Stefan Zweig 1881 - 1942
Stefan Zweig war ein österreichischer Schriftsteller.
Wirkung und Charakteristika des Werks
Vor allem Zweigs Prosawerke und romanhafte Biografien (Joseph Fouché, Marie Antoinette) finden bis heute ein Publikum. Das Gesamtwerk zeichnet sich durch eine hohe Dichte an Novellen (Schachnovelle, Der Amokläufer etc.) und historisch basierten Erzählungen aus. So finden historische Persönlichkeiten von Ferdinand Magellan, Lew Tolstoi, Fjodor Dostojewski, Napoléon Bonaparte, Georg Friedrich Händel, Joseph Fouché bis Marie Antoinette in einer stark subjektiv personalisierten Geschichte Eingang in Zweigs Werk.
Reduzierte man das Werk Zweigs auf die vier dominierendsten Charakteristika, so beschriebe man es vermutlich mit den Begriffen Tragik, Drama, Melancholie und Resignation. Nahezu alle Werke Zweigs enden in tragischer Resignation; der Protagonist wird durch sowohl äußere als auch innere Umstände am Erlangen seines Glücks, welches unmittelbar erreichbar scheint, gehindert, was damit um so tragischer wirkt. Dieses Merkmal tritt besonders in Ungeduld des Herzens, Zweigs einzigem vollendeten Roman, hervor. In der beispielhaften Novelle Der Amokläufer, einer Typologie der Leidenschaft, inspiriert von großen Vorbildern wie Balzac und dabei ganz der Erzähltradition der Wiener Schule – allen voran Arthur Schnitzler – folgend, sind die Hauptpersonen einem dämonischen Zwang unterworfen, der sie aus der hergebrachten Ordnung ihres Lebens reißt. Deutlich wird hier der Einfluss Sigmund Freuds erkennbar. Diese Novelle, wie auch alle anderen Novellen Zweigs, weist Goethes Unerhörte Begebenheit auf, ein (nach dem Meister) gattungsspezifisches Kennzeichen der Novelle.
In der Schachnovelle, Zweigs wohl bekanntestem Buch, kämpft die bürgerliche Humanität gegen die Brutalität einer entfremdeten Welt an. Ein kühl kalkulierender, roboterhafter Schachweltmeister, getrieben von ordinärer Habgier, spielt gegen einen Mann, der von den Nationalsozialisten in Isolationshaft gefangengehalten wurde. Zum einen wird hier der Mensch an sich mit einem unmenschlichen System (Faschismus) konfrontiert, zum anderen beschreibt Zweig das Leiden des Gefangenen ohne Möglichkeit eines Kontaktes zur Außenwelt. Trotz dieses eingehenden Plädoyers für das Menschliche ordnet Zweig sein Werk, wie auch sein Leben selbst, einem Pazifismus unter, der soweit geht, dem Schriftsteller jegliche politische Rolle abzusprechen. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges unterschied und entzweite ihn dieser Standpunkt von den anderen Exilliteraten (vornehmlich Heinrich Mann und Ernst Weiss) und dem PEN-Club.
Thomas Mann schrieb 1952 zum zehnten Todestag von Stefan Zweig über dessen Pazifismus: „Es gab Zeiten, wo sein radikaler, sein unbedingter Pazifismus mich gequält hat. Er schien bereit, die Herrschaft des Bösen zuzulassen, wenn nur das ihm über alles Verhaßte, der Krieg, dadurch vermieden wurde. Das Problem ist unlösbar. Aber seitdem wir erfahren haben, wie auch ein guter Krieg nichts als Böses zeitigt, denke ich anders über seine Haltung von damals – oder versuche doch, anders darüber zu denken.“
So strikt Stefan Zweig eine komplette Trennung von Geist und Politik forderte, so fest stand er für ein vereinigtes Europa in der Tradition Henri Barbusses, Romain Rollands und Émile Verhaerens ein.
Obwohl in einem Zeitraum von zehn Jahren entstanden,
bindet doch kein Zufall diese drei Versuche
über Balzac, Dickens und Dostojewski zu einem Buche zusammen.
Einheitliche Absicht versucht die drei großen und
in meinem Sinne einzigen Romanschriftsteller des neunzehnten
Jahrhunderts als Typen zu zeigen, die eben durch
den Kontrast ihrer Persönlichkeiten einander ergänzen
und vielleicht den Begriff des epischen Weltbildners, des
Romanciers, zu einer deutlichen Form erheben.
Nenne ich Balzac, Dickens und Dostojewski hier die
einzigen großen Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts,
so verkenne ich in dieser Voranstellung keineswegs
die Größe einzelner Werke Goethes, Gottfried Kellers,
Stendhals, Flauberts, Tolstois, Victor Hugos und anderer,
von denen mancher einzelne Roman oftmals das abgesonderte
Werk insbesondere Balzacs und Dickens' weitaus
übertrifft. Und ich glaube, meinen innerlichen und unerschütterlichen
Unterschied zwischen dem Verfasser eines
Romanes und dem Romancier darum ausdrücklich feststellen
zu müssen. Romanschriftsteller im letzten, im höchsten
Sinne ist nur das enzyklopädische Genie, der universale
Künstler, der – hier wird Breite des Werkes und Fülle der
Figuren zum Argument – einen ganzen Kosmos baut, der
eine eigene Welt mit eigenen Typen, eigenen Gravitationsgesetzen
und einem eigenen Sternenhimmel neben die irdische
stellt. Der jede Figur, jedes Geschehnis so sehr mit
seinem Wesen imprägniert, daß sie nicht nur für ihn typisch
werden, sondern auch für uns selbst mit jener Eindringlichkeit
bildkräftig, die uns dann oft verlockt, Geschehnisse
und Personen nach ihnen zu benennen, so daß wir von
Menschen im lebendigen Leben etwa sagen: eine balzacsche Figur, eine Dickensgestalt, eine Dostojewskinatur.
Jeder dieser Künstler bildet ein Lebensgesetz, eine Lebensauffassung
durch die Fülle seiner Gestalten so einheitlich
hervor, daß es durch ihn eine neue Form der Welt wird.
Und dieses innerste Gesetz, diese Charakterformation in
ihrer verborgenen Einheit darzustellen ist der wesentliche
Versuch meines Buches, dessen ungeschriebener Untertitel
lauten könnte: Psychologie des Romanciers.
Jeder dieser drei Romanschriftsteller hat seine eigene
Sphäre. Balzac die Welt der Gesellschaft, Dickens die Welt
der Familie, Dostojewski die Welt des Einen und des Alls.
Vergleiche dieser Sphären zeigen ihre Unterschiede, niemals
aber ist unternommen, diese Unterschiede in Werturteile
umzudeuten oder die nationalen Elemente eines
Künstlers in Neigung oder Abwehr zu betonen. Jeder
große Schöpfer ist eine Einheit, die ihre Grenzen und ihr
Gewicht in eigenen Maßen in sich schließt: es gibt nur
ein spezifisches Gewicht innerhalb eines Werkes, kein absolutes
in der Wagschale der Gerechtigkeit.
Alle drei Aufsätze setzen Kenntnis der Werke voraus:
sie wollen keine Einführung sein, sondern Sublimierung,
Kondensierung, Extrakt. Sie können darum, weil sie zusammendrängen,
nur das persönlich als wesentlich Empfundene
zur Erkenntnis bringen; am meisten bedaure ich
diese notwendige Unzulänglichkeit bei dem Aufsatz über
Dostojewski, dessen unendliches Maß ebensowenig wie
das Goethes jemals auch von breitester Formel wird umfaßt
werden können.
Gern wäre diesen großen Gestalten eines Franzosen,
eines Engländers, eines Russen auch das Bildnis eines repräsentativen
deutschen Romanschriftstellers, eines epischen
Weltbildners in jenem hohen Sinne, wie ich ihn für
das Wort Romancier anspreche, beigefügt worden. Doch
ich finde keinen einzigen jenes höchsten Ranges in Gegenwart
und Vergangenheit. Und es ist vielleicht der Sinn
dieses Buches, ihn für die Zukunft zu fordern und den
noch Fernen zu grüßen.
SALZBURG 1919.
Honoré de Balzac 1799 - 1850
BALZAC
Balzac ist 1799 geboren, in der Touraine, der Provinz
des Überflusses, in Rabelais' heiterer Heimat. Im Juni
1799, das Datum ist wert, wiederholt zu werden. Napoleon
– die von seinen Taten schon beunruhigte Welt
nannte ihn noch Bonaparte – kam in diesem Jahre aus
Ägypten heim, halb Sieger und halb Flüchtling. Unter
fremden Sternbildern, vor den steinernen Zeugen der
Pyramiden hatte er gefochten, war dann, müd, ein grandios
begonnenes Werk zäh zu vollenden, auf winzigem Schiffe
durchgeschlüpft zwischen den lauernden Korvetten Nelsons,
faßte ein paar Tage nach seiner Ankunft eine Handvoll
Getreuer zusammen, fegte den widerstrebenden Konvent
rein und riß mit einem Griff die Herrschaft Frankreichs
an sich. 1799, das Geburtsjahr Balzacs, ist der Beginn
des Empire. Das neue Jahrhundert kennt nicht mehr
le petit général, nicht mehr den korsischen Abenteurer,
sondern nur mehr Napoleon, den Kaiser Frankreichs.
Zehn, fünfzehn Jahre noch – die Knabenjahre Balzacs –
und die machtgierigen Hände umspannen halb Europa,
während seine ehrgeizigen Träume mit Adlersflügeln schon
ausgreifen über die ganze Welt von Orient zu Okzident.
Es kann für einen alles so intensiv Miterlebenden, für
einen Balzac nicht gleichgultig sein, wenn sechzehn Jahre
ersten Umblicks mit den sechzehn Jahren des Kaiserreichs,
der vielleicht phantastischesten Epoche der Weltgeschichte,
glatt zusammenfallen. Denn frühes Erlebnis und Bestimmung,
sind sie nicht eigentlich nur Innen- und Außenfläche
eines Gleichen? Daß einer, irgendeiner kam, von
irgendeiner Insel im blauen Mittelmeer, nach Paris kam,
ohne Freund und Geschäft, ohne Ruf und Würde, schroff
die eben zügellose Gewalt dort packte, sie herumriß und
in den Zaum zwang, daß irgendeiner, ein einzelner, ein Fremder, mit einem Paar nackter Hände Paris gewann und
dann Frankreich und dann die ganze Welt – diese Abenteurerlaune
der Weltgeschichte wird nicht aus schwarzen
Lettern unglaubhaft zwischen Legenden oder Historien
ihm vermittelt, sondern farbig, durch all seine durstig aufgetanen
Sinne dringt sie ein in sein persönliches Leben,
mit tausend bunten Erinnerungswirklichkeiten die noch
unbeschrittene Welt seines Innern bevölkernd. Solches
Erlebnis muß notwendigerweise zum Beispiel werden. Balzac,
der Knabe, hat das Lesen vielleicht gelernt an den
Proklamationen, die stolz, schroff, mit fast römischem
Pathos die fernen Siege erzählten, der Kinderfinger zog
wohl ungelenk auf der Landkarte, von der Frankreich wie
ein überströmender Fluß allmählich über Europa schwoll,
den Märschen der napoleonischen Soldaten nach, heute
über den Mont Cenis, morgen quer durch die Sierra
Nevada, über die Flüsse hin nach Deutschland, über den
Schnee nach Rußland, über das Meer vor Gibraltar hin,
wo die Engländer mit glühenden Kanonenkugeln die
Flottille in Brand schossen. Tags haben vielleicht die Soldaten
auf der Straße mit ihm gespielt, Soldaten, denen die
Kosaken ihre Säbelhiebe ins Gesicht geschrieben hatten,
nachts mag er oft aufgewacht sein vom zornigen Rollen
der Kanonen, die hinzogen nach Österreich, um die Eisdecke
unter der russischen Reiterei bei Austerlitz zu zerschmettern.
