
Leidensmoment, ein stärkeres Am-Leben-leiden als in den
gemeinen Augenblicken. Wenn Dostojewskis Menschen
einander lieben, so ruhen sie nicht. Im Gegenteil, nie sind
seine Menschen mehr durchschüttelt von allem Widerstreit
ihres Wesens als im Augenblick, da Liebe sich von
Liebe erwidert fühlt, denn sie lassen sich nicht versinken
in ihrem Überschwang, sondern suchen ihn zu übersteigern.
Sie machen, echte Kinder seiner Entzweiung, nicht halt
in dieser letzten Sekunde. Sie verachten die sanfte Gleichung
des Augenblicks (den alle anderen als den schönsten ersehnen),
daß Geliebter und Geliebte sich gleich stark lieben
und geliebt werden, weil dies Harmonie wäre, ein Ende, eine
Grenze, und sie leben nur für das Grenzenlose. Dostojewskis
Menschen wollen nicht ebenso lieben wie sie geliebt
werden: sie wollen immer nur lieben und wollen das
Opfer sein, derjenige, der mehr gibt, derjenige, der weniger
empfängt, und sie steigern einander in wahnsinnigen Lizitationen
des Gefühls, bis es gleichsam ein Keuchen, ein
Stöhnen, ein Kampf, eine Qual wird, was als sanftes Spiel
begann. In rasender Verwandlung sind sie dann glücklich,
wenn sie zurückgestoßen, wenn sie verhöhnt, wenn
sie verachtet werden, denn dann sind sie es ja, die geben,
unendlich geben und nichts dafür verlangen, und darum
ist bei ihm, dem Meister der Gegensätze, der Haß immer
so ähnlich der Liebe und die Liebe immer so ähnlich dem
Haß. Aber auch in den kurzen Intervallen, da sie einander
gleichsam konzentriert lieben, ist die Einheit des Gefühls
noch einmal gesprengt, denn nie können Dostojewskis
Menschen gleichzeitig mit den geschlossenen Kräften ihrer
Sinne und Seele einander lieben. Sie lieben mit der einen
oder mit der anderen, nie ist Fleisch und Geist bei ihnen in
Harmonie. Man sehe nur auf seine Frauen: alle sind sie
Kundrys, gleichzeitig in zwei Welten des Gefühles lebend,
mit ihrer Seele dem heiligen Gral dienend und gleichzeitig
wollüstig ihren Leib verbrennend in den Blumenhainen
Titurels. Das Phänomen der Doppelliebe, eines der kompliziertesten
bei anderen Dichtern, ist ein alltägliches, ein
selbstverständliches bei Dostojewski. Nastassja Philipowna
liebt in ihrem spirituellen Wesen Myschkin, den
sanften Engel, und liebt gleichzeitig mit geschlechtlicher
Leidenschaft Rogoschin, seinen Feind. Vor der Kirchentür
reißt sie sich von dem Fürsten los in das Bett des anderen,
vom Gelage des Trunkenen stürzt sie zurück zu
ihrem Heiland. Ihr Geist steht gleichsam oben und sieht
erschreckt zu, was unten ihr Körper treibt, ihr Körper
schläft gleichsam im hypnotischen Schlaf, während ihre
Seele sich in Ekstase dem anderen zuwendet. Und ebenso
Gruschenka, sie liebt gleichzeitig und haßt ihren ersten
Verführer, liebt in Leidenschaft ihren Dimitri und mit
ihrer Verehrung schon ganz unkörperlich Aljoscha. Die
Mutter des „Jünglings“ liebt aus Dankbarkeit ihren ersten
Mann und gleichzeitig aus Sklaverei, aus übersteigerter
Demut Wersiloff. Unendlich, unermeßlich sind die Verwandlungen
des Begriffes, den die anderen Psychologen
unter dem Namen „Liebe“ leichtfertig zusammenfaßten,
so wie Ärzte vergangener Zeiten ganze Gruppen von
Krankheiten in einen Namen drängten, für die wir heute
hundert Namen und hundert Methoden haben. Liebe
kann bei Dostojewski verwandelter Haß sein (Alexandra),
Mitleid (Dunia), Trotz (Rogoschin), Sinnlichkeit (Fedor
Karamasoff), Selbstvergewaltigung, immer aber steht hinter
der Liebe noch ein anderes Gefühl, ein Urgefühl. Nie ist
Liebe bei ihm elementar, unteilbar, unerklärbar, Urphänomen,
Wunder: immer erklärt, zerlegt er das leidenschaftlichste
Gefühl. O, unendlich, unendlich diese Verwandlungen,
und jede einzelne wieder in allen Farben schillernd,
von Kälte zu Frost erstarrend und wieder erglühend, unendlich
und undurchdringlich wie die Vielfalt des Lebens.
Ich will nur erinnern an Katerina Iwanowna. Sie sieht
Dimitri auf einem Ball, er läßt sich ihr vorstellen, er beleidigt
sie, und sie haßt ihn. Er nimmt Rache, er erniedrigt
sie, – und sie liebt ihn, oder eigentlich sie liebt nicht ihn,
sondern die Erniedrigung, die er ihr zugefügt. Sie opfert
sich ihm auf und meint ihn zu lieben, aber sie liebt nur
ihre eigene Aufopferung, liebt ihre eigene Pose der Liebe,
und je mehr sie ihn so zu lieben scheint, um so mehr haßt
sie ihn wieder. Und dieser Haß fährt los auf sein Leben
und zerstört es, und in dem Augenblick, wo sie es zerstört
hat, wo gleichsam ihre Aufopferung sich als Lüge offenbart,
ihre Erniedrigung gerächt ist, – liebt sie ihn wieder!
So kompliziert ist bei Dostojewski ein Liebesverhältnis.
Wie es vergleichen mit den Büchern, die schon bei der
letzten Seite sind, wenn die beiden einander lieben und
durch alle Fährnisse des Lebens sich gefunden haben? Wo
die anderen enden, beginnen erst die Tragödien Dostojewskis,
denn er will nicht Liebe, nicht laue Aussöhnung
der Geschlechter als Sinn und Triumph der Welt. Er
knüpft wieder an die große Tradition der Antike an, wo
nicht ein Weib zu erringen, sondern die Welt und alle
Götter zu bestehen, Sinn und Größe eines Schicksals war.
Bei ihm hebt sich der Mensch wieder auf, nicht mit dem
Blick zu den Frauen, sondern mit der offenen Stirne zu
seinem Gott. Seine Tragödie ist größer als die von Geschlecht
zu Geschlecht und vom Mann zum Weib.
