Charles John Huffam Dickens 1812 – 1870
DICKENS
Nein, man soll nicht Bücher und Biographen befragen,
wie sehr Charles Dickens von seinen Zeitgenossen
geliebt worden ist. Liebe lebt atmend nur im gesprochenen
Wort. Man muß es sich erzählen lassen, am besten von
einem Engländer, der mit seinen Jugenderinnerungen noch
zurückreicht bis an jene Zeit der ersten Erfolge, von einem
derer, die sich noch immer nicht nach nun fünfzig Jahren
entschließen können, den Dichter des „Pickwick“ Charles
Dickens zu nennen, sondern ihm unentwegt seinen alten
vertraulicheren, innigeren Necknamen „Boz“ geben. An
ihrer wehmütig rücksinnenden Rührung kann man den
Enthusiasmus der Tausende messen, die damals mit ungestümem
Entzücken jene blauen, monatlichen Romanhefte
empfangen hatten, die heute, ein Rarissimum für den Bibliophilen,
in Fächern und Schränken gilben. Damals – so
erzählte mir einer dieser „old Dickensians“ – konnten sie
es am Posttage niemals über sich bringen, den Boten zu
Hause abzuwarten, der endlich, endlich das neue blaue
Heft von Boz im Bündel trug. Einen ganzen Monat hatten
sie danach gehungert, hatten geharrt, gehofft, gestritten,
ob Copperfield die Dora heiraten werde oder die Agnes,
hatten sich gefreut, daß Micawbers Verhältnisse wieder
zu einer Krisis gelangt waren – wußten sie doch, er werde
sie mit heißem Punsch und guter Laune heroisch überwinden!
– und nun sollten sie noch warten, warten, bis der
Postbote auf der schläfrigen Kutsche kam und ihnen all
diese heiteren Scharaden auflöste? Das konnten sie nicht,
es ging einfach nicht. Und alle, die Alten wie die Jungen,
wanderten Jahr für Jahr am fälligen Tage dem Briefboten
zwei Meilen entgegen, nur um ihr Buch früher zu haben.
Im Heimwandern schon fingen sie an zu lesen, einer guckte
dem andern über die Schulter ins Blatt, andere lasen laut
vor, und nur die gutmütigsten liefen mit langen Beinen
zurück, um die Beute rascher zu Frau und Kind zu bringen.
So wie dieses Städtchen hat damals jedes Dorf, jede Stadt,
das ganze Land und darüber hinaus die in allen Erdteilen
gesiedelte englische Welt Charles Dickens geliebt; hat ihn
geliebt von der ersten Stunde der Begegnung bis zur letzten
seines Lebens. Nie im neunzehnten Jahrhundert hat es
irgendwo ein ähnlich unwandelbares herzliches Verhältnis
zwischen einem Dichter und seiner Nation gegeben.
Wie eine Rakete schoß dieser Ruhm auf, aber er losch nie
aus, er blieb wie eine Sonne wandellos leuchtend über der
Welt. Vom ersten Heft der „Pickwickier“ wurden 400
Exemplare gedruckt, vom fünfzehnten bereits 40 000:
mit solcher Lawinenmacht stürzte sein Ruhm nieder in
seine Zeit. Nach Deutschland bahnte er sich schnell den
Weg, Hunderte und Tausende kleiner Groschenhefte säten
Lachen und Freude in die Furchen selbst der verwittertsten
Herzen; nach Amerika, Australien und Kanada wanderte
der kleine Nikolaus Nickleby, der arme Oliver Twist und
die tausend anderen Gestalten dieses Unerschöpflichen.
Heute sind schon Millionen Bücher von Dickens im Umlauf,
große, kleine, dicke und dünne Bände, billige Ausgaben
für die Armen und die teuerste Ausgabe drüben in
Amerika, die je von einem Dichter veranstaltet worden
ist (dreimalhunderttausend Mark, glaube ich, kostet sie:
diese Ausgabe für Milliardäre), aber in all den Büchern
nistet heute wie damals noch immer das selige Lachen,
um aufzuflattern wie ein zwitschernder Vogel, sobald man
die ersten Blätter gewendet hat. Beispiellos ist die Beliebtheit
dieses Autors gewesen: wenn sie sich im Laufe der
Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil die Leidenschaft
keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens
sich entschloß, öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal
seinem Publikum Auge in Auge entgegentrat, war England
im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte sie voll,
an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an,
krochen unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter
hören zu können. In Amerika schliefen die Leute bei
bitterster Winterkälte auf mitgebrachten Matratzen vor
den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den
benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam.
Alle Säle wurden zu klein, und man räumte
schließlich dem Dichter in Brooklyn eine Kirche ein als
Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver
Twists und die Geschichte der kleinen Nell. Launenlos
war dieser Ruhm, er drängte Walter Scott zur Seite, überschattete
ein Leben lang das Genie Thackerays; und als die
Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es wie ein Riß
durch die ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten
es Fremde einander, Bestürzung verstörte London wie
nach einer verlorenen Schlacht. Zwischen Shakespeare und
Fielding bettete man ihn, in Westminster Abbey, dem Pantheon
Englands; Tausende strömten hinzu, und tagelang
war die schlichte Gedenkstätte überflutet von Blumen und
Kränzen. Und noch heute, nach vierzig Jahren, kann man
selten vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer Hand
hingestreute Blüten zu finden: der Ruhm und die Liebe
ist nicht gewelkt in all den Jahren. Heute wie damals in
jener Stunde, da England dem Ahnungslosen, dem Namenlosen
das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in die Hand
drückte, ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste
und gefeierteste Erzähler der ganzen englischen Welt.
Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie
in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes
kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier
meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden:
durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition
seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle
und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer.
Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als
verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene
befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes
dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine
Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten
miteinander tauschen, aber in anderen Sphären schwingen,
die sich auf ihren kreisenden Bahnen begegnen, aber nie
vereinen. Hier ist nun jene seltene Sekunde des Sternenhimmels,
wo der Schatten des einen Gestirns die leuchtende
Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich identifizieren:
Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts,
dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis
seiner Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch
mit dem Geschmack des damaligen England, sein Werk
ist die Materialisierung der englischen Tradition: Dickens
ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die Ästhetik,
der geistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und
uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl
von sechzig Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals.
Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische
Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum
auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre
vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr
Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische
liegt nicht wie ein Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen
Organismus des Menschen, es dringt ins Blut, wirkt
regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das Innerste
und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische.
Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig
als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler
in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem
Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster,
verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition
niederzuzwingen. Sie reicht mit ihren feinen Adern zu
tief hinab ins Erdreich der Seele: und wer das Englische
ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus, verblutet
an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht
nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley,
Oskar Wilde haben den Engländer in sich vernichten
wollen, weil sie das Ewig-Bürgerliche im Engländer haßten.
Aber sie zerfetzten nur ihr eigenes Leben. Die englische
Tradition ist die stärkste, die siegreichste der Welt, aber
auch die gefährlichste für die Kunst. Die gefährlichste,
weil sie heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht
unwirtlich oder ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer
und sanfter Bequemlichkeit, aber sie zäunt ein mit
moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und verträgt
sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. Sie ist eine
bescheidene Wohnung mit stockender Luft, geschützt vor
den gefährlichen Stürmen des Lebens, heiter, freundlich
und gastlich, ein echtes „home“ mit allem Kaminfeuer
bürgerlicher Zufriedenheit, aber doch ein Gefängnis für
den, dessen Heimat die Welt, dessen tiefste Lust das nomadenhaft
selige, abenteuerliche Schweifen im Unbegrenzten
ist. Dickens hat sichs behaglich in der englischen Tradition
gemacht, hat sich häuslich eingerichtet in ihren vier
Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen Sphäre
und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische
oder ästhetische Grenze Englands überschritten. Er war
kein Revolutionär. Der Künstler in ihm vertrug sich mit
dem Engländer, löste sich allmählich ganz in ihm auf.