Alles Begehren seiner Jugend mußte aufgelöst
sein in den aneifernden Namen, in den Gedanken, in die
Vorstellung: Napoleon. Vor dem großen Garten, der aus
Paris hinausführt in die Welt, wuchs ein Triumphbogen
auf, dem die besiegten Städtenamen der halben Welt eingemeißelt
waren, und dieses Gefühl der Herrschaft, wie
mußte es umschlagen in eine ungeheure Enttäuschung, als dann fremde Truppen mit Musik und wehenden Fahnen
durchzogen durch diese stolze Wölbung! Was außen, in
der durchstürmten Welt geschah, wuchs nach innen als
Erlebnis. Früh erlebte er schon die ungeheure Umwälzung
der Werte, der geistigen ebenso wie der materiellen. Er
sah die Assignaten, auf denen 100 oder 1000 Francs mit
dem Siegel der Republik verheißen waren, als wertlose
Papiere im Winde flattern. Auf dem Goldstück, das durch
seine Hand glitt, war bald des enthaupteten Königs feistes
Profil, bald die Jakobinermütze der Freiheit, bald des Konsuls
Römergesicht, bald Napoleon im kaiserlichen Ornat.
In einer Zeit so ungeheurer Umwälzungen, da die Moral,
das Geld, das Land, die Gesetze, die Rangordnungen, alles,
was seit Jahrhunderten in feste Grenzen eingedämmt war,
einsickerte oder überschwemmte, in einer Epoche so nie
erlebter Veränderungen mußte ihm früh die Relativität
aller Werte bewußt werden. Ein Wirbel war die Welt
um ihn, und wenn der schwindlige Blick nach Übersicht
suchte, nach einem Symbol, nach einem Sternbild über
diesem gebäumten Wogen, so war es in diesem Auf und
Nieder der Ereignisse immer nur der Eine, der Wirkende,
von dem diese tausend Erschütterungen und Schwingungen
ausgingen. Und ihn selbst, Napoleon, hatte er noch erlebt.
Er sah ihn zur Parade reiten mit den Geschöpfen seines
Willens, mit Rustan, dem Mamelucken, mit Josef, dem
er Spanien geschenkt hatte, mit Murat, dem er Sizilien zu
eigen gegeben, mit Bernadotte, dem Verräter, mit allen,
denen er Kronen gemünzt hatte und Königreiche erobert,
die er aufgehoben aus dem Nichts ihrer Vergangenheit in
den Strahl seiner Gegenwart. In einer Sekunde war in
seine Netzhaut sinnfällig und lebendig ein Bild eingestrahlt,
das größer war als alle Beispiele der Geschichte: er hatte den großen Welteroberer gesehen! Und ist für einen
Knaben, einen Welteroberer zu sehen, nicht gleichviel mit
dem Wunsche, selbst einer zu werden? Noch an zwei
anderen Stellen ruhten in diesem Augenblicke zwei Welteroberer
aus, in Königsberg, wo einer die Wirre der Welt
sich auflöste in eine Übersicht, und in Weimar, wo sie ein
Dichter nicht minder in ihrer Gänze besaß als Napoleon
mit seinen Armeen. Aber dies war für lange noch unfühlbare
Ferne für Balzac. Den Trieb, immer nur das Ganze
zu wollen, nie ein Einzelnes, die ganze Weltfülle gierig
zu erstreben, diesen fieberhaften Ehrgeiz hat vorerst das
Beispiel Napoleons an ihm verschuldet.
Dieser ungeheure Weltwille weiß noch nicht sofort
seinen Weg. Balzac entscheidet sich zunächst für keinen
Beruf. Zwei Jahre früher geboren, wäre er, ein Achtzehnjähriger,
in die Reihen Napoleons getreten, hätte vielleicht
bei Belle Alliance die Höhen gestürmt, wo die englischen
Kartätschen niederfegten; aber die Weltgeschichte liebt
keine Wiederholungen. Auf den Gewitterhimmel der napoleonischen
Epoche folgen laue, weiche, erschlaffende
Sommertage. Unter Ludwig XVIII. wird der Säbel zum
Zierdegen, der Soldat zur Hofschranze, der Politiker zum
Schönredner; nicht mehr die Faust der Tat, das dunkle
Füllhorn des Zufalls vergeben die hohen Staatsstellen, sondern
weiche Frauenhände schenken Gunst und Gnade,
das öffentliche Leben versandet, verflacht, der Gischt der
Ereignisse glättet sich zum sanften Teich. Mit den Waffen
war die Welt nicht mehr zu erobern. Napoleon, dem einzelnen
ein Beispiel, war eine Abschreckung für die vielen.
So blieb die Kunst. Balzac beginnt zu schreiben. Aber
nicht wie die anderen, um Geld zu raffen, zu amüsieren,
ein Bücherregal zu füllen, ein Boulevardgespräch zu sein: ihn lüstet nicht nach einem Marschallstab in der Literatur,
sondern nach der Kaiserkrone. In einer Mansarde fängt
er an. Unter fremdem Namen, wie um seine Kraft zu
proben, schreibt er die ersten Romane. Es ist noch nicht
Krieg, sondern nur Kriegsspiel, Manöver und noch nicht
die Schlacht. Unzufrieden mit dem Erfolg, unbefriedigt
vom Gelingen, wirft er dann das Handwerk hin, dient
drei, vier Jahre lang anderen Berufen, sitzt als Schreiber
in der Stube eines Notars, beobachtet, sieht, genießt, dringt
mit seinem Blick in die Welt, und dann fängt er noch einmal
an. Jetzt aber mit jenem ungeheuren Willen auf das
Ganze hinzielend, mit jener gigantischen fanatischen Gier,
die das Einzelne, die Erscheinung, das Phänomen, das Losgerissene
mißachtet, um nur das in großen Schwingungen
Kreisende zu umfassen, das geheimnisvolle Räderwerk der
Urtriebe zu belauschen. Aus dem Gebräu der Geschehnisse
die reinen Elemente, aus dem Zahlengewirr die
Summe, aus dem Getöse die Harmonie, aus der Lebensfülle
die Essenz zu gewinnen, die ganze Welt in seine
Retorte zu drängen, sie noch einmal zu schaffen, „en raccourci“,
in der genauen Verkürzung, und die so unterjochte
mit seinem eigenen Atem zu beseelen, mit seinen
eigenen Händen zu lenken: das ist nun sein Ziel. Nichts
soll verloren gehen von der Vielfalt, und um dieses Unendliche
in ein Endliches, das Unerreichbare in ein Menschenmögliches
zusammenzupressen, gibt es nur einen
Prozeß: die Komprimierung. Seine ganze Kraft arbeitet
dahin, die Phänomene zusammenzudrängen, sie durch ein
Sieb zu jagen, wo alles Unwesentliche zurückbleibt und
nur die reinen, wertvollen Formen durchsickern; und sie
dann, diese zerstreuten Einzelformen, in der Glut seiner
Hände zusammenzupressen, ihre ungeheure Vielfalt in ein anschauliches, übersichtliches System zu bringen, wie Linné
die Milliarden Pflanzen in eine enge Übersicht, wie der
Chemiker die unzählbaren Zusammensetzungen in eine
Handvoll Elemente auflöst – das ist nun sein Ehrgeiz.
Er vereinfacht die Welt, um sie dann zu beherrschen, er
preßt die Bezwungene in den grandiosen Kerker der „Comédie
humaine“. Durch diesen Prozeß der Destillation
sind seine Menschen immer Typen, immer charakteristische
Zusammenfassungen einer Mehrheit, von denen ein
unerhörter Kunstwille alles Überflüssige und Unwesentliche
abgeschüttelt hat. Diese geradlinigen Leidenschaften
sind die Stoßkräfte, diese reinen Typen die Schauspieler,
diese dekorativ vereinfachte Umwelt die Kulissen der „Comédie
humaine“. Er konzentriert, indem er das administrative Zentralisationssystem in die Literatur einführt. Wie
Napoleon macht er Frankreich zum Umkreis der Welt,
Paris zum Zentrum. Und innerhalb dieses Kreises, in Paris
selbst, zieht er mehrere Zirkel, den Adel, die Geistlichkeit,
die Arbeiter, die Dichter, die Künstler, die Gelehrten.
Aus fünfzig aristokratischen Salons macht er einen einzigen,
den der Herzogin von Cadignan. Aus hundert
Bankiers den Baron von Nucingen, aus allen Wucherern
den Gobsec, aus allen Ärzten den Horace Bianchon. Er
läßt diese Menschen enger beieinander wohnen, häufiger
sich berühren, vehementer sich bekämpfen. Wo das Leben
tausend Spielarten erzeugt, hat er nur eine. Er kennt keine
Mischtypen. Seine Welt ist ärmer als die Wirklichkeit,
aber intensiver. Denn seine Menschen sind Extrakte, seine
Leidenschaften reine Elemente, seine Tragödien Kondensierungen.
Wie Napoleon beginnt er mit der Eroberung
von Paris. Dann faßt er Provinz nach Provinz – jedes
Departement sendet gewissermaßen seinen Sprecher in das
Parlament Balzacs – und dann wirft er wie der siegreiche
Konsul Bonaparte seine Truppen über alle Länder. Er
greift aus, sendet seine Menschen an die Fjorde Norwegens,
in die verbrannten, sandigen Ebenen Spaniens, unter den
feuerfarbenen Himmel Ägyptens, an die vereiste Brücke
der Beresina, überallhin und noch weiter greift sein Weltwille
wie der seines großen Vorbildners. Und so wie Napoleon,
ausruhend zwischen zwei Feldzügen, den Code civil schuf, gibt Balzac, ausruhend von der Eroberung der
Welt in der „Comédie humaine“, einen Code moral der
Liebe, der Ehe, eine prinzipielle Abhandlung und zieht
über die erdumspannende Linie der großen Werke noch
lächelnd die übermütige Arabeske der „Contes drolatiques“.