Hat man nun Dostojewski in dieser Tiefe der Erkenntnis,
in dieser restlosen Auflösung der Empfindung erkannt,
so weiß man: es gibt von ihm keinen Weg wieder zurück
ins Vergangene. Will eine Kunst wahrhaft sein, so darf
sie von nun an nicht die kleinen Heiligenbilder des Gefühls
aufstellen, die er zerschlagen, nie mehr den Roman
in die kleinen Kreise der Gesellschaft und Gefühle sperren,
nie mehr das geheimnisvolle Zwischenreich der Seele verschatten
wollen, das er durchleuchtet. Als erster hat er
uns die Ahnung des Menschen gegeben, die Wir als erste
selbst sind, im Gegensatz zu der Vergangenheit, differenzierter
im Gefühl, weil beladener mit mehr Erkenntnis
als alle früheren. Niemand kann ermessen, um wie viel
wir in den fünfzig Jahren seit seinen Büchern den Dostojewskischen
Menschen schon ähnlicher geworden sind, wie
viele Prophezeiungen sich schon in unserem Blute, in
unserem Geiste von seiner Ahnung erfüllen. Das Neuland,
das er als erster beschritten, ist vielleicht schon unser
Land, die Grenzen, die er überwunden, unsere sichere
Heimat.
Unendliches aus unserer letzten Wahrheit, die wir jetzt
erleben, hat er uns prophetisch aufgetan. Er hat der Tiefe
des Menschen ein neues Maß gegeben: nie hat ein Sterblicher
vor ihm so viel vom unsterblichen Geheimnis der
Seele gewußt. Aber wunderbar: so sehr er unser Wissen
um uns selbst erweitert, so viel wir an ihm gelernt, nie
verlernen wir an seiner Erkenntnis das hohe Gefühl, demütig
zu sein und das Leben als etwas Dämonisches zu
empfinden. Daß wir bewußter wurden durch ihn, hat uns
nicht freier gemacht, sondern nur gebundener. Denn so
wenig die modernen Menschen den Blitz, seit sie ihn als
elektrisches Phänomen, als Spannung und Entladung der
Atmosphäre erkennen und benennen, als minder gewaltig
empfinden wie die vorherigen Geschlechter, so wenig kann
unsere erhöhte Erkenntnis des seelischen Mechanismus im
Menschen die Ehrfurcht vor der Menschheit vermindern.
Gerade Dostojewski, der alle Einzelheiten der Seele uns
wissend zeigte, dieser große Zerleger, dieser Anatom des
Gefühles, gibt gleichzeitig tieferes, universaleres Weltgefühl
als alle Dichter unserer Zeit. Und der so tief den
Menschen gekannt wie keiner vor ihm, hat wie keiner
Ehrfürchtigkeit vor dem Unbegreiflichen, das ihn gestaltet:
vor dem Göttlichen, vor Gott.
DIE GOTTESQUAL
„Gott hat mich mein ganzes Leben lang gequält.“
Dostojewski
„Gibt es einen Gott oder nicht?“ fährt Iwan Karamasoff
in jenem furchtbaren Zwiegespräch seinen Doppelgänger,
den Teufel, an. Der Versucher lächelt. Er hat keine Eile
zu antworten, die schwerste Frage einem gemarterten
Menschen abzunehmen. „Mit grimmiger Hartnäckigkeit“
dringt Iwan nun in seiner Gottesraserei auf den Satan ein:
er soll, er muß ihm Antwort stehen in dieser wichtigsten
Frage der Existenz. Aber der Teufel schürt nur den Rost
der Ungeduld. „Ich weiß es nicht“, antwortet er dem
Verzweifelten. Nur um den Menschen zu quälen, läßt er
ihm die Frage nach Gott unbeantwortet, läßt er ihm die
Gottesqual.
Alle Menschen Dostojewskis und nicht als Letzter er
selbst haben diesen Satan in sich, der die Gottesfrage stellt
und nicht beantwortet. Allen ist jenes „höhere Herz“ gegeben,
das fähig ist, sich mit diesen qualvollen Fragen zu
quälen. „Glauben Sie an Gott“, herrscht Stawrogin, ein
anderer, Mensch gewordener Teufel, plötzlich den demütigen
Schatow an. Wie einen Brandstahl stößt er ihm die
Frage mörderisch ins Herz. Schatow taumelt zurück. Er
zittert, er wird bleich, denn gerade die Aufrichtigsten bei
Dostojewski zittern vor diesem letzten Bekenntnis (und
er, wie hat er selbst davor gebebt in heiligen Ängsten).
Und erst wie ihn Stawrogin mehr und mehr bedrängt,
stammelt er aus blassen Lippen die Ausflucht: „Ich glaube
an Rußland.“ Und nur um Rußlands willen bekennt er
sich zu Gott.
Dieser verborgene Gott ist das Problem aller Werke
Dostojewskis, der Gott in uns, der Gott außer uns und seine
Erweckung. Als echtem Russen, dem größten und wesenhaftesten,
den dies Millionenvolk gebildet, ist ihm nach
seiner eigenen Definition diese Frage um Gott und die
Unsterblichkeit die „wichtigste des Lebens“. Keiner seiner
Menschen kann der Frage entweichen: sie ist ihm angewachsen
als Schatten seiner Tat, bald ihnen vorauslaufend,
bald ihnen als Reue im Rücken. Sie können ihr nicht entfliehen,
und der einzige, der versucht, sie zu verneinen, dieser
ungeheuere Märtyrer des Gedankens, Kirillow, in den
„Dämonen“, muß sich selbst töten, um Gott zu töten –
und beweist damit, leidenschaftlicher als die anderen, seine
Existenz und Unentrinnbarkeit. Man blicke doch auf seine
Gespräche, wie die Menschen vermeiden wollen, von Ihm
zu sprechen, wie sie Ihm ausweichen und ausbiegen: sie
möchten immer gern unten bleiben im niedern Gespräch,
im „small talk“ des englischen Romans, sie reden von der
Leibeigenschaft, von Frauen, von der Sixtinischen Madonna,
von Europa, aber die unendliche Schwerkraft der
Gottesfrage hängt sich an jedes Thema und zieht es
schließlich magisch in seine Unergründlichkeit. Jede Diskussion
bei Dostojewski endet beim russischen Gedanken
oder beim Gottesgedanken – und wir sehen, daß diese
beiden Ideen für ihn eine Identität sind. Russische Menschen,
seine Menschen, können so wie in ihren Gefühlen
auch in ihren Gedanken nicht haltmachen, sie müssen
unvermeidlich vom Praktischen und Tatsächlichen in das
Abstrakte, vom Endlichen ins Unendliche, immer ans
Ende. Und aller Fragen Ende ist die Gottesfrage. Sie ist
der innere Wirbel, der ihre Ideen rettungslos in sich reißt,
der schwärende Splitter in ihrem Fleische, der ihre Seelen
mit Fieber erfüllt.