Was Dickens geschaffen hat, steht fest und sicher auf dem
jahrhundertalten Fundament der englischen Tradition,
beugt sich nie oder nur selten um Haaresbreite über sie
hinaus, führt aber den Bau zu unverhoffter Höhe mit einer
reizvollen Architektonik empor. Sein Werk ist der unbewußte,
Kunst gewordene Wille seiner Nation: und wenn
wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die versäumten
Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir
gleichzeitig immer mit England.
Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen
Tradition zwischen dem heroischen Jahrhundert
Napoleons, der ruhmreichen Vergangenheit, und dem
Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn er für
uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das
Gewaltige, zu dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es
nicht England, nicht die Rasse selbst, die ihn gehemmt
hat, sondern der unverschuldete Augenblick: das viktorianische
Zeitalter Englands. Auch Shakespeare war ja höchste
Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche:
aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften,
frischsinnlichen England, das zum erstenmal die
Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und
vibrierend war von überschäumender Kraft. Shakespeare
war der Sohn eines Jahrhunderts der Tat, des Willens,
der Energie. Neue Horizonte waren aufgetaucht, in Amerika
abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert,
von Italien her flackte das Feuer der Renaissance
herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine
Religion waren abgetan, die Welt wieder anzufüllen mit
neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die Inkarnation
des heroischen England, Dickens nur das Symbol des bourgeoisen.
Er war loyaler Untertan der anderen Königin,
der sanften, hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen
Victoria, Bürger eines prüden, behaglichen, geordneten
Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. Sein Auftrieb
war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht
hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur
spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von
der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten,
hinein in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig
ist er immer in der Nähe des Heimischen, Gewohnten
und Althergebrachten geblieben: wie Shakespeare der
Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des satten England.
1812 ist er geboren. Gerade wie seine Augen um
sich greifen können, wird es dunkel in der Welt, die große
Flamme verlischt, die das morsche Gebälk der europäischen
Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo zerschellt die
Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet
und sieht seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne
Krone und Macht zugrunde gehen. Das hat Dickens nicht
mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die Flamme der Welt,
den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen
das andere wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands
hinein. Der Jüngling findet keine Helden mehr, die Zeit
der Heroen ist vorüber. Ein paar in England wollen es
freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt und Enthusiasmus
die Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der
Welt den alten sausenden Schwung geben, aber England
will Ruhe und stößt sie von sich. Sie flüchten der Romantik
nach in ihre heimlichen Winkel, suchen aus armen
Funken das Feuer wieder zu entfachen, aber das Schicksal
läßt sich nicht zwingen. Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen
Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu Missolunghi:
die Zeit will keine Aventüren mehr. Aschfarben
ist die Welt. Behaglich verschmaust England die noch
blutige Beute; der Bourgeois, der Kaufmann, der Makler
ist König und räkelt sich auf dem Thron wie auf einem
Faulbett. England verdaut. Eine Kunst, die damals gefallen
konnte, mußte digestiv sein, sie durfte nicht stören,
nicht mit wilden Emotionen rütteln, nur streicheln und
krauen, sie durfte nur sentimental sein und nicht tragisch.
Man wollte nicht den Schauer, der die Brust wie ein Blitz
spaltet, den Atem zerschneidet, das Blut einfrieren läßt –
zu gut kannte man das vom wirklichen Leben, als die
Gazetten aus Frankreich und Rußland kamen –, nur das
Gruseln wollte man, das Schnurren und Spielen, das unablässig
den farbigen Knäuel der Geschichten hin und her
rollt. Kaminkunst wollten die Leute von damals, Bücher,
die sich behaglich, während der Sturm an den Pfosten rüttelt,
am Kamin lesen und die selbst so züngeln und knacken
mit vielen kleinen ungefährlichen Flammen, eine Kunst,
die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine, die es freudig
und lodernd berauschen will. So ängstlich sind die Sieger
von vorgestern geworden – sie, die nur behalten möchten
und bewahren, nichts mehr wagen und wandeln –, daß
sie Angst haben vor ihrem eigenen starken Gefühl. In den
Büchern wie im Leben wünschen sie nur wohltemperierte
Leidenschaften, keine Ekstasen, die aufstürmen, immer
nur normale Gefühle, die sittsam promenieren. Glück wird
in England damals identisch mit Beschaulichkeit, Ästhetik
mit Sittsamkeit, und Sinnlichkeit wiederum mit Prüderie,
Nationalgefühl mit Loyalität, Liebe mit Ehe. Alle Lebenswerte
werden blutarm. England ist zufrieden und will
keinen Wandel. Eine Kunst, die eine so satte Nation anerkennen
kann, muß darum selbst irgendwie zufrieden
sein, das Bestehende loben und nicht darüberhinaus wollen.
Und dieser Wille nach einer behaglichen, freundlichen,
einer digestiven Kunst findet sein Genie, wie einst das
elisabethanische England seinen Shakespeare. Dickens
ist das Schöpfung gewordene künstlerische Bedürfnis des
damaligen England. Daß er im richtigen Augenblicke
kam, schuf seinen Ruhm; daß er von diesem Bedürfnis
überwältigt wurde, ist seine Tragik. Seine Kunst ist genährt
von der hypokritischen Moral von der Behaglichkeit
des satten England: und stände nicht eine so außerordentliche
dichterische Kraft hinter seinem Werke, täuschte
nicht sein glitzernder, goldfunkelnder Humor hinweg über
die innere Farblosigkeit der Gefühle, so hätte er nur Wert
in jener englischen Welt, wäre uns indifferent wie die Tausende
von Romanen, die jenseits des Ärmelkanals von
fingerfertigen Leuten produziert werden. Erst wenn man
aus tiefster Seele die hypokritische Borniertheit der viktorianischen
Kultur haßt, kann man das Genie eines Menschen
mit voller Bewunderung ermessen, der uns diese
widerliche Welt der satten Behäbigkeit als interessant und
fast liebenswert zu empfinden zwang, der die banalste Prosa
des Lebens zu Poesie erlöste.
Dickens hat selbst nie gegen dieses England angekämpft.
Aber in der Tiefe – unten im Unbewußten – war das
Ringen des Künstlers in ihm mit dem Engländer. Er ist
ursprünglich stark und sicher ausgeschritten, nach und
nach aber in dem weichen, halb zähen, halb nachgiebigen
Sand seiner Zeit müde geworden und immer öfter und öfter
schließlich in die alten, breitgestapften Fußspuren der Tradition
getreten. Dickens ist überwältigt worden von seiner
Zeit, und ich muß bei seinem Schicksal immer an das
Abenteuer Gullivers bei den Liliputanern denken. Während
der Riese schläft, spannen ihn die Zwerge mit tausenden
kleinen Fäden an den Erdboden an, halten den Erwachenden
so fest und lassen ihn nicht früher frei, ehe er nicht kapituliert
und geschworen hat, die Gesetze des Landes nie
zu verletzen. So hat die englische Tradition Dickens im
Schlaf seiner Unberühmtheit eingesponnen und festgehalten:
sie preßte ihn mit den Erfolgen an die englische Scholle,
sie rissen ihn hinein in den Ruhm und banden ihm damit
die Hände. Er war nach einer langen trüben Kindheit
Stenograph im Parlament geworden und hatte einmal versucht,
kleine Skizzen zu schreiben, mehr eigentlich um
sein Einkommen zu vermehren als aus impulsivem dichterischen
Bedürfnis. Der erste Versuch gelang, die Zeitung
verpflichtete ihn. Dann bat ihn ein Verleger um satirische
Glossen zu einem Klub, die gewissermaßen den Text zu Karikaturen
aus der englischen gentry bilden sollten. Dickens
nahm an. Und es gelang, gelang über alle Erwartung.