Vom tiefsten Elend, aus den Hütten der Bauern wandert
er in die Paläste von St. Germain, dringt in die Gemächer
Napoleons, überall reißt er die vierte Wand auf und mit
ihr die Geheimnisse der verschlossenen Räume, er rastet
mit den Soldaten in den Zelten der Bretagne, spielt an der
Börse, sieht in die Kulissen des Theaters, überwacht die
Arbeit des Gelehrten, kein Winkel ist in der Welt, wo
seine zauberische Flamme nicht hinleuchtet. Zwei- bis
dreitausend Menschen bilden seine Armee, und tatsächlich:
aus dem Boden hat er sie gestampft, aus seiner flachen
Hand ist sie aufgewachsen. Nackt, aus dem Nichts sind sie
gekommen, und er wirft ihnen Kleider um, schenkt ihnen
Titel und Reichtümer, wie Napoleon seinen Marschällen,
nimmt sie ihnen wieder ab, er spielt mit ihnen, hetzt sie
durcheinander. Unzählbar ist die Vielfalt der Geschehnisse,
ungeheuer die Landschaft, die hinter diese Ereignisse
sich stellt. Einzig in der neuzeitlichen Literatur, wie
Napoleon einzig in der modernen Geschichte, ist diese
Eroberung der Welt in der „Comédie humaine“, dieses
Zwischen-zwei-Händen-Halten des ganzen, zusammengedrängten
Lebens. Aber es war der Knabentraum Balzacs,
die Welt zu erobern, und nichts ist gewaltiger als
früher Vorsatz, der Wirklichkeit wird. Nicht umsonst
hatte er unter ein Bild Napoleons geschrieben: „Ce qu'il
n'a pu achever par l'épée je l'accomplirai par la plume.“
Und so wie er, sind seine Helden. Alle haben sie das
Welteroberungsgelüst. Eine zentripetale Kraft schleudert
sie aus der Provinz, aus ihrer Heimat, nach Paris. Dort
ist ihr Schlachtfeld. Fünfzigtausend junge Leute, eine
Armee, strömt heran, unversuchte keusche Kraft, entladungssüchtige,
unklare Energie, und hier, im engen
Raume prallen sie aufeinander wie Geschosse, vernichten
sich, treiben sich empor, reißen sich in den Abgrund.
Keinem ist ein Platz bereitet. Jeder muß sich die Rednerbühne
erobern und dies stahlharte, biegsame Metall, das
Jugend heißt, umschmieden zu einer Waffe, seine Energien
konzentrieren zu einem Explosiv. Daß dieser Kampf
innerhalb der Zivilisation nicht minder erbittert ist als der
auf den Schlachtfeldern, dies als erster bewiesen zu haben,
ist der Stolz Balzacs: „Meine bürgerlichen Romane sind
tragischer als eure Trauerspiele!“ ruft er den Romantikern
zu. Denn das erste, was diese jungen Menschen in den
Büchern Balzacs lernen, ist das Gesetz der Unerbittlichkeit.
Sie wissen, daß sie zuviel sind, und müssen sich –
das Bild gehört Vautrin, dem Liebling Balzacs – auffressen
wie die Spinnen in einem Topf. Sie müssen die Waffe, die
sie aus ihrer Jugend geschmiedet haben, noch eintauchen
in das brennende Gift der Erfahrung. Nur der Überbleibende
hat recht. Aus allen zweiunddreißig Windrichtungen
kommen sie her wie die Sansculotten der „Großen
Armee“, zerreißen sich die Schuhe auf dem Wege nach
Paris, der Staub der Landstraße klebt an ihren Kleidern,
und ihre Kehle ist verbrannt von einem ungeheuren Durst
nach Genuß. Und wie sie sich umsehen in dieser neuen,
zauberischen Sphäre der Eleganz, des Reichtums und der
Macht, da fühlen sie, daß, um diese Paläste, diese Frauen,
diese Gewalten zu erobern, all das wenige, das sie mitgebracht
haben, wertlos sei. Daß sie ihre Fähigkeiten, um
sie auszunützen, umschmelzen müßten, Jugend in Zähigkeit,
Klugheit in List, Vertrauen in Falschheit, Schönheit
in Laster, Verwegenheit in Verschlagenheit. Denn die
Helden Balzacs sind starke Begehrende, sie streben nach
dem Ganzen. Sie alle haben das gleiche Abenteuer: ein
Tilbury saust an ihnen vorbei, die Räder sprühen sie an
mit Kot, der Kutscher schwingt die Peitsche, aber darin
sitzt eine junge Frau, in ihrem Haar blinkt der Schmuck.
Ein Blick weht rasch vorüber. Sie ist verführerisch und
schön, ein Symbol des Genusses. Und alle Helden Balzacs
haben in diesem Augenblicke nur einen Wunsch:
Mir diese Frau, der Wagen, die Diener, der Reichtum,
Paris, die Welt! Das Beispiel Napoleons, daß alle Macht
auch für den Geringsten feil sei, hat sie verdorben. Nicht
wie ihre Väter in der Provinz ringen sie um einen Weinberg,
um eine Präfektur, um eine Erbschaft, sondern um
Symbole schon, um die Macht, um den Aufstieg in jenen
Lichtkreis, wo die Liliensonne des Königtums glänzt
und das Geld wie Wasser durch die Finger rinnt. So
werden sie ja jene großen Ehrgeizigen, denen Balzac stärkere
Muskeln, wildere Beredsamkeit, energischere Triebe,
ein wenn auch rascheres, so doch lebendigeres Leben zuschreibt,
als den anderen. Sie sind Menschen, deren Träume
Taten werden, Dichter, wie er sagt, die in der Materie
des Lebens dichten. Zwiefach in ihrer Angriffsweise, ein
besonderer Weg bahnt sich dem Genie, ein anderer dem gewöhnlichen.
Man muß sich eine eigene Weise finden, um
zur Macht zu gelangen, oder man muß die der anderen,
die Methode der Gesellschaft erlernen. Als Kanonenkugel
muß man mörderisch hineinschmettern in die Menge der
anderen, die zwischen einem und dem Ziele stehen, oder
man muß sie schleichend vergiften wie die Pest, rät Vautrin,
der Anarchist, die grandiose Lieblingsfigur Balzacs.
Im Quartier Latin, wo Balzac selbst in enger Stube begonnen
hat, treten auch seine Helden zusammen, die Urformen
des sozialen Lebens, Desplein, der Student der
Medizin, Rastignac, der Streber, Louis Lambert, der Philosoph,
Bridau, der Maler, Rubempré, der Journalist –
ein Cénacle junger Menschen, die ungeformte Elemente
sind, reine, rudimentäre Charaktere, aber doch: das ganze
Leben gruppiert um eine Tischplatte in der sagenhaften
Pension Vauquer. Dann aber, hineingegossen in die große
Retorte des Lebens, eingekocht in die Hitze der Leidenschaften,
und wieder erkaltend, erstarrend an den Enttäuschungen,
unterworfen den vielfachen Wirkungen der
gesellschaftlichen Natur, den mechanischen Reibungen,
den magnetischen Anziehungen, den chemischen Zersetzungen,
den molekularen Zerlegungen, bilden sich diese
Menschen um, verlieren sie ihr wahres Wesen. Die furchtbare
Säure, die Paris heißt, löst die einen auf, zerfrißt sie,
scheidet sie aus, läßt sie verschwinden und kristallisiert,
verhärtet, versteint wiederum die anderen. Alle Wirkungen
der Wandlung, Färbung und Vereinung vollziehen sich
an ihnen, aus den vereinten Elementen bilden sich neue
Komplexe, und zehn Jahre später grüßen sich die Übergebliebenen,
Umgeformten mit Augurenlächeln auf den
Höhen des Lebens, Desplein, der berühmte Arzt, Rastignac,
der Minister, Bridau, der große Maler, während Louis
Lambert und Rubempré das Schwungrad zermalmend
faßte. Nicht umsonst hat Balzac die Chemie geliebt, die
Werke Cuviers, Lavoisiers studiert. Denn in diesem vielfältigen
Prozeß der Aktionen und Reaktionen, der Affinitäten,
der Abstoßungen und Anziehungen, Ausscheidungen
und Gliederungen, Zersetzungen und Kristallisierungen,
in der atomhaften Vereinfachung des Zusammengesetzten
schien ihm deutlicher als anderswo das Bild
der sozialen Zusammensetzung gespiegelt zu sein. Daß
jede Vielheit nicht minder auf die Einheit wirkte, wie die
Einheit selbst wieder bestimmend auf die Vielheit, diese
seine Auffassung, die er Lamarquismus nannte – und die
Taine später zu Begriffen erstarrt hat –, daß jedes Individuum
ein Produkt sei, geformt von Klima, Milieu, Sitten,
Zufall, von all dem, was schicksalsträchtig an ihm rührt,
daß jedes Individuum seine Wesenheit aus einer Atmosphäre
sauge, um selbst wieder eine neue Atmosphäre zu
entstrahlen –, dieses universelle Bedingtsein von In- und
Umwelt war ihm Axiom. Und diesen Abdruck des
Organischen im Unorganischen und die Griffspuren des
Lebendigen im Begrifflichen wieder, diese Summierungen
eines momentanen geistigen Besitzes im sozialen Wesen,
die Produkte ganzer Epochen aufzuzeichnen, schien ihm
höchste Aufgabe des Künstlers. Alles fließt ineinander,
alle Kräfte sind in Schwebe und keine frei. Ein so unbegrenzter
Relativismus hat jede Kontinuität, selbst die des
Charakters geleugnet. Balzac hat seine Menschen immer
an den Ereignissen sich formen lassen, sich modellieren
wie Ton in der Hand des Schicksals. Selbst die Namen
seiner Menschen umspannen einen Wandel und kein Einheitliches.
Durch zwanzig der Bücher Balzacs geht der
Baron von Rastignac, Pair von Frankreich. Man glaubt
ihn schon zu kennen, von der Straße her, oder vom Salon,
oder von der Zeitung, diesen rücksichtslosen Arrivierten,
dies Prototyp eines brutalen pariserischen unbarmherzigen
Strebers, der aalglatt durch alle Schlupfwinkel der Gesetze
sich durchdrückt und die Moral einer verkommenen
Gesellschaft meisterhaft verkörpert. Aber da ist ein Buch,
in dem lebt auch ein Rastignac, der junge arme Edelmann,
den seine Eltern nach Paris schicken mit vielen Hoffnungen
und wenig Geld, ein weicher, sanfter, bescheidener, sentimentaler
Charakter. Und das Buch erzählt, wie er in die
Pension Vauquer gerät, in jenen Hexenkessel von Gestalten,
in eine jener genialen Verkürzungen, wo Balzac
in vier schlecht tapezierte Wände die ganze Lebensvielfalt
der Temperamente und Charaktere einschließt, und
hier sieht er die Tragödie des ungekannten König Lear,
des Vaters Goriot, sieht, wie die Flitterprinzessinnen des
Faubourg St. Germain gierig den alten Vater bestehlen,
sieht alle Niedertracht der Gesellschaft, gelöst in eine Tragödie.