Mit Fieber. Denn Gott – Dostojewskis Gott – ist das
Prinzip aller Unruhe, weil er, Urvater der Kontraste, zugleich
das Ja und das Nein ist. Nicht wie auf den Bildern
der alten Meister, in den Schriften der Mystiker ist er die
sanfte Schwebe über den Wolken, selig-beschauliches Erhobensein
– Dostojewskis Gott ist der springende Funke
zwischen den elektrischen Polen der Urkontraste, er ist
kein Wesen, sondern ein Zustand, ein Spannungszustand,
ein Verbrennungsprozeß des Gefühls, er ist Feuer, ist die
Flamme, die alle Menschen erhitzt und überkochen macht
in Ekstase. Er ist die Geißel, die sie aus sich, aus ihrem warmen
ruhigen Leib, in die Unendlichkeit treibt, der sie verlockt
in alle Exzesse des Wortes und der Tat, sie hinstürzt
in den brennenden Dornbusch ihrer Laster. Er ist, wie
seine Menschen, wie der Mensch, der ihn schuf, ein
ungenügsamer Gott, den keine Anstrengung bewältigt,
kein Gedanke erschöpft, keine Hingabe befriedigt. Er ist der
ewig Unerreichbare, ist aller Qualen Qual, und mitten aus
Dostojewskis Brust bricht darum Kirillows Schrei: „Gott
hat mich mein ganzes Leben lang gequält.“
Das ist Dostojewskis Geheimnis: er braucht Gott und
findet ihn doch nicht. Manchmal meint er ihm schon zu gehören,
und schon umfaßt ihn seine Ekstase, da klirrt sein
Verneinungsbedürfnis ihn wieder zur Erde. Keiner hat das
Gottesbedürfnis stärker erkannt. „Gott ist mir deshalb
notwendig,“ sagt er einmal, „weil er das einzige Wesen
ist, das man immer lieben kann“, und ein anderes Mal: „Es
gibt keine unaufhörlichere und quälendere Angst für den
Menschen, als etwas zu finden, vor dem er sich beugen
kann.“ Sechzig Jahre leidet er an dieser Gottesqual und
liebt Gott wie jedes seiner Leiden, liebt ihn mehr als alles,
weil er das ewigste aller Leiden ist und Leidensliebe den
tiefsten Gedanken seines Sein bedeutet. Sechzig Jahre
kämpft er sich zu ihm und lechzt „wie trockenes Gras“
nach dem Glauben. Das ewig Zersprengte will eine Einheit,
der ewig Gejagte eine Rast, der ewig Getriebene
durch alle Stromschnellen der Leidenschaft, der sich Zerströmende
den Ausgang, die Ruhe, das Meer. So träumt
er ihn als Beruhigung und findet ihn doch nur als Feuer.
Er möchte selbst ganz klein werden, ganz wie die Dumpfen
im Geiste, um in ihn eingehen zu können, möchte
glauben können im Köhlerglauben, wie die „zehn Pud
dicke Kaufmannsfrau“, möchte es aufgeben, der Wissendste,
der Bewußte zu sein, um der Gläubige zu werden, wie
Verlaine fleht er: „Donnez-moi de la simplicité.“ Das Gehirn
verbrennen im Gefühl, hinströmen in die Gottesruhe,
tierhaft dumpf, das ist sein Traum. O, wie streckt er sich
ihm entgegen, er tobt brünstig, er schreit, er wirft die
Harpunen der Logik aus, ihn zu fassen, legt ihm die verwegensten
Fuchsfallen der Beweise; wie ein Pfeil schießt
seine Leidenschaft auf, ihn zu treffen, ein Lechzen nach
Gott ist seine Liebe, eine „fast unanständige Leidenschaft“,
ein Paroxysmus, ein Überschwang.
Ist er aber darum schon gläubig, weil er so fanatisch
glauben will? War Dostojewski, der beredteste Anwalt der
Rechtgläubigkeit, der Pravoslavie selbst ein Bekenner, ein
poeta christianissimus? Sicherlich in Sekunden: da zuckt
sein Spasma ins Unendliche hinein, da krampft er sich ein
in Gott, da hält er die Harmonie, die irdisch versagte, in
Händen, da ist er, der Gekreuzigte seines Zwiespaltes, auferstanden
in den alleinigen Himmeln. Aber doch: irgend
etwas bleibt auch dann noch wach in ihm und schmilzt
nicht hin im Seelenbrand. Während er schon ganz aufgelöst
scheint, ganz überirdische Trunkenheit, bleibt jener grausame
Geist der Analyse mißtrauisch auf der Lauer und
mißt das Meer aus, in das er versinken will. Der unerbittliche
Doppelgänger wehrt sich gegen die Aufgabe der Persönlichkeit.
Auch im Gottesproblem klafft der unheilbare
Zwiespalt, der in jedem von uns eingeboren ist, aber den
kein Irdischer bisher zu solcher Spannweite des Abgrunds
aufgerissen wie Dostojewski. Er ist der Gläubigste aller und
der äußerste Atheist in einer Seele, er hat in seinen Menschen
die polarsten Möglichkeiten beider Formen gleich
überzeugend dargestellt (ohne sich selbst zu überzeugen,
ohne sich selbst zu entscheiden), die Demut, sich hinzugeben,
sich, ein Staubkorn, aufzulösen in Gott, und andererseits
das grandioseste Extrem, selber Gott zu werden: „Erkennen,
daß ein Gott ist, und gleichzeitig erkennen, daß
man nicht zum Gott geworden ist, wäre ein Unsinn, durch
den man zum Selbstmord getrieben wird.“ Und sein Herz
ist bei beiden, beim Gottesknecht und beim Gottesleugner,
bei Aljoscha und bei Iwan Karamasoff. Er entscheidet sich
nicht in dem unablässigen Konzil seiner Werke, bleibt bei
den Bekennern und den Häretikern. Seine Gläubigkeit ist
feuriger Wechselstrom zwischen dem Ja und Nein, den
beiden Polen der Welt. Auch vor Gott bleibt Dostojewski
der große Ausgestoßene der Einheit.
So bleibt er Sisyphus, der ewige Wälzer des Steins zur
Höhe der Erkenntnis, der er immer wieder entrollt. Der
ewig Bemühte zu Gott, den er nie erreicht. Aber irre ich
denn nicht: ist Dostojewski nicht den Menschen der große
Prediger des Glaubens? Geht nicht durch seine Werke der
große orgelnde Hymnus an Gott? Bezeugen nicht alle
seine politischen, seine literarischen Schriften einhellig
diktatorisch, unzweifelhaft seine Notwendigkeit, seine
Existenz, dekretieren sie denn nicht die Rechtgläubigkeit,
verwerfen sie nicht den Atheismus als das äußerste Verbrechen?