Die ersten Hefte des „Pickwick-Klub“ waren ein Erfolg
ohne Beispiel; nach zwei Monaten war Boz ein nationaler
Autor. Der Ruhm schob ihn weiter, aus Pickwick wurde
ein Roman. Es gelang wieder. Immer dichter spannen
sich die kleinen Netze, die geheimen Fesseln des nationalen
Ruhmes. Von einem Werke drängte ihn der Beifall zum
andern, drängte ihn immer mehr in die Windrichtung des
zeitgenössischen Geschmackes hinein. Und diese hunderttausend
Netze, aus Beifall, baren Erfolgen und stolzem
Bewußtsein künstlerischen Wollens auf das verwirrendste
gewoben, hielten ihn nun fest an der englischen Erde, bis
er kapitulierte, innerlich gelobte, die ästhetischen und moralischen
Gesetze seiner Heimat nie zu übertreten. Er
blieb in der Gewalt der englischen Tradition, des bürgerlichen
Geschmackes, ein moderner Gulliver unter den
Liliputanern. Seine wundervolle Phantasie, die wie ein
Adler hätte hinschweben können über dieser engen Welt,
verhakte sich in den Fußfesseln der Erfolge. Eine tiefinnerliche
Zufriedenheit belastet seinen künstlerischen Auftrieb.
Dickens war zufrieden. Zufrieden mit der Welt, mit England,
mit seinen Zeitgenossen und sie mit ihm. Beide wollten
sie sich nicht anders, als sie waren. In ihm war nicht die
zornige Liebe, die züchtigen will, aufrütteln, anstacheln
und erheben, der Urwille des großen Künstlers, mit Gott
zu rechten, seine Welt zu verwerfen und sie neu, nach
seinem eigenen Dünken zu erschaffen. Dickens war fromm,
fürchtig; er hatte für alles Bestehende eine wohlwollende
Bewunderung, ein ewig kindliches, spielfrohes Entzücken.
Er war zufrieden. Er wollte nicht viel. Er war einmal
ein ganz armer, vom Schicksal vergessener, von der Welt
verschüchterter Knabe gewesen, dem erbärmliche Berufe
die Jugend verzettelt hatten. Damals hatte er bunte farbige
Sehnsucht gehabt, aber alle hatten ihn zurückgestoßen in
eine lange und hartnäckig getragene Verschüchterung.
Das brannte in ihm. Seine Kindheit war das eigentlich
dichterisch-tragische Erlebnis – hier war der Same seines
schöpferischen Wollens eingesenkt in das fruchtbare Erdreich
von schweigsamem Schmerz; und seine tiefste seelische
Absicht war, als ihm dann die Macht und Möglichkeit
der Wirkung ins Weite wurde, diese Kindheit zu rächen.
Er wollte mit seinen Romanen allen armen, verlassenen, vergessenen
Kindern helfen, die so wie er einst Ungerechtigkeit
erlitten durch schlechte Lehrer, vernachlässigte Schulen,
gleichgültige Eltern, durch die lässige, lieblose, selbstsüchtige
Art der meisten Menschen. Er wollte ihnen die paar
farbigen Blüten Kinderfreude retten, die in seiner eigenen
Brust verwelkt waren ohne den Tau der Güte. Später
hatte ihm das Leben dann alles gewährt, und er wußte es
nicht mehr anzuklagen: aber die Kindheit rief in ihm um
Rache. Und die einzige moralische Absicht, der innere
Lebenswille seines Dichtens war, diesen Schwachen zu
helfen: hier wollte er die zeitgenössische Lebensordnung
verbessern. Er verwarf sie nicht, er bäumte sich nicht auf
gegen die Normen des Staates, er droht nicht, reckt nicht
die zornige Faust gegen das ganze Geschlecht, gegen die
Gesetzgeber, die Bürger, gegen die Verlogenheit aller Konventionen,
sondern deutet nur hier und dort mit vorsichtigem
Finger auf eine offene Wunde. England ist das
einzige Land Europas, das damals, um 1848, nicht revolutionierte;
und so wollte auch er nicht umstürzen und
neu schaffen, nur korrigieren und verbessern, wollte nur
die Phänomene des sozialen Unrechts, dort wo ihr Dorn
zu spitz und schmerzhaft ins Fleisch drang, abschleifen
und mildern, doch nie die Wurzel, die innerste Ursache,
aufgraben und zerstören. Als echter Engländer wagt er
sich nicht an die Fundamente der Moral, sie sind dem
Konservativen sakrosankt wie das gospel, das Evangelium.
Und diese Zufriedenheit, dieser Absud vom flauen Temperament
seiner Epoche, ist so charakteristisch für Dickens.
Er wollte nicht viel vom Leben: und so seine Helden.
Ein Held bei Balzac ist gierig und herrschsüchtig, er verbrennt
vor ehrgeiziger Sehnsucht nach Macht. Nichts
ist ihm genug, unersättlich sind sie alle, jeder ein Welteroberer,
ein Umstürzler, ein Anarchist und ein Tyrann
zugleich. Sie haben ein napoleonisches Temperament.
Auch die Helden Dostojewskis sind feurig und ekstatisch,
ihr Wille verwirft die Welt und greift in herrlichster Ungenügsamkeit
über das wirkliche Leben nach dem wahren
Leben; sie wollen nicht Bürger und Menschen sein, sondern
in jedem von ihnen funkelt durch alle Demut der
gefährliche Stolz, ein Heiland zu werden. Ein Held Balzacs
will die Welt unterjochen, ein Held Dostojewskis
sie überwinden. Beide haben sie eine Anspannung über
das Alltägliche hinaus, eine Pfeilrichtung gegen das Unendliche.
Die Menschen bei Dickens sind alle bescheiden.
Mein Gott, was wollen sie? Hundert Pfund im Jahr, eine
nette Frau, ein Dutzend Kinder, einen freundlich gedeckten
Tisch für die guten Freunde, ihr Cottagehaus bei London
mit einem Blick von Grün vor dem Fenster, mit einem
kleinen Gärtchen und einer Handvoll Glück. Ihr Ideal
ist ein spießerisches, ein kleinbürgerliches: damit muß man
sich bei Dickens zurechtfinden. Alle seine Menschen
wollen innerlich keinen Wandel der Weltordnung, wollen
weder Reichtum noch Armut, sondern dieses behagliche
Mittelmaß, das als Lebensmaxime so weise für den Krämer
und Kärrner, so gefährlich für den Künstler ist. Die Ideale
Dickens' haben abgefärbt von ihrer armen Umwelt. Hinter
dem Werke steht als der Schöpfer, der Bändiger des Chaos,
nicht ein zorniger Gott, gigantisch und übermenschlich,
sondern ein zufriedener Betrachter, ein loyaler Bürger.
Das Bürgerliche ist die Atmosphäre aller Romane von
Dickens.
Seine große und unvergeßliche Tat war darum eigentlich
nur: die Romantik der Bourgeoisie zu entdecken, die
Poesie des Prosaischen. Er hat als erster den Alltag der unpoetischesten
aller Nationen ins Dichterische umgebogen.
Er hat Sonne durch dieses stumpfe Grau leuchten lassen;
und wer in England einmal gesehen hat, wie strahlend
der Goldglanz ist, den dort die erstarkende Sonne aus dem
trüben Knäuel des Nebels spinnt, der weiß, wie sehr ein
Dichter seine Nation beseligen mußte, der ihr künstlerisch
diese Sekunde der Erlösung aus dem bleiernen Hindämmern
gegeben hat. Dickens ist dieser goldene Reif um den
englischen Alltag, der Heiligenschein der schlichten Dinge
und simpeln Menschen, die Idylle Englands. Er hat seine
Helden, seine Schicksale in den engen Straßen der Vorstädte
gesucht, an denen die anderen Dichter achtlos vorbeigingen.