Und da, wie er endlich dem Sarge des allzu Gütigen
folgt, allein mit einem Hausknecht und einer Magd, wie
er in zorniger Stunde Paris schmutziggelb und trüb wie
ein böses Geschwür von den Höhen des Père Lachaise zu
seinen Füßen sieht, da weiß er alle Weisheit des Lebens.
In diesem Momente hört er die Stimme Vautrins, des
Sträflings, in seinem Ohr aufklingen, seine Lehre, daß
man Menschen wie Postpferde behandeln müsse, sie vor
seinem Wagen hetzen und dann krepieren lassen am Ziel,
in dieser Sekunde wird er der Baron Rastignac der anderen
Bücher, der rücksichtslose, unerbittliche Streber, der Pair
von Paris. Und diese Sekunde am Kreuzweg des Lebens
erleben alle Helden Balzacs. Sie alle werden Soldaten im
Kriege aller gegen alle, jeder stürmt vorwärts, über die
Leiche des einen geht der Weg des andern. Daß jeder
seinen Rubikon, sein Waterloo hat, daß die gleichen
Schlachten sich in Palästen, Hütten und Tavernen liefern,
zeigt Balzac, und daß unter den abgerissenen Kleidern
Priester, Ärzte, Soldaten, Advokaten die gleichen Triebe
entäußern, das weiß sein Vautrin, der Anarchist, der die
Rollen aller spielt und in zehn Verkleidungen in den
Büchern Balzacs auftritt, immer aber derselbe und bewußt
derselbe. Unter der nivellierten Oberfläche des modernen
Lebens wühlen die Kämpfe unterirdisch weiter. Denn der
äußeren Egalisierung wirkt der innere Ehrgeiz entgegen.
Da keinem ein Platz reserviert ist wie einst dem König,
dem Adel, den Priestern, da jeder ein Anrecht auf alle hat,
so verzehnfacht sich ihre Anspannung. Die Verkleinerung
der Möglichkeiten äußert sich im Leben als Verdoppelung
der Energie.
Gerade dieser mörderische und selbstmörderische Kampf
der Energien ist es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte
Energie als Ausdruck des bewußten Lebenswillens
nicht in ihrer Wirkung, sondern in ihrem Wesen zu schildern,
ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig
oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig,
sobald sie nur intensiv wird. Intensität, Wille ist alles,
weil dies dem Menschen gehört, Erfolg und Ruhm nichts,
denn ihn bestimmt der Zufall. Der kleine Dieb, der ängstliche,
der ein Brot vom Bäckerladentisch in den Ärmel
verschwinden läßt, ist langweilig, der große Dieb, der professionelle,
der nicht nur um des Nutzens, sondern um der
Leidenschaft willen raubt, dessen ganze Existenz sich auflöst
in den Begriff des Ansichreißens, ist grandios. Die
Effekte, die Tatsachen zu messen, bleibt Aufgabe der
Geschichtschreibung, die Ursachen, die Intensitäten freizulegen,
scheint für Balzac die des Dichters. Denn tragisch ist
nur die Kraft, die nicht zum Ziel gelangt. Balzac schildert
die héros oubliés, für ihn gibt es in jeder Epoche nicht nur
einen Napoleon, nicht nur den der Historiker, der die Welt
erobert hat von 1796 bis 1815, sondern er kennt vier oder
fünf. Der eine ist vielleicht bei Marengo gefallen und hat
Desaix geheißen, der zweite mag vom wirklichen Napoleon
nach Ägypten gesandt worden sein, fernab von den großen
Ereignissen, der dritte hat vielleicht die ungeheuerste Tragödie
erlitten: er war Napoleon und ist nie an ein Schlachtfeld
gelangt, hat in irgendeinem Provinznest einsickern
müssen, statt Wildbach zu werden, aber er hat nicht minder
Energie verausgabt, wenn auch an kleinere Dinge. So
nennt er Frauen, die durch ihre Hingebung und ihre Schönheit
berühmt geworden wären unter den Sonnenköniginnen,
deren Namen geklungen hätten wie der der Pompadour
oder der Diane de Poitiers, er spricht von den Dichtern,
die an der Ungunst des Augenblicks zugrunde gehen, an
deren Namen der Ruhm vorbeigeglitten ist und denen der
Dichter erst den Ruhm wieder schenken muß. Er weiß,
daß jede Sekunde des Lebens eine ungeheure Fülle von
Energie unwirksam verschwendet. Ihm ist bewußt, daß
die Eugenie Grandet, das sentimentale Provinzmädel, in
dem Augenblicke, wo sie, erzitternd vor dem geizigen Vater,
ihrem Vetter die Geldbörse schenkt, nicht minder tapfer
ist als die Jeanne d'Arc, deren Marmorbild auf jedem
Marktplatze Frankreichs leuchtet. Erfolge können den
Biographen unzähliger Karrieren nicht blenden, den nicht
täuschen, der alle Schminken und Mixturen des sozialen
Auftriebs chemisch zersetzt hat. Balzacs unbestechliches
Auge, einzig nach Energie ausspähend, sieht aus dem Gewühl
der Tatsachen immer nur die lebendige Anspannung,
greift in jenem Gedränge an der Beresina, wo das zersprengte
Heer Napoleons über die Brücke strebt, wo Verzweiflung
und Niedertracht und Heldentum hundertfach geschilderter
Szenen zu einer Sekunde zusammengedrängt sind, die
wahren, die größten Helden heraus: die vierzig Pioniere,
deren Namen niemand kennt, die drei Tage bis zur Brust
im eiskalten, schollentreibenden Wasser gestanden hatten,
um jene schwanke Brücke zu bauen, auf der die Hälfte der
Armee entkam. Er weiß, daß hinter den verhängten Scheiben
von Paris in jeder Sekunde Tragödien geschehen, die
nicht geringer sind als der Tod der Julia, das Ende Wallensteins
und die Verzweiflung Lears, und immer wieder hat
er das eine Wort stolz wiederholt: „Meine bürgerlichen
Romane sind tragischer als eure tragischen Trauerspiele.“
Denn seine Romantik greift nach innen. Sein Vautrin, der
Bürgerkleidung trägt, ist nicht minder grandios als der
schellenumhangene Glöckner von Notre-Dame, der Quasimodo
des Viktor Hugo, die starren felsigen Landschaften
der Seele, das Gestrüpp von Leidenschaft und Gier in der
Brust seiner großen Streber ist nicht minder schreckhaft,
als die schaurige Felsenhöhle des Han d'Islande. Balzac
sucht das Grandiose nicht in der Draperie, nicht im Fernblick
auf das Historische oder Exotische, sondern im Überdimensionalen,
in der gesteigerten Intensität eines in seiner
Geschlossenheit einzig werdenden Gefühls. Er weiß, daß
jedes Gefühl erst bedeutsam wird, wenn es in seiner Kraft
ungebrochen bleibt, jeder Mensch nur groß, wenn er sich
konzentriert in ein Ziel, sich nicht verschleudert, in einzelne
Begierden zersplittert, wenn seine Leidenschaft die allen
anderen Gefühlen zugedachten Säfte in sich auftrinkt, durch
Raub und Unnatur stark wird, so wie ein Ast mit doppelter
Wucht erst aufblüht, wenn der Gärtner die Zwillingsäste
gefällt oder gedrosselt hat. Solche Monomanen
der Leidenschaft hat er geschildert, die in einem einzigen
Symbol die Welt begreifen, einen Sinn sich statuierend
in dem unentwirrbaren Reigen. Eine Art Mechanik der
Leidenschaften ist das Grundaxiom seiner Energetik: der
Glaube, daß jedes Leben eine gleiche Summe von Kraft
verausgabe, gleichviel, an welche Illusionen es diese Willensbegehrungen
verschwende, gleichviel, ob es sie langsam
verzettle in tausend Erregungen, oder sparsam aufbewahre
für die jähen heftigen Ekstasen, ob in Verbrennung oder
Explosion das Lebensfeuer sich verzehre. Wer rascher
lebt, lebt nicht kürzer, wer einheitlich lebt, nicht minder
vielfältig. Für ein Werk, das nur Typen schildern will,
die reinen Elemente auflösen, sind solche Monomanen
allein wichtig. Flaue Menschen interessieren Balzac nicht,
nur solche, die etwas ganz sind, die mit allen Nerven, mit
allen Muskeln, mit allen Gedanken an einer Illusion des
Lebens hängen, sei es, an was immer auch, an der Liebe,
der Kunst, dem Geiz, der Hingebung, der Tapferkeit, der
Trägheit, der Politik, der Freundschaft. An irgendeinem
beliebigen Symbol, aber an diesem ganz. Diese hommes
à passion, diese Fanatiker einer selbstgeschaffenen Religion,
sehen nicht nach rechts, nicht nach links. Sie sprechen
verschiedene Sprachen untereinander und verstehen sich
nicht. Biete dem Sammler eine Frau, die schönste der
Welt – er wird sie nicht bemerken; dem Liebenden eine
Karriere – er wird sie mißachten; dem Geizigen ein anderes
als Geld – er wird nicht aufschauen von seiner Truhe.
Läßt er sich aber verlocken, verläßt er die eine geliebte
Leidenschaft um der anderen willen, so ist er verloren.