Aber man verwechsle hier nicht Wille mit Wahrheit,
nicht den Glauben mit dem Postulat des Glaubens.
Dostojewski, der Dichter der ewigen Umkehrung, dieser
fleischgewordene Kontrast, predigt den Glauben als Notwendigkeit,
predigt ihn um so inbrünstiger den anderen
als – er selbst nicht glaubt (im Sinne eines ständigen, sicheren,
ruhenden, vertrauenden Glaubens, der „geklärte Begeisterung“
als höchste Pflicht formuliert). Von Sibirien
schreibt er an eine Frau: „Ich will Ihnen von mir sagen,
daß ich ein Kind dieser Zeit bin, ein Kind des Unglaubens
und des Zweifels, und es ist wahrscheinlich, ja, ich weiß es
bestimmt, daß ich es bis an mein Lebensende bleiben werde.
Wie entsetzlich quälte mich und quält mich auch jetzt die
Sehnsucht nach dem Glauben, die um so stärker ist, je mehr
ich Gegenbeweise habe.“ Nie hat er es klarer gesagt: er hat
Sehnsucht nach dem Glauben aus Glaubenslosigkeit. Und
hier ist eine jener erhabenen Umwertungen Dostojewskis:
eben weil er nicht glaubt und die Qual dieses Unglaubens
kennt, weil, nach seinem eigenen Worte, er die Qual
immer nur für sich liebt und Mitleid hat mit den andern –
darum predigt er den andern den Glauben an einen Gott,
den er selbst nicht glaubt. Der Gottgequälte will eine gottselige
Menschheit, der schmerzlich Glaubenslose die glücklich
Gläubigen. An das Kreuz seines Unglaubens genagelt,
predigt er dem Volke die Orthodoxie, er vergewaltigt seine
Erkenntnis, weil er weiß, daß sie zerreißt und verbrennt,
und predigt die Lüge, die Glück gibt, den strikten, textlichen
Bauernglauben. Er, der „kein Senfkorn Glauben
hat“, der gegen Gott revoltierte und, wie er selbst stolz
sagte, „den Atheismus mit ähnlicher Kraft ausgedrückt
hat, wie niemand in Europa“, er verlangt die Unterwürfigkeit
unter das Popentum. Um die Menschen vor der Gottesqual
zu behüten, die er wie keiner im eigenen Fleische
erlebt, verkündet er die Gottesliebe. Denn er weiß: „Das
Schwanken, die Unruhe des Glaubens – das ist für einen
gewissenhaften Menschen eine solche Qual, daß es besser
ist, sich zu erhängen.“ Er selbst ist ihr nicht ausgewichen,
als Märtyrer hat er den Zweifel auf sich genommen. Aber
der Menschheit, der unendlich geliebten, will er ihn ersparen,
wie sein Großinquisitor will er der Menschheit
die Qual der Gewissensfreiheit sparen und sie einwiegen
in den toten Rhythmus der Autorität. So schafft er, statt
hochmütig die Wahrheit seines Wissens zu verkünden,
die demütige Lüge eines Glaubens. Er verschiebt das
religiöse Problem ins Nationale, dem er den Fanatismus
des göttlichen gibt. Und wie sein getreuester Knecht antwortet
er auf die Frage: „Glauben Sie an Gott?“ in der
aufrichtigsten Konfession seines Lebens: „Ich glaube an
Rußland.“
Denn das ist seine Flucht, seine Ausflucht, seine Rettung:
Rußland. Hier ist sein Wort nicht mehr Zwiespalt, hier
wird es Dogma. Gott hat ihm geschwiegen: so schafft er
sich als Mittler zwischen sich und dem Gewissen selbst
einen Christus, den neuen Verkünder einer neuen Menschheit,
den russischen Christus. Aus der Wirklichkeit, aus
der Zeit stürzt er sein ungeheueres Glaubensbedürfnis
einem Unbestimmten entgegen – denn nur einem Unbestimmten,
einem Grenzenlosen kann dieser Maßlose sich
ganz hingeben – in die ungeheuere Idee Rußland, in dieses
Wort, das er anfüllt mit allem Unmaß seiner Gläubigkeit.
Ein anderer Johannes, verkündigt er diesen neuen Christus,
ohne ihn geschaut zu haben. Aber er spricht in seinem
Namen, in Rußlands Namen für die Welt.
Diese seine messianischen Schriften – es sind die politischen
Aufsätze und manche Ausbrüche der Karamasoff – sind
dunkel. Verworren enttaucht ihnen dieses neue Christusantlitz,
der neue Erlösungs- und Allversöhnungsgedanke,
ein byzantinisches Antlitz mit harten Zügen, strengen
Falten. Wie von den alten rauchgeschwärzten Ikonen
starren fremde stechende Augen uns an, Inbrunst, unendliche
Inbrunst in sich, aber auch Haß und Härte. Und
furchtbar ist Dostojewski selbst, wenn er diese russische
Erlösungsbotschaft uns Europäern wie verlorenen Heiden
kündet. Ein böser, fanatischer, mittelalterlicher Mönch,
das byzantinische Kreuz wie eine Geißel in der Hand, so
steht der Politiker, der religiöse Fanatiker uns gegenüber.
Wie ein Delirant, ein Heimgesuchter in mystischen
Krämpfen, nicht in sanfter Predigt kündet er seine Lehre,
in dämonischen Zornausbrüchen entlädt sich seine maßlose
Leidenschaft. Mit Keulen schlägt er jeden Einwand
nieder, ein Fiebernder, gegürtet mit Hochmut, funkelnd
von Haß, stürmt er die Tribüne der Zeit. Schaum steht
vor seinem Munde, und mit zitternden Händen schleudert
er den Exorzismus über unsere Welt.