Die suchten ihre Helden unter den Kronleuchtern
der aristokratischen Salons, auf den Wegen in den
Zauberwald der fairy tales, sie forschten nach dem Entlegenen,
Ungewöhnlichen und Außerordentlichen. Ihnen
war der Bürger die Substanz gewordene irdische Schwerkraft,
und sie wollten nur feurige, kostbare, in Ekstasen
aufstrebende Seelen, den lyrischen, den heroischen Menschen.
Dickens schämte sich nicht, den ganz einfachen
Tagwerker zum Helden zu machen. Er war ein self-made-man;
er kam von unten und bewahrte diesem Milieu
eine rührende Pietät. Er hatte einen sehr merkwürdigen
Enthusiasmus für das Banale, eine Begeisterung für ganz
wertlose altväterische Dinge, für den Kleinkram des Lebens.
Seine Bücher sind selbst so ein curiosity shop voll mit Gerümpel,
das jeder für wertlos gehalten hätte, ein Durcheinander
von Seltsamkeiten und schnurrigen Nichtigkeiten,
die jahrzehntelang vergeblich auf den Liebhaber gewartet
hatten. Aber er nahm diese alten wertlosen, verstaubten
Dinge, putzte sie blank, fügte sie zusammen und stellte
sie in die Sonne seiner Heiterkeit. Und da fingen sie plötzlich
an zu funkeln mit einem unerhörten Glanz. So nahm
er die vielen kleinen verachteten Gefühle aus der Brust
einfacher Menschen, horchte sie ab, fügte ihr Räderwerk
zusammen, bis sie wieder lebendig tickten. Plötzlich begannen
sie da wie kleine Spieluhren zu surren, zu schnurren
und dann zu singen, eine leise altväterische Melodie, die
lieblicher war als die schwermütigen Balladen der Ritter
aus Legendenland und die Kanzonen der Lady vom See.
Die ganze bürgerliche Welt hat Dickens so aus dem Aschenhaufen
der Vergessenheit aufgestöbert und wieder blank
zusammengefügt: in seinem Werk erst wurde sie wieder
eine lebendige Welt. Ihre Torheiten und Beschränktheiten
hat er durch Nachsicht begreiflich, ihre Schönheiten durch
Liebe sinnfällig gemacht, ihren Aberglauben verwandelt
in eine neue und sehr dichterische Mythologie. Das Zirpen
des Heimchens am Herd ist Musik geworden in seiner
Novelle, die Silvesterglocken sprechen mit menschlichen
Zungen, der Zauber der Weihnacht versöhnt Dichtung
dem religiösen Gefühl. Aus den kleinsten Festen hat er
einen tieferen Sinn geholt; er hat allen diesen schlichten
Leuten die Poesie ihres täglichen Lebens entdecken geholfen,
ihnen noch lieber gemacht, was ihnen schon das
Liebste war, ihr „home“, das enge Zimmer, wo der Kamin
mit roten Flammen prasselt und das dürre Holz zerknackt,
wo der Tee am Tische surrt und singt, wo die wunschlosen
Existenzen sich absperren von den gierigen Stürmen,
den wilden Verwegenheiten der Welt. Die Poesie des Alltäglichen
wollte er alle die lehren, die in den Alltag gebannt
waren. Tausenden und Millionen hat er gezeigt, wo das
Ewige in ihr armes Leben hinabreichte, wo der Funke
der stillen Freude verschüttet unter der Asche des Alltags
lag, er hat sie gelehrt, ihn aufflammen zu lassen zu heiter
behaglicher Glut. Helfen wollte er den Armen und den
Kindern. Was über diesen Mittelstand des Lebens materiell
oder geistig hinausging, war ihm antipathisch; er
liebte nur das Gewöhnliche, das Durchschnittliche von
ganzem Herzen. Den Reichen und den Aristokraten, den
Begünstigten des Lebens war er gram. Die sind fast immer
Schurken und Knauser in seinen Büchern, selten Porträts,
fast immer Karikaturen. Er mochte sie nicht. Zu oft
hatte er als Kind dem Vater ins Schuldgefängnis, in die Marshalsea, Briefe gebracht, die Pfändungen gesehen, zu
sehr die liebe Not des Geldes gekannt; jahraus, jahrein
war er in Hungerford Stairs ganz oben in einem kleinen,
schmutzigen, sonnenlosen Zimmer gesessen, hatte Schuhwichse
in Tiegel eingestrichen und mit Fäden Hunderte
und Hunderte täglich umwickelt, bis ihm die kleinen
Kinderhände brannten und die Tränen der Zurücksetzung
aus den Augen schossen. Zu sehr hatte er Hunger und
Entbehrung gekannt an den kalten Nebelmorgen der Londoner
Straßen. Keiner hatte ihm damals geholfen, die Karossen
waren vorübergefahren an dem frierenden Knaben,
die Reiter vorbeigetrabt, die Tore hatten sich nicht aufgetan.
Nur von den kleinen Leuten hatte er Gutes erfahren:
nur ihnen wollte er darum die Gabe erwidern. Seine Dichtung
ist eminent demokratisch – nicht sozialistisch, dazu
fehlt ihm der Sinn für das Radikale –, Liebe und Mitleid
allein geben ihr pathetisches Feuer. In der bürgerlichen
Welt – in der mittleren Sphäre zwischen Armenhaus und
Rente – ist er am liebsten geblieben; nur bei diesen schlichten
Menschen hat er sich wohlgefühlt. Er malt ihre Stuben
mit Behaglichkeit und Breite aus, als wollte er selbst darin
wohnen, webt ihnen bunte und immer mit sonnigem Feuer
überflogene Schicksale, träumt ihre bescheidenen Träume;
er ist ihr Anwalt, ihr Prediger, ihr Liebling, die helle, ewig
warme Sonne ihrer schlichten, grautönigen Welt.
Aber wie reich ist sie durch ihn geworden, diese bescheidene
Wirklichkeit der kleinen Existenzen! Das ganze
bürgerliche Beisammensein mit seinem Hausrat, dem Kunterbunt
der Berufe, dem unübersehbaren Gemisch der
Gefühle ist noch einmal Kosmos geworden, ein All mit
Sternen und Göttern in seinen Büchern. Aus dem flachen,
stagnierenden, kaum wellenden Spiegel der kleinen Existenzen
hat hier ein scharfer Blick Schätze erspäht und sie
mit dem feinmaschigsten Netz ans Licht gehoben. Aus dem
Gewühl hat er Menschen gefangen, o wie viele Menschen,
Hunderte von Gestalten, genug, eine kleine Stadt zu bevölkern.
Unvergeßliche sind unter ihnen, Gestalten, die
ewig sind in der Literatur und schon mit ihrer Existenz
hinausreichen in den wirklichen Sprachbegriff des Volkes,
Pickwick und Sam Weller, Pecksniff und Betsey Trotwood,
sie alle, deren Namen in uns lächelnde Erinnerung
zauberisch entfachen. Wie reich sind diese Romane! Die
Episoden des David Copperfield genügten für sich allein,
das dichterische Lebenswerk eines anderen mit Tatsächlichkeiten
zu versorgen; Dickens' Bücher sind eben wirkliche
Romane im Sinn der Fülle und unablässigen Bewegtheit,
nicht wie unsere deutschen fast alle nur ins Breite
gezerrte psychologische Novellen. Es gibt keine toten
Punkte in ihnen, keine leeren sandigen Strecken, sie haben
Ebbe und Flut von Geschehnissen, und wirklich, wie ein
Meer sind sie unergründlich und unübersehbar. Kaum
kann man das heitere und wilde Durcheinander der wimmelnden
Menschen überschauen; sie drängen herauf an
die Bühne des Herzens, stoßen einer wieder den andern
hinab, wirbeln vorbei. Wie Wogenkämme tauchen sie
auf aus der Flut der Riesenstädte, stürzen wieder in den
Gischt der Ereignisse, aber sie tauchen neu auf, steigen und
fallen, umschlingen einander oder stoßen sich ab: und doch,
diese Bewegungen sind keine zufälligen, hinter der ergötzlichen
Wirrnis waltet eine Ordnung, die Fäden flechten
sich immer wieder zusammen in einen farbigen Teppich.
Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch vorbeizustreifen
scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern,
befeinden einander, häufen Licht oder Schatten. Krause,
heitere, ernste Verwicklungen treiben in katzenhaftem
Spiel den Knäuel der Handlung hin und her, alle Möglichkeiten
des Gefühls klingen in rascher Skala auf und nieder,
alles ist gemengt: Jubel, Schauer und Übermut; bald funkelt
die Träne der Rührung, bald die der losen Heiterkeit.
Gewölk zieht auf, zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am
Schlusse strahlt die vom Gewitter reine Luft in wundervoller
Sonne. Manche dieser Romane sind eine Ilias von
tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer entgötterten irdischen
Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle;
aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren,
haben dies Merkmal einer verschwenderischen Vielfalt.
Und alle haben sie, selbst die wildesten und melancholischsten,
in den Fels der tragischen Landschaft kleine Lieblichkeiten
wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese
unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden
und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan
seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle
sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein
der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei
Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung
vergleichen kann, so rein sind sie, so göttlich unberührt
von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren
milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man
Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen
Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur
Größe wird. Wer könnte allein seine Menschen aufzählen,
alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen
und immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen
mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten,
eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt in
die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind,
keiner ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins
kleinste Detail persönlich herausgearbeitet, nichts ist Guß
und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und Lebendigkeit,
sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von
dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.
Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein
wunderbares, unbeirrbares Instrument. Dickens war ein
visuelles Genie. Man mag jedes Bildnis von ihm, das der
Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es
ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht
das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder
elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder
feurig-visionär. Es ist ein englisches Auge: kalt, grau,
scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war es auch wie
ein Tresor, in dem alles unverbrennbar, unverlierbar, gewissermaßen
luftdicht abgeschlossen ruhte, was ihm irgend
einmal, gestern oder vor vielen Jahren von der Außenwelt
eingezahlt worden war: das Erhabenste wie das Gleichgültigste,
irgendein farbiges Schild über einem Kramladen in
London, das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit gesehen,
oder ein Baum mit seinen aufspringenden Blüten gerade
drüben vor dem Fenster. Nichts ging diesem Auge
verloren, es war stärker als die Zeit; sparsam reihte es Eindruck
an Eindruck im Speicher des Gedächtnisses, bis der
Dichter ihn zurückforderte. Nichts rann in Vergessenheit,
wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete, blieb voll Duft
und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte.
Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges.
Mit seiner stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der
Kindheit; in „David Copperfield“, dieser verkappten Autobiographie,
sind Erinnerungen des zweijährigen Kindes an
die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe wie
Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten.
Es gibt keine vagen Konturen bei Dickens; er
gibt nicht vieldeutige Möglichkeiten der Vision, sondern
zwingt zur Deutlichkeit. Seine darstellende Kraft läßt der
Phantasie des Lesers keinen freien Willen, er vergewaltigt
sie (weshalb er auch der ideale Dichter einer phantasielosen
Nation wurde). Stellt zwanzig Zeichner vor seine Bücher
und verlangt die Bilder Copperfields und Pickwicks: die
Blätter werden sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher
Ähnlichkeit den feisten Herrn mit der weißen Weste und
den freundlichen Augen hinter den Brillengläsern oder den
hübschen blonden, ängstlichen Knaben auf der Postkutsche
nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so scharf, so
minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen
muß; er hatte nicht den magischen Blick Balzacs, der die
Menschen der feurigen Wolke ihrer Leidenschaften sich
erst chaotisch formend entringen läßt, sondern einen ganz
irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen
Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten,
sagte er einmal, sind es, die den Sinn des Lebens
ausmachen. Sein Blick hascht nach kleinen Merkzeichen,
er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen hilflosen Gesten
der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die
unter einer dunkeln Perücke hervorlugt, wenn ihr Eigner
in Zorn gerät. Er spürt die Nuancen, tastet die Bewegung
jedes einzelnen Fingers bei einem Händedruck ab, die Abschattung
in einem Lächeln. Er war Jahre vor seiner literarischen
Zeit Stenograph im Parlament gewesen und hatte
sich dort geübt, das Ausführliche ins Summarische zu
drängen, mit einem Strich ein Wort, mit kurzem Schnörkel
einen Satz darzustellen. Und so hat er später dichterisch
eine Art Kurzschrift des Wirklichen geübt, das kleine
Zeichen hingestellt statt der Beschreibung, eine Essenz
der Beobachtung aus den bunten Tatsächlichkeiten destilliert.
Für diese kleinen Äußerlichkeiten hatte er eine unheimliche
Scharfsichtigkeit, sein Blick übersah nichts, faßte
wie ein guter Verschluß am photographischen Apparat
das Hundertstel einer Sekunde in einer Bewegung, einer
Geste. Nichts entging ihm. Und diese Scharfsichtigkeit
wurde noch gesteigert durch eine ganz merkwürdige Brechung
des Blicks, die den Gegenstand nicht wie ein Spiegel
in seiner natürlichen Proportion wiedergab, sondern
wie ein Hohlspiegel ins Charakteristische übertrieb. Dickens
unterstreicht immer die Merkzeichen seiner Menschen, er
dreht sie aus dem Objektiven hinüber ins Gesteigerte, ins
Karikaturistische. Er macht sie intensiver, erhebt sie zum
Symbol. Der wohlbeleibte Pickwick wird auch seelisch zur
Rundlichkeit, der dünne Jingle zur Dürre, der Böse zum
Satanas, der Gute die leibhaftige Vollendung. Dickens
übertreibt wie jeder große Künstler, aber nicht ins Grandiose,
sondern ins Humoristische. Die ganze, so unsäglich
ergötzliche Wirkung seiner Darstellung entwuchs nicht
so sehr seiner Laune, nicht seinem Übermut, sondern sie
saß schon in dieser merkwürdigen Winkelstellung des
Auges, das mit seiner Überschärfe alle Erscheinungen
irgendwie ins Wunderliche und Karikaturistische übertrieben
auf das Leben zurückspiegelte.
Tatsächlich: in dieser eigenartigen Optik – und nicht
in seiner ein wenig zu bürgerlichen Seele – steckt Dickens'
Genie. Dickens war eigentlich nie Psychologe, einer, der
magisch die Seele des Menschen erfaßt, aus ihrem hellen
oder dunklen Samen in geheimnisvollem Wachstum sich
die Dinge in ihren Farben und Formen entfalten ließ.
Seine Psychologie beginnt beim Sichtbaren, er charakterisiert
durch Äußerlichkeiten, allerdings durch jene letzten
und feinsten, die eben nur einem dichterisch scharfen Auge
sichtbar sind. Wie die englischen Philosophen, beginnt er
nicht mit Voraussetzungen, sondern mit Merkmalen. Die
unscheinbarsten, ganz materiellen Äußerungen des Seelischen
fängt er ein und macht an ihnen durch seine merkwürdig
karikaturistische Optik den ganzen Charakter
augenfällig. Aus Merkmalen läßt er die Spezies erkennen.
Dem Schullehrer Creakle gibt er eine leise Stimme, die
mühsam das Wort gewinnt. Und schon ahnt man das
Grauen der Kinder vor diesem Menschen, dem die Anstrengung
des Sprechens die Zornader über die Stirne
schwellen läßt. Sein Uriah Heep hat immer kalte, feuchte
Hände: schon atmet die Gestalt Mißbehagen, schlangenhafte
Widrigkeiten. Kleinigkeiten sind das, Äußerlichkeiten,
aber immer solche, die auf das Seelische wirken.