Denn Muskeln, die man nicht gebraucht, zerfallen, Sehnen,
die man jahrelang nicht gespannt, verknöchern, und wer
zeitlebens Virtuose einer einzigen Leidenschaft war, Athlet
eines einzigen Gefühls, ist Stümper und Schwächling auf
jedem anderen Gebiet. Jedes zur Monomanie aufgepeitschte
Gefühl vergewaltigt die anderen, gräbt ihnen das Wasser
ab und läßt sie vertrocknen: aber ihre Reizwerte saugt es
in sich. Alle Graduationen und Peripetien der Liebe, Eifersucht
und Trauer, Erschöpfung und Ekstase, sind bei dem
Geizigen in der Sparsucht, beim Sammler in der Sammelwut
gespiegelt, denn jede absolute Vollkommenheit vereinigt
die Summe der Gefühlsmöglichkeiten. Die Intensität
der Einseitigkeit hat in ihren Emotionen die ganze
Vielfalt der vernachlässigten Begehrungen. Hier setzen
die großen Tragödien Balzacs ein. Der Geldmensch Nucingen,
der Millionen gesammelt hat, an Klugheit überlegen
allen Bankiers des Kaiserreichs, wird ein läppisches
Kind in den Händen einer Dirne, der Dichter, der sich
dem Journalismus hinwirft, wird zerrieben wie ein Korn
unter dem Mühlstein. Ein Traumbild der Welt, ein jedes
Symbol ist eifersüchtig wie Jehova und duldet keine anderen
Leidenschaften neben sich. Und von diesen Leidenschaften
ist keine größer und keine geringer, sie haben
ebensowenig eine Rangordnung wie Landschaften oder
Träume. Keine ist zu gering. „Warum sollte man nicht
die Tragödie der Dummheit schreiben?“ sagt Balzac, „die
der Verschämtheit, die der Ängstlichkeit, die der Langeweile?“
Auch sie sind bewegende, treibende Kräfte, auch
sie bedeutsam, insofern sie nur genugsam intensiv sind,
selbst die ärmlichste Lebenslinie hat Schwung und Schönheitsgewalt,
sobald sie ungebrochen gerade fortstrebt oder
ihr Schicksal ganz umkreist. Und diese Urkräfte – oder
besser, diese tausend Proteusformen der wirklichen Urkraft
aus der Brust der Menschen zu reißen, sie zu heizen
durch den Druck der Atmosphäre, sie peitschen zu lassen
durch das Gefühl, sie zu berauschen an den Elixieren des
Hasses und der Liebe, sie rasen zu lassen im Rausche, am
Prellstein des Zufalls die einen zu zerschmettern, sie zusammenzupressen
und auseinanderzureißen, Verbindungen
herzustellen, Brücken zu schlagen zwischen den Träumen,
zwischen dem Geizigen und dem Sammler, dem Ehrsüchtigen
und dem Erotiker, rastlos das Parallelogramm der
Kräfte zu verschieben, in jedem Schicksal den drohenden
Abgrund von Wellenberg und Wellental aufzureißen, sie
zu schleudern von unten nach oben und von oben nach
unten und dabei in dieses flackernde Spiel mit erhitzten
Augen zu starren, wie Gobsec, der Wucherer, auf die
Diamanten der Gräfin Restaud, das erlöschende Feuer mit
dem Balg immer wieder aufflammen zu lassen, die Menschen
wie Sklaven zu hetzen, nie sie ruhen zu lassen, sie zu
schleppen wie Napoleon seine Soldaten durch alle Länder
von Österreich wieder in die Vendée, über das Meer wieder
nach Ägypten und nach Rom, durch das Brandenburger
Tor und wieder vor den Abhang der Alhambra, über Sieg
und Niederlage nach Moskau schließlich – die Hälfte unterwegs
liegen zu lassen, zerschmettert von den Granaten
oder unter dem Schnee der Steppen – die ganze Welt zuerst
zu schnitzen wie Figuren, zu malen wie eine Landschaft
und dann das Puppenspiel mit erregten Fingern zu
beherrschen – das war seine, das war Balzacs Monomanie.
Denn er, Balzac, war selbst einer der großen Monomanen,
wie er sie in seinem Werke verewigt hat. Enttäuscht,
in allen seinen Träumen zurückgestoßen von einer rücksichtslosen
Welt, die den Anfänger nicht mag und den
Armen, grub er sich ein in seine Stille und schuf sich selbst
ein Symbol der Welt. Eine Welt, die ihm gehörte, die er
beherrschte und die mit ihm zugrunde ging. Wirkliches
stürzte an ihm vorbei, und er griff nicht danach, er lebte
eingeschlossen in seinem Zimmer, festgenagelt an den
Schreibtisch, lebte in dem Wald seiner Gestalten, wie Elie
Magus, der Sammler, zwischen seinen Bildern. Von seinem
fünfundzwanzigsten Jahre an hat ihn die Wirklichkeit
kaum – nur in Ausnahmen, die dann immer zu Tragödien
wurden – anders interessiert als ein Material, als Brennstoff,
um das Schwungrad seiner eigenen Welt zu treiben.
Fast bewußt lebte er am Lebendigen vorbei, wie im ängstlichen
Gefühle, daß eine Berührung dieser beiden Welten,
der seinen und der der anderen, immer eine schmerzhafte
werden müßte. Abends um acht Uhr ging er ermattet zu
Bette, schlief vier Stunden und ließ sich um Mitternacht
wecken; wenn Paris, die laute Umwelt, ihr glühendes
Auge schloß, wenn Dunkel über das Rauschen der Gassen
fiel, die Welt entschwand, begann die seine zu erstehen, und
er baute sie auf, neben der anderen, aus ihren eigenen zerstückten
Elementen, lebte durch Stunden einer fiebernden
Ekstase, unablässig die ermattenden Sinne mit schwarzem
Kaffee wieder aufpeitschend. So arbeitete er zehn, zwölf,
manchmal auch achtzehn Stunden, bis ihn irgend etwas
aufriß aus dieser Welt, zurück in die eigene Wirklichkeit.
In diesen Sekunden des Erwachens muß er jenen Blick
gehabt haben, den Rodin ihm gab auf seiner Statue, dieses
Aufgeschrecktsein aus tausend Himmeln und dieses Rückstürzen
in eine vergessene Wirklichkeit, diesen entsetzlich
grandiosen, fast schreienden Blick, diese um die fröstelnde
Schulter das Kleid anstraffende Hand, die Gebärde eines
vom Schlaf Gerüttelten, eines Somnambulen, dem jemand
roh seinen Namen zugeschrien. Bei keinem Dichter ist
die Intensität des Sichverlierens in sein Werk, der Glaube
an die eigenen Träume stärker gewesen, die Halluzination
so nahe der Grenze der Selbsttäuschung. Nicht immer
wußte er die Erregung zu stoppen wie eine Maschine, das
ungeheure kreisende Schwungrad jäh aufzuhalten, Spiegelschein
und Wirklichkeit zu unterscheiden, eine scharfe
Linie zu ziehen zwischen dieser und jener Welt. Ein
ganzes Buch hat man gefüllt mit Anekdoten, wie sehr er
im Rausch der Arbeit an die Existenz seiner Gestalten
glaubte, ein Buch mit oft drolligen und meist ein wenig
grausigen Anekdoten. Ein Freund tritt ins Zimmer.
Balzac stürzt ihm entsetzt entgegen: „Denk dir, die Unglückliche
hat sich ermordet!“ und merkt erst an dem entsetzten
Zurückprallen seines Freundes, daß die Gestalt,
von der er sprach, die Eugenie Grandet, nur in seinen
Sternenkreisen je gelebt. Und was diese so andauernde,
so intensive, so vollständige Halluzination von dem pathologischen
Wahn eines Tollhäuslers unterscheidet, ist vielleicht
nur die Identität der in dem äußeren Leben und in
dieser neuen Wirklichkeit bestehenden Gesetze, die gleichen
Kausalbedingungen des Seins, nicht die Lebensform so sehr
als die Lebensmöglichkeit seiner Menschen, die, als hätten
sie nur die Tür seines Arbeitszimmers überschritten, von
außen in sein Werk traten. Aber an Dauerhaftigkeit, an
Zähigkeit und Abgeschlossenheit des Wahnes war diese
Versenkung die eines perfekten Monomanen, seine Arbeit
war nicht Fleiß mehr, sondern Fieber, Rausch, Traum
und Ekstase. Ein Palliativmittel der Bezauberung war sie,
ein Schlafmittel, das ihn seinen Lebenshunger vergessen
lassen sollte. Er selbst, zum Genießer, zum Verschwender
befähigt wie keiner, hat zugestanden, daß diese fieberhafte
Arbeit ihm nichts war als ein Mittel zum Genuß. Denn
ein so zügellos Begehrender konnte, wie die Monomanen
seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten,
weil er sie ersetzte. All die Aufpeitschungen des Lebensgefühls,
Liebe, Ehrsucht, Spiel, Reichtum, Reisen, Ruhm
und Siege konnte er missen, weil er siebenfaches Surrogat
in seinem Schaffen fand. Die Sinne sind töricht wie Kinder.
Sie können das Echte vom Falschen, Trug von der Wirklichkeit
nicht unterscheiden. Sie wollen nur gefüttert sein,
gleichviel mit Erlebnis oder Traum. Und Balzac hat seine
Sinne ein Leben lang betrogen, indem er ihnen Genüsse
vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte ihren Hunger
mit dem Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte.
Sein Erlebnis war das leidenschaftliche Beteiligtsein an den
Genüssen seiner Kreaturen. Denn er war es ja, der jetzt
die zehn Louis hinwarf auf den Spieltisch, zitternd stand,
während die Roulette sich drehte, der jetzt die klingende
Flut der Gewinste mit heißen Fingern einstrich, er war
es, der jetzt im Theater den großen Sieg erfocht, der jetzt
mit Brigaden die Höhen stürmte, mit Pulverminen die
Börse in ihren Grundfesten erbeben ließ; alle die Lüste
seiner Kreaturen gehörten ja ihm, sie waren die Ekstasen,
in denen sein äußerlich so armes Leben sich verzehrte.
Er spielte mit diesen Menschen so wie Gobsec, der Wucherer,
mit den Gequälten, die hoffnungslos zu ihm kamen,
um sich Geld auszuborgen, die er aufschnellen ließ an seiner
Angel, deren Schmerz, Lust und Qual er nur prüfend mitansah
als das mehr oder minder talentvolle Sichgebärden
von Schauspielern. Und sein Herz spricht unter dem
schmutzigen Kittel Gobsecs: „Glauben Sie, daß es nichts
bedeutet, wenn man so in die verborgensten Falten des
menschlichen Herzens eindringt, wenn man so tief darin
eindringt und es in seiner Nacktheit vor sich hat?“ Denn
er, der Zauberer des Willens, schmolz Fremdes zu Eigenem
um, Traum zu Leben. Man erzählt von ihm, daß er in
seiner Jugend, als er in seiner Mansarde trockenes Brot,
seine ärmliche Mahlzeit, verzehrte, sich auf den Tisch mit
Kreide die Randspur von Tellern gezeichnet habe und in
ihre Mitte die Namen der erlesensten Lieblingsgerichte
geschrieben, um so im trockenen Brot nur durch die Suggestion
des Willens den Geschmack der verschwenderischesten
Speisen zu spüren. Und so wie er hier den
Geschmack zu schmecken meinte, wie er ihn wirklich
schmeckte, so hat er sicherlich alle Reize des Lebens in den
Elixieren seiner Bücher unbändig in sich getrunken, so eigene
Armut betrogen mit dem Reichtum und der Verschwendung
seiner Knechte. Er, der ewig von Schulden Gehetzte,
von Gläubigern Gequälte, empfand sicherlich einen geradezu
sinnlichen Reiz, wenn er hinschrieb: Hunderttausend
Francs Rente. Er war es, der in den Bildern von Elie Magus
wühlte, der diese beiden Gräfinnen liebte als ihr Vater
Goriot, der gipfelhoch mit Seraphitus über die niegesehenen
Fjorde Norwegens aufstieg, der mit Rubempré die bewundernden
Blicke der Frauen genoß, er, er selbst war es,
für den er aus all diesen Menschen die Lust wie Lava aufschießen
ließ, denen er Glück und Schmerz aus den hellen
und dunklen Kräutern der Erde braute. Kein Dichter
war je mehr Mitgenießer seiner Gestalten. Gerade an
jenen Stellen, wo er den Zauber des so sehr ersehnten
Reichtums schildert, spürt man stärker als in den erotischen
Abenteuern den Rausch des Selbstbezauberten, die Haschischträume
des Einsamen. Das ist seine innerste Leidenschaft,
dieses Auf- und Abströmen von Zahlen, dieses
gierige Gewinnen und Zerrinnen von Summen, dieses
Schleudern von Kapitalien von Hand zu Hand, das Schwellen
der Bilanzen, der Wettersturz der Werte, diese Stürze
und Aufstiege ins Grenzenlose. Millionen läßt er wie
Ungewitter über Bettler hereinbrechen, Kapitale wieder
in weichen Händen wie Quecksilber zerrinnen, mit Wollust
malt er die Paläste der Faubourgs, die Magie des Geldes.