Ein Bilderstürmer, ein rasender Ikonoklast, fällt er her
über die Heiligtümer der europäischen Kultur. Alles
stampft er nieder, der große Tobsüchtige, von unseren
Idealen, um seinem neuen, dem russischen Christus, den
Weg zu bereiten. Bis zum Irrwitz schäumt seine moskowitische
Unduldsamkeit. Europa, was ist es? Ein Kirchhof,
mit teuern Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von
Fäulnis, nicht einmal Dünger mehr für die neue Saat. Die
blüht einzig aus russischer Erde. Die Franzosen – eitle
Laffen, die Deutschen – ein niedriges Wurstmachervolk,
die Engländer – Krämer der Vernünftelei, die Juden –
stinkender Hochmut. Der Katholizismus – eine Teufelslehre,
eine Verhöhnung Christi, der Protestantismus – ein
vernünftlerischer Staatsglaube, alles Hohnbilder des einzig
wahren Gottesglaubens: der russischen Kirche. Der Papst –
der Satan in der Tiara, unsere Städte – Babylon, die große
Hure der Apokalypse, unsere Wissenschaft – ein eitles
Blendwerk, Demokratie – die dünne Brühe weicher Gehirne,
Revolution – ein loses Bubenstück von Narren und
Genarrten, Pazifismus – ein Altweibergeschwätz. Alle
Ideen Europas ein verblühter, verwelkter Blumenstrauß,
gut genug, in die Jauche geschmissen zu werden. Nur die
russische Idee ist die einzig wahre, einzig große, einzig
richtige. Im Amoklauf stürmt der rasende Übertreiber
weiter, jeden Einwand mit dem Dolche niederstoßend:
„Wir verstehen euch, aber ihr versteht nicht uns“ – schon
bricht jede Diskussion blutend zusammen. „Wir Russen
sind die Allverstehenden, ihr seid die Begrenzten“, dekretiert
er. Rußland allein ist richtig und alles in Rußland,
der Zar und die Knute, der Pope und der Bauer, die Troika
und die Ikone, und um so richtiger, je mehr es antieuropäisch,
asiatisch, mongolisch, tatarisch, um so richtiger, als
es konservativ, rückständig, unfortschrittlich, ungeistig,
byzantinisch ist. O, wie tobt er sich hier aus, der große
Übertreiber! „Seien wir Asiaten, seien wir Sarmaten“,
jauchzt er auf. „Weg von Petersburg, dem europäischen,
zurück zu Moskau, hinüber nach Sibirien, das neue Rußland
ist das Dritte Reich.“ Diskussion darüber duldet dieser
gotttrunkene mittelalterliche Mönch nicht. Nieder die Vernunft!
Rußland ist das Dogma, das widerspruchslos zu
bekennen ist. „Man versteht Rußland nicht mit der Vernunft,
sondern mit dem Glauben.“ Wer ihm nicht in die
Knie stürzt, ist der Feind, der Antichrist: Kreuzzug wider
ihn! Hell schmettert er in die Fanfare des Krieges. Zerstampft
muß Österreich werden, der Halbmond von der
Hagia Sofia Konstantinopels gerissen, Deutschland gedemütigt,
England besiegt – ein wahnwitziger Imperialismus
hüllt seinen Hochmut in mönchische Kutte und ruft: ‚Dieu
le veut.‘ Um des Gottesreiches willen die ganze Welt für
Rußland.
Rußland also ist Christus, der neue Erlöser, und wir
sind die Heiden. Nichts errettet uns Verworfene aus dem
Fegefeuer unserer Schuld: wir haben die Erbsünde begangen,
keine Russen zu sein. Unserer Welt ist kein Raum
in diesem neuen Dritten Reich: erst muß unsere europäische
Welt untergehen im russischen Weltreiche, im neuen
Gottesreiche, dann erst kann sie erlöst werden. Wörtlich
sagt er: „Jeder Mensch muß vorerst Russe werden.“ Dann
erst beginnt die neue Welt. Rußland ist das Gottträgervolk:
erst muß es noch mit dem Schwerte die Erde erobern,
dann erst wird es sein „letztes Wort“ der Menschheit
sagen. Und dieses letzte Wort heißt für Dostojewski: Versöhnung.
Für ihn besteht das russische Genie in der Fähigkeit,
alles zu verstehen, alle Gegensätze zu lösen. Der Russe
ist der Allversteher und darum der Nachgiebige im höchsten
Sinn. Und sein Staat, der Zukunftsstaat, wird die Kirche
sein, die Form der brüderlichen Gemeinschaft, der Durchdringung
statt der Unterordnung. Und es klingt wie ein
Prolog zu den Ereignissen dieses Krieges (der in seinem
Anbeginn so genährt war von seinen Ideen, wie in
seinem Ende von jenen Tolstois), wenn er sagt: „Wir
werden die ersten sein, die der Welt verkünden, daß wir
nicht durch Unterdrückung der Persönlichkeit und fremder
Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen wollen,
sondern im Gegenteil letzteres nur in der freiesten und
selbständigsten Entwicklung aller Nationen und in der
brüderlichen Vereinigung suchen.“ Lenin und Trotzky
sind in dieser Verheißung, gleichzeitig aber auch der Krieg,
den er, der ewige Anwalt des Anspannens aller Gegensätze,
so leidenschaftlich gepriesen. Allversöhnung als Ziel, aber
Rußland als der einzige Weg – „von Osten her wird die
Erde erschaffen“. Über die Berge des Ural wird das ewige
Licht aufsteigen und das schlichte Volk, nicht der wissende
Geist, nicht die europäische Kultur, mit seinen dunklen
Geheimnissen der Erde verbundenen Kräften unsere Welt
erlösen. Statt der Macht wird die werktätige Liebe sein,
statt des Widerstreits der Persönlichkeiten das allmenschliche
Gefühl, der neue, der russische Christus wird die Allversöhnung
bringen, die Auflösung der Gegensätze. Und
der Tiger wird neben dem Lamme weiden und der Rehbock
neben dem Löwen – wie zittert Dostojewskis Stimme,
wenn er vom Dritten Reich spricht, vom Allrußland der
Erde, wie bebt er selbst in der Ekstase der Gläubigkeit,
wie wunderbar ist er, der Wissendste aller Wirklichkeiten,
in seinem messianischen Traum.
Denn in das Wort Rußland, in die Idee Rußland hinein
träumt Dostojewski diesen Christustraum, die Idee der Versöhnung
der Gegensätze, die er in seinem Leben, in der
Kunst und selbst in Gott durch sechzig Jahre vergeblich gesucht.
Aber dieses Rußland, welches ist es, das reale oder das
mystische, das politische oder das prophetische? Wie immer
bei Dostojewski: beides zugleich. Vergeblich, von einem
Leidenschaftlichen Logik zu verlangen und von einem
Dogma seine Begründung. In den messianischen Schriften
Dostojewskis, den politischen, den literarischen Werken,
taumeln die Begriffe wie rasend durcheinander. Bald ist
Rußland Christus, bald Gott, bald das Reich Peters des
Großen, bald das neue Rom, die Vereinigung des Geistes
und der Macht, Tiara und Kaiserkrone, seine Hauptstadt
bald Moskau, bald Konstantinopel, bald das neue Jerusalem.
Die demütigsten allmenschlichsten Ideale wechseln
brüsk mit machtgierigen slawophilen Eroberungsgelüsten,
politische Horoskope von verblüffender Treffsicherheit mit
phantastischen apokalyptischen Verheißungen. Bald jagt
er den Begriff Rußland in die Enge der politischen Stunde,
bald schnellt er ihn in das Grenzenlose empor – auch hier
wie im Kunstwerk die gleiche zischende Mischung von
Wasser und Feuer, von Realismus und Phantastik offenbarend.