Manchmal ist es eigentlich nur eine lebendige Schrulle,
die er darstellt; eine Schrulle, die mit einem Menschen
umwickelt ist und ihn wie eine Puppe mechanisch bewegt.
Manchmal wieder charakterisiert er den Menschen durch
seinen Begleiter – was wäre Pickwick ohne Sam Weller,
Dora ohne Jip, Barnaby ohne den Raben, Kit ohne das
Pony! – und zeichnet die Eigentümlichkeit der Figur gar
nicht an dem Modell selbst, sondern am grotesken Schatten.
Seine Charaktere sind eigentlich immer nur eine
Summe von Merkmalen, aber von so scharfgeschnittenen,
daß sie restlos ineinander passen und ein Bild vortrefflich
in Mosaik zusammensetzen. Und darum wirken sie meistens
immer nur äußerlich, sinnfällig, sie erzeugen eine intensive
Erinnerung des Auges, eine nur vage des Gefühles.
Rufen wir in uns eine Figur Balzacs oder Dostojewskis
beim Namen auf, den Père Goriot oder Raskolnikow, so
antwortet ein Gefühl, die Erinnerung an eine Hingebung,
eine Verzweiflung, ein Chaos der Leidenschaft. Sagen wir
uns Pickwick, so taucht ein Bild auf, ein jovialer Herr mit
reichlichem Embonpoint und goldenen Knöpfen auf der
Weste. Hier spüren wir es: an die Figuren Dickens' denkt
man wie an gemalte Bilder, an die Dostojewskis und Balzacs
wie an Musik. Denn diese schaffen intuitiv, Dickens
nur reproduktiv, jene mit dem geistigen, Dickens mit dem
körperlichen Auge. Er faßt die Seele nicht dort, wo sie
geisterhaft, nur von dem siebenfach glühenden Licht der
visionären Beschwörung bezwungen, aus der Nacht des
Unbewußten steigt, er lauert dem unkörperlichen Fluidum
auf, dort, wo es einen Niederschlag im Wirklichen hat, er
hascht die tausend Wirkungen des Seelischen auf das
Körperliche, aber dort übersieht er keine. Seine Phantasie
ist eigentlich bloß Blick und reicht darum nur aus für jene
Gefühle und Gestalten der mittleren Sphäre, die im Irdischen
wohnen; seine Menschen sind nur plastisch in den
gemäßigten Temperaturen der normalen Gefühle. In den
Hitzegraden der Leidenschaft zerschmelzen sie wie Wachsbilder
in Sentimentalität, oder sie erstarren im Haß und
werden brüchig. Dickens gelingen nur geradlinige Naturen,
nicht jene ungleich interessanteren, in denen die hundertfachen
Übergänge vom Guten zum Bösen, vom Gott zum
Tier fließend sind. Seine Menschen sind immer eindeutig,
entweder vortrefflich als Helden oder niederträchtig als
Schurken, sie sind prädestinierte Naturen mit einem Heiligenschein
über der Stirne oder dem Brandmal. Zwischen
good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen und Gefühllosen
pendelt seine Welt. Darüber hinaus, in die Welt
der geheimnisvollen Zusammenhänge, der mystischen Verkettungen,
weiß seine Methode keinen Pfad. Das Grandiose
läßt sich nicht greifen, das Heroische nicht erlernen.
Es ist der Ruhm und die Tragik Dickens', immer in einer
Mitte geblieben zu sein zwischen Genie und Tradition,
dem Unerhörten und dem Banalen: in den geregelten
Bahnen der irdischen Welt, im Lieblichen und im Ergreifenden,
im Behaglichen und Bürgerlichen.
Aber dieser Ruhm genügte ihm nicht: der Idylliker
sehnte sich nach Tragik. Immer wieder hat er zur Tragödie
emporgestrebt, und immer kam er nur zum Melodram.
Hier war seine Grenze. Diese Versuche sind unerfreulich:
mögen in England die „Geschichte der beiden
Städte“, „Bleak House“ für hohe Schöpfungen gelten, für
unser Gefühl sind sie verloren, weil ihre große Geste eine
erzwungene ist. Die Anstrengung zum Tragischen ist in
ihnen wirklich bewundernswert: in diesen Romanen türmt
Dickens Konspirationen, wölbt große Katastrophen wie
Felsblöcke über den Häuptern seiner Helden, er beschwört
den Schauer der Regennächte, den Volksaufstand und die
Revolutionen, entfesselt den ganzen Apparat des Grauens
und Entsetzens. Aber doch, jener erhabene Schauer stellt
sich nie ein, es wird nur ein Gruseln, der rein körperliche
Reflex des Entsetzens, und nicht der Schauer der Seele.
Jene tiefen Erschütterungen, jene gewitterhaften Wirkungen,
die vor Angst das Herz sehnsüchtig stöhnen lassen
nach der Entladung im Blitz, brechen nie mehr aus seinen
Büchern. Dickens türmt Gefahr über Gefahren, aber man
fürchtet sie nicht. Bei Dostojewski starren manchmal plötzlich
Abgründe, man jappt nach Luft, wenn man dieses
Dunkel, diesen namenlosen Abgrund in der eigenen Brust
aufgerissen fühlt; man fühlt den Boden unter den Füßen
schwinden, spürt einen jähen Schwindel, einen feurigen,
aber süßen Schwindel, möchte gern nieder, niederstürzen,
und schauert doch zugleich vor diesem Gefühl, wo Lust
und Schmerz zu so ungeheuren Hitzegraden weißgeglüht
sind, daß man sie voneinander nicht scheiden kann. Auch
bei Dickens sind solche Abgründe. Er reißt sie auf, füllt
sie mit Schwärze, zeigt ihre ganze Gefahr; aber doch, man
schauert nicht, man hat nicht jenen süßen Schwindel des
geistigen Niederstürzens, der vielleicht der höchste Reiz
künstlerischen Genießens ist. Man fühlt sich bei ihm
immer irgendwie sicher, als hielte man ein Geländer, denn
man weiß, er läßt einen nicht niederstürzen; man weiß,
der Held wird nicht untergehen; die beiden Engel, die mit
weißen Flügeln durch die Welt dieses englischen Dichters
schweben, Mitleid oder Gerechtigkeit, werden ihn schon
unbeschädigt über alle Schründe und Abgründe tragen.
Dickens fehlt die Brutalität, der Mut zur wirklichen Tragik.
Er ist nicht heroisch, sondern sentimental. Tragik ist Wille
zum Trotz, Sentimentalität Sehnsucht nach der Träne.
Zu der tränenlosen, wortlosen, letzten Gewalt des verzweifelten
Schmerzes ist Dickens nie gelangt: sanfte Rührung
– etwa der Tod Doras im „Copperfield“ – ist das
äußerste ernste Gefühl, das er vollendet darzustellen vermag.
Holt er zum wirklich wuchtigen Schwung aus, so
fällt ihm immer das Mitleid in den Arm. Immer glättet
das (oft ranzige) Öl des Mitleids den heraufbeschworenen
Sturm der Elemente; die sentimentale Tradition des englischen
Romans überwindet den Willen zum Gewaltigen.
Denn in England soll das Geschehen eines Romans eigentlich
nur die Illustration der landläufigen moralischen Maximen
sein; durch die Melodie des Schicksals werkelts immer
als Unterton: „Üb immer Treu und Redlichkeit.“ Das
Finale muß eine Apokalypse sein, ein Weltgericht, die
Guten steigen nach oben, die Bösen werden bestraft. Auch
Dickens hat leider diese Gerechtigkeit in die meisten Romane
übernommen, seine Schurken ertrinken, ermorden
sich gegenseitig, die Hochmütigen und Reichen machen
Bankrott, und die Helden sitzen warm in der Wolle. Noch
heute duldet der Engländer kein Drama, das ihn nicht am
Ende mit der Beruhigung entläßt, alles in dieser Welt sei
in schönster Ordnung. Und diese echt englische Hypertrophie
des moralischen Sinnes hat Dickens' grandioseste
Inspirationen zum tragischen Roman irgendwie ernüchtert.