Die Worte Millionen, Milliarden, das ist immer hingestammelt
mit jenem ohnmächtigen Nicht-mehr-sprechen-können,
dem Röcheln letzten sinnlichen Begehrens. Voluptuös
wie die Frauen eines Serails sind die Prunkstücke
der Gemächer gereiht, wie wertvolle Kronjuwelen die
Insignien der Macht ausgebreitet. Bis in seine Manuskripte
hat sich dieses Fieber eingebrannt. Man kann sehen, wie
die anfangs ruhigen und zierlichen Zeilen aufschwellen
gleich den Adern eines Zornigen, wie sie taumeln, rascher
werden, wie sie rasend sich überhetzen, befleckt von den
Spuren des Kaffees, mit dem er die ermatteten Nerven vorwärtspeitschte,
hört fast das rastlose, ratternde Keuchen
der überhitzten Maschine, den fanatischen, maniakalischen
Krampf ihres Schöpfers, diese Gier des Don Juan du verbe,
des Menschen, der alles besitzen will und alles haben. Und
sieht den nochmaligen impetuosen Ausbruch des ewig
Ungenügsamen in den Korrekturbogen, deren starres Gefüge
er immer wieder aufriß wie der Fiebernde seine Wunde,
um noch einmal das rote pochende Blut der Zeilen durch
den schon starren, erkalteten Körper zu jagen.
Solche titanische Arbeit bliebe unverständlich, wäre sie
nicht Wollust gewesen und noch mehr: der einzige Lebenswille
eines asketisch allen anderen Machtformen entsagenden
Menschen, eines Leidenschaftlichen, dem die Kunst
die einzige Möglichkeit der Entäußerung war. Einmal,
zweimal hatte er ja flüchtig in anderem Material geträumt.
Er hatte sich im praktischen Leben versucht, zum erstenmal,
als er, verzweifelnd am Schaffen, die wirkliche Geldgewalt
wollte, Spekulant wurde, eine Druckerei gründete
und eine Zeitung; aber mit jener Ironie, die das Schicksal
immer für Abtrünnige bereit hat, hat er, der in seinen
Büchern alles kannte, die Coups der Börsenleute, die Raffinements
der kleinen und der großen Geschäfte, die
Schliche der Wucherer, der jedem Ding seinen Wert wußte,
der Hunderten von Menschen in seinen Werken die Existenz
errichtet, ein Vermögen mit richtigem, logischem
Aufbau gewonnen hatte, er selbst, der Grandet, Popinot,
Crevel, Goriot, Bridau, Nucingen, Wehrbrust und Gobsec
reich gemacht hat, er selbst hat sein Kapital verloren, ist
schmählich zugrunde gegangen, und nichts blieb ihm als
jenes furchtbare Bleigewicht von Schulden, die er dann
stöhnend auf seinen breiten Lastträgerschultern das halbe
Jahrhundert seines Lebens weiterschleppte, Helote der unerhörtesten
Arbeit, unter der er eines Tages mit zersprengten
Adern lautlos zusammenbrach. Die Eifersucht der verlassenen
Leidenschaft, der einzigen, der er sich hingegeben
hatte, der Kunst, hat sich furchtbar an ihm gerächt. Selbst
die Liebe, den andern ein wunderbarer Traum über ein
Erlebtes und Wirkliches, wurde bei ihm erst Erlebnis aus
einem Traum. Frau von Hanska, seine spätere Gattin,
die étrangère, der jene berühmten Briefe galten, war von
ihm leidenschaftlich schon geliebt, ehe er in ihre Augen
gesehen, war damals schon geliebt von ihm, als sie noch
Unwirklichkeit war, wie die fille aux yeux d'or, wie die
Delphine und die Eugenie Grandet. Für den wahrhaften
Schriftsteller ist jede andere Leidenschaft als die des Schaffens,
des Erträumens eine Abirrung. „L'homme des lettres
doit s'abstenir des femmes, elles font perdre son temps, on
doit se borner à leur écrire, cela forme le style“, sagte er
zu Theophile Gautier. Im Innersten liebte er auch nicht
Frau von Hanska, sondern die Liebe zu ihr, liebte nicht
die Situationen, die ihm begegneten, sondern die er sich
erschuf, er fütterte den Hunger nach Wirklichkeit so lange
mit Illusionen, spielte so lange in Bildern und Kostümen,
bis er, wie die Schauspieler in den erregtesten Momenten,
selbst an seine Leidenschaft glaubte. Unermüdlich hat er
dieser Leidenschaft des Schaffens gefrönt, den inneren Verbrennungsprozeß
so lange beschleunigt, bis die Flamme
aufschlug und nach außen brach, bis er zugrunde ging.
Mit jedem neuen Buch schrumpfte, wie die magische
Elentiershaut seiner mystischen Novelle, bei jedem so betätigten
Wunsch sein Leben zusammen, und er unterlag
seiner Monomanie wie der Spieler den Karten, der Trinker
den Weinen, der Haschischträumer der verhängnisvollen
Pfeife und der Wollüstling den Frauen. Er ging an der
überreichen Erfüllung seiner Wünsche zugrunde.
Es ist ein nur Selbstverständliches, daß ein dermaßen
kolossalischer Wille, der Träume so mit Blut und Lebendigkeit
erfüllte, der sie so anspannte, bis ihre Erregungen
nicht minder stark waren wie die Phänomene der Wirklichkeit,
daß ein solch ungeheuer zauberkräftiger Wille in
seiner eigenen Magie das Geheimnis des Lebens sah und
sich selbst zum Weltgesetz erhob. Eine eigentliche Philosophie
konnte der nicht haben, der nichts von sich verriet,
vielleicht nichts mehr war als ein Wandelhaftes, der keine
Gestalt hatte wie Proteus, weil er alle in sich verkörperte,
der wie ein Derwisch, ein flüchtiger Geist, in die Körper
von tausend Gestalten unterschlüpfte und sich verlor in
den Irrgängen ihres Lebens, jetzt mit dem einen Optimist,
jetzt Altruist, jetzt Pessimist und Relativist, der alle Meinungen
und Werte in sich ein- und ausschalten konnte
wie elektrische Ströme. Er gibt keinem unrecht und gibt
keinem recht. Balzac hat immer nur épousé les opinions
des autres – wir haben kein deutsches Wort für dieses
spontane Aufnehmen einer Meinung ohne dauernde Identifizierung
–, er war eingefangen im Augenblick, in der
Brusthöhle seiner Menschen, trieb mit im Schwall ihrer
Leidenschaften und Laster. Wahrhaft und unabänderlich
mußte ihm nur der ungeheure Wille sein, dieses Zauberwort
Sesam, das ihm, dem Fremden, die Felsen vor der
unbekannten Menschenbrust aufsprengte, ihn hinabführte
in die finsteren Abgründe ihres Gefühls und ihn von dort,
beladen mit dem Edelsten ihres Erlebens, wieder aufsteigen
ließ. Er mußte mehr als ein anderer geneigt sein, dem
Willen eine über das Geistige ins Materielle hinüberwirkende
Gewalt zuzuschreiben, ihn als Lebensprinzip und
Weltgebot zu empfinden. Ihm war bewußt, daß der Wille,
dieses Fluidum, das, ausstrahlend von einem Napoleon, die
Welt erschütterte, das Reiche stürzte, Fürsten erhob, Millionen
Schicksale verwirrte, daß diese immaterielle Schwingung,
dieser reine atmosphärische Druck eines Geistigen
nach außen sich auch im Materiellen manifestieren müßte,
die Physiognomie modellieren, einströmen in die Physis
des ganzen Körpers. Denn so wie eine momentane Erregung
bei jedem Menschen den Ausdruck fördert, brutale
und selbst stumpfsinnige Züge verschönt und charakterisiert,
um wie viel mehr mußte ein andauernder Wille, eine
chronische Leidenschaft das Material der Züge herausmeißeln.
Ein Gesicht war für Balzac ein versteinerter
Lebenswille, eine in Erz gegossene Charakteristik, und so
wie der Archäologe aus den versteinerten Resten eine ganze
Kultur zu erkennen hat, so schien es ihm Erfordernis des
Dichters, aus einem Antlitz und aus der um einen Menschen
lagernden Atmosphäre seine innere Kultur zu erkennen.
Diese Physiognomik ließ ihn die Lehre Galls
lieben, seine Topographie der im Gehirn gelagerten Fähigkeiten,
ließ ihn Lavater studieren, der ebenfalls im Gesichte
nichts anderes sah als den Fleisch und Bein gewordenen
Lebenswillen, den nach außen gestülpten Charakter.
Alles, was diese Magie, die geheimnisvolle Wechselwirkung
des Innerlichen und Äußerlichen betonte, war ihm erwünscht.
Er glaubte an Mesmers Lehre der magnetischen
Übertragung des Willens von einem Medium in das
andere, glaubte daran, daß die Finger Feuernetze seien,
die den Willen ausstrahlten, verkettete diese Anschauung
mit den mystischen Vergeistigungen Svedenborgs, und all
diese nicht ganz zur Theorie verdichteten Liebhabereien
faßte er in der Lehre seines Lieblings, des Louis Lambert,
zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen Gestalt
eines früh Verstorbenen, die Selbstporträt und Sehnsucht
nach innerer Vollendung sonderbar vereint, öfter
als jede andere Figur Balzacs in sein eigenes Leben hinabgreift.
Ihm war jedes Gesicht eine zu enträtselnde Scharade.
Er behauptete, in jedem Antlitz eine Tierphysiognomie
zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen
Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden
auf der Straße die Profession von seinem
Antlitz, seinen Bewegungen, seiner Kleidung ablesen zu
können. Diese intuitive Erkenntnis schien ihm aber noch
nicht die höchste Magie des Blicks. Denn all dies umschloß
nur das Seiende, das Gegenwärtige. Und seine tiefste
Sehnsucht war, zu sein wie jene, die mit konzentrierten
Kräften nicht nur das Momentane, sondern auch aus den
Spuren das Vergangene, das Zukünftige aus den vorgestreckten
Wurzeln aufspüren können, Bruder zu sein der
Chiromanten, der Wahrsager, der Steller von Horoskopen,
der „voyants“, all derer, die mit dem tieferen Blick der
„seconde vue“ begabt, das Innerlichste aus dem Äußerlichen,
das Unbegrenzte aus den bestimmten Linien zu
erkennen sich erboten, die aus den dünnen Streifen der
Handfläche den kurzen Weg des zurückgelegten Lebens
und den dunklen Pfad in das Zukünftige hinein weiterzuführen
vermochten. Ein solcher magischer Blick ist
nach Balzac nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht
in tausend Richtungen zersplittert hat, sondern – die Idee
der Konzentrierung ist bei Balzac in ewiger Wiederkehr –
in sich aufgespart einem einzigen Ziele entgegenwendet.