Der Dämonische in ihm, der rasende Übertreiber,
in ein Maß gezwungen sonst in seinen Romanen, hier lebt
er sich aus in pythischen Krämpfen: mit der ganzen Inbrunst
seiner glühenden Leidenschaft predigt er Rußland
als das Heil der Welt, die alleinmachende Seligkeit. Nie
ward eine Nationalidee hochmütiger, genialer, werbender,
verführender, berauschender, ekstatischer Europa als Weltidee
verkündet, wie die russische in den Büchern Dostojewskis.
Ein unorganischer Auswuchs der großen Gestalt scheint
dieser Fanatiker seiner Rasse zuerst, dieser mitleidlose ekstatische
russische Mönch, dieser hochmütige Pamphletist, dieser
unwahrhaftige Bekenner. Aber gerade er ist notwendig
für die Einheit von Dostojewskis Persönlichkeit. Wo immer
wir bei Dostojewski ein Phänomen nicht verstehen, müssen
wir seine Notwendigkeit im Kontrast suchen. Vergessen
wir nicht: Dostojewski ist immer ein Ja und Nein,
die Selbstvernichtung und Selbstüberhebung, der zur Spitze
getriebene Kontrast. Und dieser übertriebene Hochmut ist
nur das Widerspiel einer übertriebenen Demut, sein gesteigertes
Volksbewußtsein nur das polare Empfinden seines
überreizten persönlichen Nichtigkeitsempfindens. Er spaltet
sich gleichsam selbst in zwei Hälften: in Stolz und in
Demut. Seine Persönlichkeit erniedrigt er: man durchsuche
die zwanzig Bände seines Werks nach einem einzigen
Worte der Eitelkeit, des Stolzes, der Überhebung! Nur
Selbstverkleinerung findet man darin, Ekel, Anklage, Erniedrigung.
Und alles, was er an Stolz besitzt, gießt er aus
in die Rasse, in die Idee seines Volkes. Alles was seiner
isolierten Persönlichkeit gilt, vernichtet er, alles was dem
Unpersönlichen in ihm, dem Russen, dem Allmenschen gilt,
erhebt er zur Vergötterung. Aus dem Unglauben an Gott
wird er Gottesprediger, aus dem Unglauben an sich der
Verkünder seiner Nation und der Menschheit. Auch im
Ideellen ist er der Märtyrer, der sich selbst an das Kreuz
schlägt, um die Idee zu erlösen.
Das ist sein großes Geheimnis: durch Gegensatz fruchtbar
zu werden. Ihn ausspannen ins Unendliche, damit er
die ganze Welt umfasse, und dann die ihm entspringende
Kraft zur Zukunft wenden. Die andern Dichter schaffen
ihr Ideal gewöhnlich aus der Steigerung ihrer Persönlichkeit,
indem sie sich selbst nachbilden, gereinigt, verklärt,
verbessert, erhoben, indem sie den zukünftigen Menschen
gewissermaßen als den geläuterten Typus ihrer selbst betrachten.
Dostojewski, der Gegensatzmensch, der schöpferische
Dualist, bildet sein Ideal, seinen Gott, durch die
Antithese zu sich selbst: er erniedrigt sich, den Lebendigen,
zum Negativ. Er will nur der Ton, der Lehm sein, aus
dem die neue Form gegossen wird, seinem Links entspricht
ein Rechts im zukünftigen Bilde, seiner Tiefe eine Erhebung,
seinem Zweifel eine Gläubigkeit, seinem Zwiespalt
eine Einheit. „Möge ich selbst untergehen, wenn nur die
andern glücklich sind“ – das Wort seines Staretz verwandelt
er in Geist. Er vernichtet sich, um in dem zukünftigen
Menschen aufzuerstehen.
Das Ideal Dostojewskis ist darum: Zu sein, wie er nicht
ist. Zu fühlen, wie er nicht fühlt. Zu denken, wie er nicht
denkt. Zu leben, wie er nicht lebt. Bis in das Kleinste,
Zug um Zug, ist der neue Mensch seiner individuellen
Form entgegengesetzt, aus jedem Schatten seines eigenen
Wesens ein Licht gebildet, aus jedem Dunkel ein Glanz.
Aus dem Nein zu sich selbst schafft er das Ja, das leidenschaftliche
zur neuen Menschheit. Bis ins Körperliche hinein
setzt sich diese beispiellose moralische Verurteilung
seines Selbst zugunsten des zukünftigen Wesens fort, die
Vernichtung des Ichmenschen um des Allmenschen willen.
Man nehme sein Bild, seine Photographie, seine Totenmaske
und lege sie neben die Bilder jener Menschen, in
denen er sein Ideal geformt: neben Aljoscha Karamasoff,
neben den Staretz Sossima, den Fürsten Myschkin, diese
drei Skizzen zum russischen Christus, zum Heiland, die
er entworfen. Und bis ins Kleinste wird hier jede Linie
Gegensatz sagen und Kontrast zu ihm selbst. Dostojewskis
Gesicht ist düster, erfüllt von Geheimnissen und Dunkelheit,
jener Antlitz ist heiter und von friedlicher Offenheit,
seine Stimme heiser und abrupt, die jener Menschen sanft
und leise. Sein Haar ist wirr und dunkel, seine Augen tief
und unruhig – jener Antlitz ist hell und umrahmt von
sanften Strähnen, ihr Auge glänzt ohne Unruhe und Angst.
Ausdrücklich sagt er von ihnen, daß sie geradeaus schauen
und ihr Blick das süße Lächeln von Kindern hat. Seine
Lippen sind schmal umkräuselt von den raschen Falten
des Hohnes und der Leidenschaft, sie verstehen nicht zu
lachen – Aljoscha, Sossima haben das freie Lächeln des
selbstsichern Menschen über den weißen Zähnen blinken.
Zug um Zug setzt er so sein eigenes Bild als Negativ gegen
die neue Form. Sein Antlitz ist das eines gebundenen
Menschen, des Knechtes aller Leidenschaften, bebürdet
von Gedanken – das ihre drückt die innere Freiheit aus,
die Hemmungslosigkeit, die Schwebe. Er ist Zerrissenheit,
Dualismus, sie die Harmonie, die Einheit. Er der Ichmensch,
der in sich Eingekerkerte, sie der Allmensch, der von allen
Enden seines Wesens in Gott überströmt.