Denn die Weltanschauung dieser Werke, der eingebaute
Kreisel, der ihre Stabilität aufrechterhält, ist nicht die Gerechtigkeit
des freien Künstlers mehr, sondern die eines
anglikanischen Bürgers. Dickens zensuriert die Gefühle,
statt sie frei wirken zu lassen: er gestattet nicht wie Balzac
ihr elementares Überschäumen, sondern lenkt sie durch
Dämme und Gruben in Kanäle, wo sie die Mühlen der
bürgerlichen Moral drehen. Der Prediger, der Reverend,
der common-sense-Philosoph, der Schulmeister, alle sitzen
sie unsichtbar mit ihm in der Werkstatt des Künstlers und
mengen sich ein: sie verleiten ihn, den ernsten Roman
statt ein demütiges Nachbild der freien Wirklichkeiten
lieber ein Vorbild und eine Warnung für junge Leute sein
zu lassen. Freilich, belohnt ward die gute Gesinnung: als
Dickens starb, wußte der Bischof von Winchester an
seinem Werk zu rühmen, man könne es beruhigt jedem
Kinde in die Hände geben; aber gerade dies, daß es das
Leben nicht in seinen Wirklichkeiten zeigt, sondern so,
wie man es Kindern darstellen will, schmälert seine überzeugende
Kraft. Für uns Nichtengländer strotzt und protzt
es zu sehr mit Sittlichkeit. Um Held bei Dickens zu werden,
muß man ein Tugendausbund sein, ein puritanisches
Ideal. Bei Fielding und Smollet, die ja doch auch Engländer
waren, allerdings Kinder eines sinnefreudigeren
Jahrhunderts, schadet es dem Helden absolut nicht, wenn
er einmal bei einem Raufhandel seinem Gegenüber die
Nase eintreibt oder wenn er trotz aller hitzigen Liebe zu
seiner adeligen Dame einmal mit ihrer Zofe im Bette
schläft. Bei Dickens erlauben sich nicht einmal die Wüstlinge
solche Abscheulichkeiten. Selbst seine ausschweifenden
Menschen sind eigentlich harmlos, ihre Vergnügungen
noch immer so, daß sie eine ältliche spinster ohne Erröten
verfolgen kann. Da ist Dick Swiveller der Libertin. Wo
steckt denn eigentlich seine Libertinage? Mein Gott, er
trinkt vier Glas Ale statt zwei, zahlt seine Rechnungen
höchst unregelmäßig, bummelt ein wenig, das ist alles.
Und zum Schluß macht er im rechten Augenblick eine
Erbschaft – eine bescheidene natürlich – und heiratet
höchst anständig das Mädchen, das ihm auf die Bahn der
Tugend half. Wahrhaft unmoralisch sind bei Dickens
nicht einmal die Schurken, selbst sie haben trotz aller böser
Instinkte blasses Blut. Diese englische Lüge der Unsinnlichkeit
sitzt als Brand in seinem Werke; die schieläugige
Hypokrisie, die übersieht, was sie nicht sehen will, wendet
Dickens den spürenden Blick von den Wirklichkeiten.
Das England der Königin Viktoria hat Dickens verhindert,
den vollendet tragischen Roman zu schreiben, der seine
innerste Sehnsucht war. Und es hätte ihn ganz niedergezogen
in seine eigene satte Mediokrität, hätte ihn ganz
mit den klemmenden Armen der Beliebtheit zum Anwalt
seiner sexuellen Verlogenheit gemacht, wäre dem Künstler
nicht eine Welt frei gewesen, in die seine schöpferische
Sehnsucht hätte flüchten können, hätte er nicht jene silberne
Schwinge besessen, die ihn stolz über die dumpfen
Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten hob: seinen seligen
und fast unirdischen Humor.
Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der
Nebel Englands nicht niederhängt, ist das Land der Kindheit.
Die englische Lüge verschneidet die Sinnlichkeit in
den Menschen und zwingt den Erwachsenen in ihre Gewalt;
die Kinder aber leben noch paradiesisch unbekümmert
ihr Fühlen aus, sie sind noch nicht Engländer, sondern
nur kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte Welt
schattet noch nicht der englische Nebelrauch der Hypokrisie.
Und hier, wo Dickens frei, unbehindert von seinem
englischen Bourgeoisgewissen schalten durfte, hat er Unsterbliches
geleistet. Die Jahre der Kindheit in seinen Romanen
sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der
Weltliteratur diese Gestalten vergehen, diese heiteren und
ernsten Episoden der Frühzeit. Wer wird je die Odyssee
der kleinen Nell vergessen können, wie sie mit ihrem
greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen
Städte hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos
und sanft, dies engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten
und Gefahren hinrettend bis ins Verscheiden.
Das ist rührend in einem Sinne, der über alle Sentimentalität
hinausreicht zum echtesten, lebendigsten Menschengefühl.
Da ist Traddles, der fette Junge in seinen geblähten
Pumphosen, der den Schmerz über die erhaltenen
Prügel im Zeichnen von Skeletten vergißt, Kit, der Treueste
der Treuen, der kleine Nickelby und dann dieser eine,
der immer wiederkehrt, dieser hübsche, „sehr kleine und
nicht eben zu freundlich behandelte Junge“, der niemand
anderes ist als Charles Dickens, der Dichter, der seine
eigene Kinderlust, sein eigenes Kinderleid wie kein zweiter
unsterblich gemacht hat. Immer und immer wieder hat er
von diesem gedemütigten, verlassenen, verschreckten,
träumerischen Knaben erzählt, den die Eltern verwaisen
ließen; und hier ist sein Pathos wirklich tränennah geworden,
seine sonore Stimme voll und tönend wie Glockenklang.
Unvergeßlich ist dieser Kinderreigen in Dickens'
Romanen. Hier durchdringt sich Lachen und Weinen,
Erhabenes und Lächerliches zu einem einzigen Regenbogenglanz;
das Sentimentale und das Sublime, das Tragische
und das Komische, Wahrheit und Dichtung versöhnen
sich in ein Neues und Nochniedagewesenes. Hier
überwindet er das Englische, das Irdische, hier ist Dickens
ohne Einschränkung groß und unvergleichlich. Wollte
man ihm ein Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser
Kinderreigen seine eherne Gestalt umringen als den Beschützer,
den Vater und Bruder. Denn sie hat er wahrhaft
als die reinste Form menschlichen Wesens geliebt. Wollte
er Menschen sympathisch machen, so ließ er sie kindlich
sein. Um der Kinder willen hat er die sogar geliebt, die
schon nicht mehr kindlich, sondern kindisch waren, die
Schwachsinnigen und Geistesgestörten. In allen seinen
Romanen ist einer dieser sanften Irren, deren arme verlorene
Sinne weit oben wie weiße Vögel wandern über der
Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein
Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein
seliges, ganz unverständliches, aber schönes Spiel. Es ist
rührend zu sehen, wie er diese Menschen schildert. Er
faßt sie sorgsam an wie Kranke, legt viel Güte um ihr
Haupt wie einen Heiligenschein. Selige sind sie ihm, weil
sie ewig im Paradies der Kindheit geblieben sind. Denn
die Kindheit ist das Paradies in Dickens' Werken. Wenn
ich einen Roman von Dickens lese, habe ich immer eine
wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen; denn
ich weiß, nun geht das Süßeste, das Unwiederbringliche
verloren, nun mischt sich bald das Poetische mit dem Konventionellen,
die reine Wahrheit mit der englischen Lüge.
Und er selbst scheint dieses Gefühl im Innersten zu teilen.