Die Gabe der „seconde vue“ ist nicht nur die des Zauberers
und Sehers allein; „seconde vue“, spontane visionäre
Erkenntnis, dies unbezweifelbare Merkmal des Genies,
haben die Mütter gegenüber ihren Kindern, Desplein hat
sie, der Arzt, der aus der verworrenen Qual eines Kranken
sofort die Ursache seines Leidens und die vermutliche
Grenze seiner Lebensdauer bestimmt, der geniale Feldherr
Napoleon, der die Stelle sofort erkennt, wo er die
Brigaden hinschleudern muß, um das Schicksal der Schlacht
zu entscheiden; Marsay, der Verführer, besitzt sie, der die
flüchtige Sekunde aufgreift, in der er eine Frau zu Fall
bringen kann, Nucingen, der Börsenspieler, der den großen
Börsencoup im richtigen Momente zur Explosion
bringt; alle diese Astrologen des Himmels der Seele haben
ihre Wissenschaft dank des nach innen dringenden Blicks,
der wie durch ein Perspektiv Horizonte sieht, wo das
unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos unterscheidet.
Hierin schlummert die Affinität zwischen der Vision des
Dichters und der Deduktion des Gelehrten, dem rapiden,
spontanen Begreifen und dem langsamen, logischen Erkennen.
Balzac, dem sein eigener intuitiver Überblick selbst
unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast irrem
Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches,
war gezwungen zu einer Philosophie des Inkommensurablen,
einer Mystik, der der landläufige Katholizismus
eines de Maistre nicht mehr genügte. Und dieses Korn
Magie, das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese
Unbegreiflichkeit, die seine Kunst nicht nur Chemie des
Lebens sein läßt, sondern Alchimie, ist sein Grenzwert
gegen die Späteren, gegen die Nachahmer, gegen Zola besonders,
der Stein um Stein zusammenraffte, wo Balzac
nur den Zauberring drehte, und schon ein Palast mit
tausend Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die Energie
seines Werkes ist, der erste Eindruck bleibt doch immer der
von Zauberei und nicht von Arbeit, nicht der eines Ausborgens
vom Leben, sondern eines Beschenkens und Bereicherns.
Denn Balzac – und dies schwebt wie eine undurchdringliche
Wolke von Geheimnis um seine Gestalt – hat
in den Jahren seines Schaffens nicht mehr studiert und
experimentiert, nicht mehr das Leben beobachtet wie etwa
Zola, der sich, ehe er einen Roman schrieb, ein Bordereau
für jede einzelne Figur anlegte, nicht wie Flaubert, der
Bibliotheken durchstöberte für ein fingerschmales Buch.
Balzac kam selten wieder zurück in jene Welt, die außer
der seinen lag, er war eingeschlossen in seine Halluzination
wie in ein Gefängnis, angenagelt an den Marterstuhl der
Arbeit, und was er mitbrachte, wenn er einen jener flüchtigen
Ausflüge in die Wirklichkeit unternahm, wenn er
ging, mit seinem Verleger zu kämpfen oder die Korrekturbogen
in eine Druckerei zu bringen, bei einem Freunde
zu speisen, oder die Bric-à-brac-Läden von Paris zu durchstöbern,
war immer eher Bestätigung als Informierung.
Denn damals, als er zu schreiben begann, war schon auf
irgendeine geheimnisvolle Weise das Wissen des ganzen
Lebens in ihn eingedrungen, lag gesammelt und aufgespeichert,
und es ist vielleicht mit der fast mythischen Erscheinung
Shakespeares das größte Rätsel der Weltliteratur,
wie, wann und woher all diese ungeheuerlichen, aus allen
Berufsklassen, Materien, Temperamenten und Phänomenen
herbeigeholten Vorräte von Kenntnissen in ihn
eingewachsen sind. Drei, vier Jahre, Jünglingsjahre, war
er in Berufen gestanden, bei einem Advokaten als Schreiber,
dann als Verleger, als Student, aber in diesen paar
Jahren muß er alles eingeschöpft haben, diese ganz unerklärliche,
unübersehbare Fülle von Tatsachen, die Kenntnis
aller Charaktere und Phänomene. Er muß unglaublich
beobachtet haben in diesen Jahren. Sein Blick muß ein
furchtbar saugender gewesen sein, ein gieriger, der alles,
was ihm begegnete, vampirhaft nach innen riß, in ein
Inneres, ein Gedächtnis, wo nichts vergilbte, nichts zerrann,
nichts sich mischte oder verdarb, wo alles geordnet,
gespart, getürmt lag, immer bereit und stets nach seiner
wesentlichen Seite hin gekehrt, alles federnd und aufspringend,
sobald er nur leise mit seinem Willen und Wunsche
daran rührte. Alles hat Balzac gewußt, die Prozesse, die
Schlachten, die Börsenmanöver, die Grundstückspekulationen,
die Geheimnisse der Chemie, die Schliche der Parfumeure,
die Kunstgriffe der Künstler, die Diskussionen der
Theologen, den Betrieb der Zeitung, den Trug des Theaters
und jener anderen Bühne, der Politik. Er hat die Provinz
gekannt, Paris und die Welt, er, der connaisseur en
flânerie, las wie in einem Buch in den krausen Zügen der
Straßen, wußte bei jedem Hause, wann es gebaut war und
von wem und für wen, enträtselte die Heraldik des Wappens
über der Tür, eine ganze Epoche aus der Bauart und wußte
gleichzeitig den Preis der Mieten, bevölkerte jedes Stockwerk
mit Menschen, stellte Möbel in die Zimmer, füllte
sie an mit einer Atmosphäre von Glück und Unglück und
ließ vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten
Stockwerk das unsichtbare Netz des Schicksals sich spinnen.
Er hat eine enzyklopädische Kenntnis gehabt, wußte, wieviel
ein Bild des Palma Vecchio wert ist, wieviel ein Hektar
Weideland kostet, was eine Spitzenmasche, was ein
Tilbury und ein Diener, er hat das Leben der Elegants
gekannt, die, zwischen Schulden vegetierend, in einem
Jahr zwanzigtausend Francs anbringen; und schlägt man
zwei Seiten weiter, so ist es wieder die Existenz eines armseligen
Rentiers, in dessen peinlich ausgetüfteltem Leben
ein zerrissener Schirm, eine zerbrochene Fensterscheibe
zur Katastrophe wird. Wieder ein paar Seiten, und nun ist
er unter den ganz Armen, er geht ihnen nach, wie jeder
seine paar Sous verdient, der arme Auvergnate, der Wasserträger,
dessen Sehnsucht es ist, das Faß nicht selbst ziehen
zu müssen, sondern ein kleines, kleines Pferd zu haben,
der Student und die Näherin, alle diese fast vegetabilischen
Existenzen der Großstadt.
Tausend Landschaften stehen auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen, und alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als anderen nach den Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was er einmal flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und – merkwürdiges Paradoxon des Künstlers – er hat selbst das gewußt, was er gar nicht kannte, er hat die Fjorde Norwegens und die Wälle von Saragossa aus seinen Träumen wachsen lassen, und sie waren wie die Wirklichkeit. Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision. Es war, als ob er nackt und klar das erkennen könnte, was die anderen umhängt und unter tausend Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein Zeichen, zu allem ein Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den Dingen und sie ihm ihr Inneres zeigten. Die Physiognomien taten sich ihm auf, alles fiel in seine Sinne wie der Kern aus einer Frucht. Mit einem Ruck reißt er das Essentielle aus dem Faltenwerk des Unwesentlichen, aber nicht, daß er es freigräbt, langsam wühlend von Schicht zu Schicht, sondern wie mit Pulver sprengt er die goldenen Minen des Lebens auf. Und zugleich mit diesen wirklichen Formen faßt er auch das Unfaßbare, die gasförmig über ihnen schwebende Atmosphäre von Glück und Unglück, die zwischen Himmel und Erde schwebenden Erschütterungen, die nahen Explosionen, die Wetterstürze der Luft. Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie sehen, kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt seine magische Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als atmosphärischen Zustand.
Tausend Landschaften stehen auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen, und alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als anderen nach den Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was er einmal flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und – merkwürdiges Paradoxon des Künstlers – er hat selbst das gewußt, was er gar nicht kannte, er hat die Fjorde Norwegens und die Wälle von Saragossa aus seinen Träumen wachsen lassen, und sie waren wie die Wirklichkeit. Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision. Es war, als ob er nackt und klar das erkennen könnte, was die anderen umhängt und unter tausend Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein Zeichen, zu allem ein Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den Dingen und sie ihm ihr Inneres zeigten. Die Physiognomien taten sich ihm auf, alles fiel in seine Sinne wie der Kern aus einer Frucht. Mit einem Ruck reißt er das Essentielle aus dem Faltenwerk des Unwesentlichen, aber nicht, daß er es freigräbt, langsam wühlend von Schicht zu Schicht, sondern wie mit Pulver sprengt er die goldenen Minen des Lebens auf. Und zugleich mit diesen wirklichen Formen faßt er auch das Unfaßbare, die gasförmig über ihnen schwebende Atmosphäre von Glück und Unglück, die zwischen Himmel und Erde schwebenden Erschütterungen, die nahen Explosionen, die Wetterstürze der Luft. Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie sehen, kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt seine magische Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als atmosphärischen Zustand.
Dieses ungeheure, unvergleichlich intuitive Wissen ist
das Genie Balzacs. Was man dann noch den Künstler
nennt, den Verteiler der Kräfte, den Ordner und Gestalter,
den Zusammenhaltenden und Lösenden, den spürt man
nicht so deutlich bei Balzac. Man wäre versucht zu sagen,
er war gar nicht das, was man Künstler nennt, so sehr
war er Genie. „Une telle force n'a pas besoin d'art.“ Das
Wort gilt auch von ihm. Denn wirklich, hier ist eine
Kraft, so grandios und so groß, daß sie wie die freiesten
Tiere des Urwaldes der Zähmung widerstrebt, sie ist schön
wie ein Gestrüpp, ein Sturzbach, ein Gewitter, wie alle
jene Dinge, deren ästhetischer Wert einzig in der Intensität
ihres Ausdrucks besteht. Ihre Schönheit bedarf nicht
der Symmetrie, der Dekoration, der nachhelfenden, sorglichen
Verteilung, sie wirkt durch die ungezügelte Vielfalt
ihrer Kräfte. Balzac hat seine Romane nie genau
komponiert, er hat sich in ihnen verloren wie in einer
Leidenschaft, in den Schilderungen, im Wort gewühlt wie
in Stoffen oder nacktem blühenden Fleisch. Er reißt Gestalten
auf, hebt sie von allen Ständen, Familien, von allen
Provinzen Frankreichs aus, wie Napoleon seine Soldaten,
teilt sie in Brigaden, macht den einen zum Reiter, stellt
den anderen zu den Kanonen und den dritten zum Train,
schüttet Pulver auf die Pfannen ihrer Gewehre und überläßt
sie dann ihrer inneren ungebändigten Kraft. Die
„Comédie humaine“ hat trotz der schönen – aber nachträglichen!