Diese Schaffung eines moralischen Ideals aus Selbstvernichtung
– nie war sie vollkommener in allen Sphären des
Geistigen und des Sittlichen. Aus Selbstverurteilung, gleichsam,
indem er sich die Adern seines Wesens aufschneidet,
mit dem eigenen Blute malt er das Bild des zukünftigen
Menschen. Er war noch der Leidenschaftliche, der Krampfige,
der Mensch der kurzen tigerhaften Ansprünge, seine
Begeisterung eine aus der Explosion der Sinne oder der
Nerven aufschießende Stichflamme – jene sind die sanft,
aber stetig bewegte, keusche Glut. Sie haben die stille Beharrlichkeit,
die weiter reicht als die wilden Sprünge der Ekstase,
sie haben die echte Demut, die nicht die Lächerlichkeit
fürchtet, sie sind nicht wie er die ewig Erniedrigten
und Beleidigten, die Gehemmten und Verkrümmten. Mit
jedem können sie sprechen, und jeder fühlt Beruhigung
an ihrer Gegenwart – sie haben nicht die ewige Hysterie
der Angst, zu kränken oder gekränkt zu werden, sie blicken
nicht bei jedem Schritt fragend um sich. Gott quält sie
nicht mehr, er befriedet sie. Sie wissen um alles, aber
eben weil sie alles wissen, verstehen sie auch alles, sie
richten nicht und sie verurteilen nicht, sie grübeln nicht
nach den Dingen, sondern glauben sie dankbar. Seltsam:
er, der ewig Beunruhigte, sieht in dem gelassenen, geklärten
Menschen die höchste Form des Lebens, der Zwiespältige
postuliert als letztes Ideal die Einheit, der Empörer
die Unterwerfung. Seine Gottesqual ist in ihnen Gotteslust
geworden, seine Zweifel Gewißheit, seine Hysterie
Gesundung, sein Leid ein allumfassendes Glück. Das Letzte
und Schönste der Existenz ist für ihn, was er selbst, der
Bewußte und Überbewußte, nie gekannt und was er darum
für den Menschen als das Erhabenste ersehnt: Naivität,
Kindlichkeit des Herzens, die sanfte, die selbstverständliche
Heiterkeit.
Sehet seine liebsten Menschen, wie sie schreiten: ein
sanftes Lächeln ist auf ihren Lippen, um alles wissen sie
und haben doch keinen Stolz, sie leben im Geheimnis des
Lebens nicht wie in einer feurigen Schlucht, sondern
schlagen es blau wie einen Himmel um sich. Sie haben die
Urfeinde der Existenz, sie haben „Schmerz und Angst
besiegt“ und sind darum gottselig geworden in der unendlichen
Brüderschaft der Dinge. Sie sind erlöst von ihrem
Ich. Höchstes Glück der Erdenkinder ist die Unpersönlichkeit
– so verwandelt der höchste Individualist die Weisheit
Goethes in einen neuen Glauben.
Kein Beispiel kennt die Geschichte des Geistes einer
ähnlichen moralischen Selbstvernichtung innerhalb eines
Menschen, ähnlich fruchtbarer Erschaffung des Ideals aus
dem Kontrast. Märtyrer seiner selbst, hat Dostojewski
sich ans Kreuz geschlagen: sein Wissen, daß es den Glauben
bezeuge, seinen Körper, daß er durch Kunst den
neuen Menschen zeuge, seine Eigenheit um der Allheit
willen. Er will seinen eigenen Untergang als Typus, damit
eine glücklichere bessere Menschheit entstehe: alles Leiden
nimmt er auf sich um das Glück der andern willen. Und
der sich sechzig Jahre gespannt zur schmerzhaftesten Weite
seines Gegensatzes, zerwühlt zu allen Tiefen seines Wesens,
damit er Gott und damit den Sinn des Lebens finde – er
wirft die gehäufte Erkenntnis weg für eine neue Menschheit,
der er sein tiefstes Geheimnis sagt, die letzte Formel,
seine unvergeßlichste: „Das Leben mehr lieben als den
Sinn des Lebens.“
VITA TRIUMPHATRIX
„Wie es auch war, das Leben, es ist schön.“
Goethe
Wie dunkel der Weg durch Dostojewskis Tiefe, wie
düster seine Landschaft, wie drückend seine Unendlichkeit,
geheimnisvoll ähnlich seinem tragischen Antlitz, das
allen Schmerz des Lebens in sich gemeißelt! Abgründige
Höllenkreise des Herzens, purpurne Fegefeuer der Seele,
der tiefste Schacht, den irdische Hand jemals in die Unterwelt
des Gefühles hinabstieß. Wieviel Dunkel in dieser
Menschenwelt, wieviel Leiden in diesem Dunkel! O
welche Trauer auf seiner Erde, dieser Erde, „die mit Tränen
getränkt ist bis zu ihrer untersten Kruste“, welche
Höllenkreise in ihrer Tiefe, finsterer als Dante, der Seher,
sie vor einem Jahrtausend erschaut. Unerlöste Opfer ihrer
Irdischkeit, Märtyrer eigenen Gefühles, umschlungen von
den Schlangen ihrer Leidenschaft, gequält von allen Geißeln
des Geistes, schäumend im Schwall ohnmächtiger Empörung,
o welche Welt, diese Welt Dostojewskis! Vermauert
alle Freude, verbannt alle Hoffnung, ohne Rettung
vor dem Leiden, das, unendlich getürmte Mauer, um alle
seine Opfer steht! – Kann kein Mitleid sie erlösen, seine
Menschen, aus ihrer eigenen Tiefe, sprengt keine apokalyptische
Stunde diese Hölle, die ein Gottesmensch schuf aus
seiner Qual?
Tumult und Klage strömt aus dieser Tiefe, wie nie die
Menschheit sie erhört. Nie war mehr Dunkelheit über
einem Werk. Selbst Michelangelos Gestalten sind linder
in ihrer Trauer, und über Dantes Tiefe glänzt der Paradiese
seliger Schein. Ist wirklich das Leben nur ewige Nacht
in Dostojewskis Werk und Leiden der Sinn alles Lebens?
Zitternd beugt sich die Seele über den Abgrund und schauert,
nur Qual und Klage zu hören von ihren Brüdern.
Aber da schwebt ein Wort aus der Tiefe, sanft im Getümmel
und doch hoch sie überschwebend, wie eine Taube
aufschwebt über stürmendem Meer. Sanft ist es gesprochen,
und groß ist sein Sinn, selig das Wort: „Meine Freunde,
fürchtet das Leben nicht.“ Und es ist ein Schweigen aus
diesem Wort, schauernd lauscht die Tiefe, und sie schwebt,
sie überschwebt alle Qualen, die Stimme, da sie spricht:
„Nur durch Qual können wir das Leben lieben lernen.“
Wer spricht dies tröstendste Wort des Leidens? Der
Leidendste aller, er selbst, Dostojewski. Noch sind die
gespreiteten Hände geschlagen an das Kreuz seines Zwiespalts,
noch stehen die Nägel der Qual in seinem brüchigen
Leibe, aber demütig küßt er das Marterholz dieser
Existenz, und die Lippen sind sanft, wie sie zu den Mitbrüdern
das große Geheimnis sagen: „Ich glaube, wir alle
müssen erst das Leben lieben lernen.“
Und anbricht der Tag aus seinen Worten, apokalyptische
Stunde. Aufspringen die Gräber und Kerker: aus
der Tiefe stehen sie auf, die Toten und Verschlossenen,
alle, alle treten sie heran, Apostel seines Wortes zu sein,
aus ihrer Trauer erheben sie sich. Aus den Kerkern drängen
sie her, aus der Katorga Sibiriens, klirrend in Ketten,
aus Winkelstuben, Bordellen und Klosterzellen, sie alle,
die großen Leidenden der Leidenschaft; noch klebt das
Blut an ihren Händen, noch brennt ihr geknuteter Rücken,
noch sind sie nieder in Zorn und Gebrest, aber schon ist
die Klage zerbrochen in ihrem Munde, und ihre Tränen
funkeln von Zuversicht. O ewiges Wunder Bileams, Fluch
wird Segnung auf ihrer brennenden Lippe, da sie das Hosianna
des Meisters hören, das Hosianna, das „durch
alle Fegefeuer des Zweifels gegangen“. Die Finstersten
sind die ersten, die Traurigsten die Gläubigsten, alle drängen
sie vor, dies Wort zu bezeugen. Und aus ihren Mündern,
den rauhen und verlechzten, schäumt als großer
Choral der Hymnus des Leidens, der Hymnus des Lebens
mit der Urgewalt der Ekstase. Alle, alle sind sie zur Stelle,
die Märtyrer, das Leben zu lobpreisen. Dimitri Karamasoff,
der unschuldig Verdammte, Ketten an den Händen, jauchzt
aus der Fülle seiner Kraft: „Alles Leid werde ich überwinden,
um mir nur sagen zu können: ‚ich bin‘. Wenn
ich mich auch auf der Folterbank krümme, so weiß ich
doch, ‚ich bin‘, angeschmiedet auf die Galeere, sehe ich
noch die Sonne, und wenn ich sie auch nicht sehe, so lebe
ich doch und weiß, daß sie ist.“ Und Iwan, der Bruder,
tritt ihm zur Seite und kündet: „Es gibt kein unwiderrufliches
Unglück als Totsein.“ Und wie ein Strahl
dringt die Ekstase der Existenz in seine Brust, und er jubelt,
der Gottesleugner: „Ich liebe dich, Gott, denn groß
ist das Leben.“ Aus den Sterbekissen hebt sich, gefalteter
Hand, der ewige Zweifler Stefan Trofimowitsch auf und
stammelt: „O wie gerne würde ich wieder leben wollen.
Jede Minute, jeder Augenblick muß eine Seligkeit des
Menschen sein.“ Immer heller, immer reiner, immer erhobener
werden die Stimmen. Fürst Myschkin, der Verwirrte,
getragen von den schwankenden Flügeln seiner
schweifenden Sinne, breitet die Arme und schwärmt: „Ich
begreife nicht, wie man an einem Baum vorübergehen kann,
ohne glücklich zu sein, daß er ist und daß man ihn liebt ...
wieviel wundervolle Dinge gibt es doch auf jedem Schritt
dieses Lebens, Dinge, die selbst der Verworfenste noch
als wundervoll empfindet.“ Der Staretz Sossima predigt:
„Die Gott und das Leben verfluchen, verfluchen sich selbst ...
Wenn du jedes Ding lieben wirst, wird sich dir das Geheimnis
Gottes in allen Dingen offenbaren, und schließlich
wirst du die ganze Welt mit allumfassender Liebe umspannen.“
Und selbst der „Mensch aus der Winkelgasse“,
der kleine verschüchterte Namenlose in seinem verschabten
Mäntelchen, drängt heran und entbreitet die Arme: „Das
Leben ist Schönheit, nur im Leiden ist Sinn, o wie schön
ist das Leben!“ Der „lächerliche Mensch“ bricht auf
aus seinem Traum, „das Leben, das große, zu verkünden“,
alle, alle kriechen sie wie Gewürm aus den Winkeln ihres
Wesens, um mitzusprechen im großen Choral. Keiner will
sterben, keiner das Leben lassen, das heilig geliebte, keines
Leiden ist so tief, daß er es mit dem Tode noch tauschte,
dem ewigen Widerpart. Und diese Hölle, Dunkelheit der
Verzweiflung, hallt plötzlich an ihren harten Wänden Lobgesang
des Schicksals wider, aus Fegefeuern entbrennt fanatische
Glut der Dankbarkeit. Licht, unendliches Licht
strömt ein, der Himmel Dostojewskis bricht über die Erde,
und rauschend über alle dröhnt das letzte Wort, das Dostojewski
schrieb, das Wort der Kinder bei der Rede am großen
Stein, der heilig barbarische Ruf: „Hurra das Leben!“
O Leben, wunderbares, das du dir mit wissendem Willen
Märtyrer schaffst, auf daß sie dich lobsingen, o Leben,
weise-grausames, das du die Größten dir hörig machst
mit Leiden, damit sie deinen Triumph verkünden! Den
ewigen Schrei Hiobs, der durch die Jahrtausende tönt, da
er in der Plage Gott erkennt, immer willst du ihn wieder
hören und der Männer Daniels Jubelgesang, indes ihr Leib
im feurigen Ofen brennt. Ewig entzündest du ihn, klingende
Kohle, auf der Zunge der Dichter, die du zu Leidenden
machst, auf daß sie dir hörig werden und dich nennen
in Liebe! Beethoven schlägst du im Sinne der Musik,
daß der Ertaubte das Brausen Gottes höre und, vom Tode
berührt, dir die Hymne der Freude dichte, Rembrandt
jagst du ins Dunkel der Armut, daß er Licht, dein Urlicht,
in Farben sich suche, Dante verjagst du vom Vaterland,
daß er Hölle und Himmel im Traum erschaue, alle
hast du mit deinen Geißeln gejagt in deine Unendlichkeit.
Und diesen, den du wie keinen gegeißelt, auch ihn hast du
dir gezwungen zum Knechte, und siehe, von schäumender
Lippe, hinfallend in Krämpfen jauchzt er dir Hosianna zu,
das heilige Hosianna, das „durch alle Fegefeuer der Zweifel
gegangen“. O wie siegst du in den Menschen, die du leiden
läßt, aus Nacht machst du Tag, aus Leiden die Liebe, aus
der Hölle holst du dir heiligen Lobgesang. Denn der Leidendste
ist der Wissendste aller, und wer um dich weiß, muß dich
segnen: und dieser, der dich zutiefst erkannte, siehe, er
hat dich wie keiner bezeugt, er hat dich wie keiner geliebt!
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