– Vorrede keinen inneren Plan. Sie ist planlos,
wie das Leben ihm selbst planlos erschien, sie zielt
nicht auf eine Moral hin und nicht auf eine Übersicht, sie
will als Wandelndes das ewig sich Wandelnde zeigen; in
all diesem Ebben und Fluten ist keine dauernde Kraft, sondern
nur ein momentaner Zug wie die geheimnisvolle Anziehung
des Mondes, jene unkörperliche, wie aus Wolken
und Licht gewebte Atmosphäre, die man Epoche nennt.
Dieses neuen Kosmos einziges Gesetz wäre, daß alles, was
gleichzeitig aufeinander wirkt, auch sich selbst verändert,
daß nichts frei wie ein Gott, der nur von außen stieße,
wirkt, sondern daß alle die Menschen, deren unbeständige
Vereinung erst die Epoche ausmacht, ebenso von der
Epoche geschaffen werden, daß ihre Moral, ihre Gefühle
ebenso Produkte sind wie sie selbst. Daß alles Relativitäten
sind, daß, was in Paris Tugend genannt wird, hinter
den Azoren ein Laster sei, daß für nichts feste Werte vorhanden
seien und daß leidenschaftliche Menschen die Welt
so werten müssen, wie Balzac sie die Frau werten läßt:
daß sie immer wert sei, was sie ihn koste. Aufgabe des
Dichters, dem – schon weil er selbst nur Produkt, Kreatur
seiner Zeit ist – versagt ist, das Bleibende aus diesem
Wandel zu gewinnen, kann nur sein, den atmosphärischen
Druck, den geistigen Zustand seiner Epoche zu schildern,
das Wechselspiel der gemeinsamen Kräfte, die die Millionen
Moleküle beseelten, zusammenfügten und wieder zerteilten.
Meteorologe der sozialen Luftströmungen, Mathematiker
des Willens, Chemiker der Leidenschaften,
Geologe der nationalen Urformen – ein vielfältiger Gelehrter
zu sein, der mit allen Instrumenten den Körper
seiner Zeit durchdringt und behorcht, und gleichzeitig ein
Sammler aller Tatsachen, ein Maler ihrer Landschaften,
ein Soldat ihrer Ideen, das zu sein ist Balzacs Ehrgeiz, und
darum war er so unermüdlich im Verzeichnen ebenso der
grandiosen wie der infinitesimalen Dinge. Und so ist sein
Werk nach dem Dauerwort Taines das größte Magazin
menschlicher Dokumente seit Shakespeare geworden.
Seinen Zeitgenossen und vielen der heutigen ist Balzac
freilich nur der Verfasser von Romanen. So betrachtet,
durch das ästhetische Glas visiert, erscheint er nicht so
überlebensgroß. Denn er hat eigentlich wenige standard
works. Balzac will nicht am Einzelwerk gemessen werden,
sondern am Ganzen, will betrachtet sein wie eine Landschaft
mit Berg und Tal, unbegrenzter Ferne, verräterischen
Klüften und raschen Strömen. Mit ihm beginnt –
man könnte fast sagen, hört auch auf, wäre nicht Dostojewski
gekommen – der Gedanke des Romans als Enzyklopädie
der inneren Welt. Die Dichter vor ihm wußten
nur zweierlei, um den schläfrigen Motor der Handlung
nach vorne zu treiben: sie statuierten entweder den von
außen wirkenden Zufall, der wie ein scharfer Wind sich
in die Segel legte und das Fahrzeug nach vorne trieb, oder
sie wählten als die von innen treibende Kraft einzig den
erotischen Trieb, die Peripetien der Liebe. Balzac nun hat
eine Transponierung des Erotischen vorgenommen. Für
ihn gab es zweierlei Begehrende (und wie gesagt, nur die
Begehrenden, die Ambitiösen haben ihn interessiert): die
Erotiker im eigentlichen Sinne, ein paar Männer also und
fast alle Frauen, deren Sternbild einzig die Liebe ist, die
unter ihm geboren werden und zugrunde gehen. Daß aber
alle diese in der Erotik ausgelösten Kräfte nicht die einzigen
seien, daß die Peripetien der Leidenschaft auch bei
anderen Menschen nicht um ein Gran vermindert und,
ohne daß die treibende Urkraft zerstäube oder zersplittere,
in anderen Formen, in anderen Symbolen erhalten seien,
durch diese tätige Erkenntnis hat der Roman Balzacs eine
ungeheuerliche Vielfalt gewonnen.
Aber noch aus einer zweiten Quelle hat Balzac ihn mit
Wirklichkeit gespeist: er hat das Geld in den Roman gebracht.
Er, der keine absoluten Werte anerkannte, beobachtete
als Sekretär seiner Zeitgenossen, als Statistiker des
Relativen genau die äußeren, die moralischen, politischen,
ästhetischen Werte der Dinge und vor allem jenen allgemein
gültigen Wert der Objekte, der sich in unseren Tagen
bei jedem Dinge fast dem absoluten nähert: den Geldwert.
Seit die Vorrechte der Aristokratie gefallen sind, seit der
Nivellierung der Unterschiede ist das Geld zum Blute, zur
treibenden Kraft des sozialen Lebens geworden. Jedes
Ding ist durch seinen Wert, jede Leidenschaft durch ihre
materiellen Opfer, jeder Mensch durch sein äußeres Einkommen
bestimmt. Zahlen sind die Gradmesser für gewisse,
atmosphärische Zustände des Gewissens, die Balzac
zu erforschen sich zur Aufgabe gesetzt hat. Und Geld
kreist in seinen Romanen. Nicht nur das Anwachsen und
Hinstürzen der großen Vermögen, die wilden Spekulationen
der Börse sind geschildert, nicht nur die großen Schlachten,
in denen ebensoviel Energie verausgabt wird wie bei Leipzig
und Waterloo, nicht nur diese zwanzig Typen der
Gelderraffer aus Geiz, Haß, Verschwendungslust, Ambition,
nicht nur jene Menschen, die das Geld um des Geldes
willen lieben, und die, welche es um des Symbols willen
lieben, und die wieder, denen es nur Mittel zu ihren
Zwecken ist, sondern Balzac hat als der erste und kühnste
an tausend Beispielen gezeigt, wie das Geld selbst in die
edelsten, feinsten und immateriellsten Empfindungen eingesickert
ist. Alle seine Menschen rechnen, wie wir es unwillkürlich
im Leben tun. Seine Anfänger, die nach Paris
kommen, wissen rasch, was ein Besuch der guten Gesellschaft
kostet, eine elegante Gewandung, blanke Schuhe,
ein neuer Wagen, eine Wohnung, ein Diener, tausend
Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten, die alle bezahlt und
erlernt sein wollen. Sie kennen die Katastrophen, verachtet
zu werden um einer unmodischen Weste willen, sie
haben bald heraus, daß nur Geld oder der Schein des
Geldes die Türen sprengt, und aus diesen kleinen unablässigen
Demütigungen wachsen dann die großen Leidenschaften
und die zähe Ambition. Und Balzac geht mit
ihnen. Er rechnet den Verschwendern ihre Ausgaben nach,
den Wucherern ihre Prozente, den Kaufmännern ihre Verdienste,
den Dandys ihre Schulden, den Politikern ihre
Bestechungen. Die Summen sind die Gradziffern der aufsteigenden
Unruhegefühle, der Barometerdruck der nahenden
Katastrophen. Da Geld der materielle Niederschlag
des universellen Ehrgeizes war, da es eindrang in alle Gefühle,
so mußte er, der Pathologe des sozialen Lebens, um
die Krisen des kranken Leibes zu erkennen, die Mikroskopie
des Blutes unternehmen, den Geldgehalt desselben
gewissermaßen feststellen. Denn aller Leben ist damit gesättigt,
es ist Sauerstoff für die gehetzten Lungen, keiner
kann es entbehren, der Ehrgeizige nicht für seinen Ehrgeiz,
der Liebende nicht für sein Glück und am wenigsten
der Künstler, das hat er selbst am besten gewußt, auf
dessen Schultern die Schuld von hunderttausend Francs
sich türmte, dieses furchtbare Gewicht, das er oft flüchtig
– in der Ekstase der Arbeit – wegschleuderte von
seinen Schultern und das schließlich zerschmetternd auf
ihn niederfiel.
Unübersehbar ist sein Werk. In den achtzig Bänden
steht eine Zeit, eine Welt, eine Generation. Nie vorher
ist bewußt ein so Gewaltiges versucht worden, nie wurde
die Vermessenheit eines übergroßen Willens besser belohnt.
Den Genießenden, den Ausruhenden, die am Abend, aus
ihrer engen Welt flüchtend, neue Bilder und neue Menschen
wollen, ist Erregung und ein wandelnd Spiel gegeben,
den Dramatikern Stoff für hundert Tragödien, den
Gelehrten – lässig hingeworfen wie Brocken vom Tisch
eines Übersättigten – eine Fülle von Problemen und Anregungen,
den Liebenden eine geradezu vorbildliche Glut
der Ekstase. Am gewaltigsten aber ist die Erbschaft für
die Dichter. In dem Entwurf der „Comédie humaine“
stehen nebst den vollendeten noch vierzig unvollendete,
ungeschriebene Romane, Moskau heißt der eine, jener die
Ebene von Wagram, ein anderer gilt dem Kampf um
Wien und wieder einer dem Leben der Passion. Fast ist
es ein Glück, daß nicht alle diese zu Ende gelangt sind.
Balzac hat einmal gesagt: „Genie ist derjenige, der jederzeit
seine Gedanken in Tat umsetzen kann. Aber das
ganz große Genie entfaltet nicht unablässig diese Tätigkeit,
sonst würde es Gott zu sehr gleichen.“ Denn hätte
er alle diese vollenden dürfen, den Kreis der Leidenschaften
und Geschehnisse ganz in sich zurückführen, sein Werk
wäre ins Unbegreifliche gewachsen. Es wäre ein Ungeheures
geworden, eine Abschreckung für alle Späteren
durch seine Unerreichbarkeit, während es so – ein Torso
ohnegleichen – die ungeheuerste Aneiferung, das grandioseste
Beispiel ist für jeden schöpferischen Willen zum
Unerreichbaren.
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