Denn nur ungern gibt er seine Lieblingshelden an das
Leben. Er begleitet sie nie bis ins Alter hinein, wo sie
banal werden, Krämer und Kärrner des Lebens; er nimmt
Abschied von ihnen, wenn er sie emporgeführt hat bis an
die Kirchentür der Ehe, durch alle Fährnisse in den spiegelglatten
Hafen der bequemen Existenz. Und das eine Kind,
das ihm das liebste war in der bunten Reihe, die kleine
Nell, in der er die Erinnerung an eine ihm sehr teure
Frühverstorbene verewigt hatte, sie ließ er gar nicht in die
rauhe Welt der Enttäuschungen, die Welt der Lüge. Sie
behielt er für immer im Paradies der Kindheit, schloß ihr
vorzeitig die blauen sanften Augen, ließ sie ahnungslos
übergleiten von der Helle der Frühzeit in die Dunkelheit
des Todes. Sie war ihm zu lieb für die wirkliche Welt.
Denn diese Welt ist bei Dickens, ich sagte es ja schon,
eine bürgerlich bescheidene, ein müdes, sattes England,
ein enger Ausschnitt der ungeheuren Möglichkeiten des
Lebens. Eine solche arme Welt konnte nur reich werden
durch ein großes Gefühl. Balzac hat den Bourgeois gewaltig
gemacht durch seinen Haß, Dostojewski durch
seine Heilandsliebe. Und auch Dickens, der Künstler, erlöst
diese Menschen von ihrer lastenden Erdschwere: durch
seinen Humor. Er betrachtet seine kleinbürgerliche Welt
nicht mit objektiver Wichtigkeit, er stimmt nicht jenen
Hymnus der braven Leute, der alleinseligmachenden Tüchtigkeit
und Nüchternheit an, der jetzt die meisten unserer
deutschen Heimatkunstromane so widerlich macht. Sondern
er zwinkert seinen Leuten gutmütig und doch lustig
zu, er macht sie wie Gottfried Keller und Wilhelm Raabe
ein ganz klein wenig lächerlich in ihren liliputanischen
Sorgen. Aber lächerlich in einem freundlichen, gutmütigen
Sinne, so daß man sie für alle Schnurren und Skurrilitäten
nur noch lieber hat. Wie ein Sonnenblick liegt der Humor
über seinen Büchern, macht ihre bescheidene Landschaft
plötzlich heiter und unendlich lieblich, voll von tausend
entzückenden Wundern; an dieser guten wärmenden
Flamme wird alles lebendiger und wahrscheinlicher, selbst
die falschen Tränen flimmern wie Diamanten, die kleinen
Leidenschaften flammen wie wirklicher Brand. Der Humor
Dickens' hebt sein Werk über die Zeit hinaus in alle Zeiten.
Er erlöst es von der Langeweile alles Englischen, Dickens
überwindet die Lüge durch sein Lächeln. Wie Ariel
schwebt dieser Humor geisternd durch die Luft seiner
Bücher, füllt sie an mit heimlicher Musik, reißt sie in einen
Tanzwirbel, eine große Freudigkeit des Lebens. Allgegenwärtig
ist er. Selbst aus dem Schacht der finstersten Verwirrungen
funkelt er auf wie ein Bergmannslicht, er löst
die überstraffen Spannungen, er mildert das allzu Sentimentale
durch den Unterton der Ironie, das Übertriebene
durch seinen Schatten, das Groteske, er ist das Versöhnende,
das Ausgleichende, das Unvergängliche in seinem Werk.
Er ist – wie alles bei Dickens – natürlich englisch, ein
echtenglischer Humor. Auch ihm fehlt es an Sinnlichkeit,
er vergißt sich nicht, betrinkt sich nicht an seiner eigenen
Laune und wird nie ausschweifend. Er bleibt in seinem
Überschwang noch gemessen, grölt nicht und rülpst
sich nicht wie Rabelais, überpurzelt sich nicht wie bei
Cervantes vor tollem Entzücken oder springt kopfüber ins
Unmögliche wie der amerikanische. Er bleibt immer aufrecht
und kühl. Dickens lächelt wie alle Engländer nur
mit dem Mund, nicht mit dem ganzen Körper. Seine
Heiterkeit verbrennt sich nicht selbst, sie funkelt nur und
zersplittert ihr Licht in die Adern der Menschen hinein,
flackert mit tausend kleinen Flammen, geistert und irrlichtert
neckisch, ein entzückender Schelm, mitten in den
Wirklichkeiten. Auch sein Humor ist – denn es ist das
Schicksal Dickens', immer eine Mitte darzustellen – ein
Ausgleich zwischen der Trunkenheit des Gefühls, der
wilden Laune und der kaltlächelnden Ironie. Sein Humor
ist unvergleichbar dem der anderen großen Engländer. Er
hat nichts von der zerfasernden, beizenden Ironie Sternes,
nichts von der breitstapfigen, launigen Landedelmannsheiterkeit
Fieldings; er ätzt nicht wie Thackeray schmerzhaft
in den Menschen hinein, er tut nur wohl und nie
weh, spielt wie Sonnenkringel ihnen lustig um Haupt und
Hände. Er will nicht moralisch sein und nicht satirisch,
nicht unter der Narrenkappe irgendeinen feierlichen Ernst
verstecken. Er will überhaupt nicht und nichts. Er ist.
Seine Existenz ist absichtslos und selbstverständlich; der
Schalk steckt schon in jener merkwürdigen Augenstellung
Dickens', verschnörkelt und übertreibt dort die Gestalten,
gibt ihnen jene ergötzlichen Proportionen und komischen
Verrenkungen, die dann das Entzücken von Millionen
wurden. Alles tritt in diesen Kreis von Licht, sie leuchten
wie von innen heraus; selbst die Gauner und Schurken
haben ihren Glorienschein von Humor, die ganze Welt
scheint irgendwie lächeln zu müssen, wenn Dickens sie
betrachtet. Alles glänzt und wirbelt, die Sonnensehnsucht
eines nebligen Landes scheint für immer erlöst. Die Sprache schlägt Purzelbäume, die Sätze quirlen ineinander, springen
weg, spielen Verstecken mit ihrem Sinn, werfen sich einer
dem anderen Fragen zu, necken sich, führen sich irre, eine
Launigkeit beflügelt sie zum Tanz. Unerschütterlich ist
dieser Humor. Er ist schmackhaft ohne das Salz der
Sexualität, das ihm ja die englische Küche versagte; er
ließ sich nicht verwirren dadurch, daß hinter dem Dichter
der Drucker hetzte; denn selbst im Fieber, in Not und
Ärger konnte Dickens nicht anders als heiter schreiben.
Sein Humor ist unwiderstehlich, er saß fest in diesem herrlich
scharfen Auge und verlosch erst mit seinem Licht.
Nichts Irdisches vermochte ihm etwas anzuhaben, und
auch der Zeit wird es kaum gelingen. Denn ich kann mir
Menschen nicht denken, die Novellen wie „Das Heimchen
am Herd“ nicht lieben würden, die der Heiterkeit wehren
könnten bei manchen Episoden dieser Bücher. Die seelischen
Bedürfnisse mögen sich wandeln wie die literarischen.
Aber solange man Sehnsucht nach Heiterkeit haben wird,
in den Augenblicken jener Behaglichkeiten, wo der Lebenswille
ruht und nur das Gefühl des Lebens sanft seine
Wellen in einem rührt, wo man sich nach nichts so sehnt
als nach irgendeiner arglosen melodischen Erregung des
Herzens, wird man nach diesen einzigen Büchern greifen,
in England und überall in der Welt.
Das ist das Große, das Unvergängliche in diesem irdischen,
allzu irdischen Werke: es hat Sonne in sich, es
strahlt und wärmt. Man soll die großen Kunstwerke nicht
allein nach ihrer Intensität fragen, nicht nur nach dem
Menschen, der hinter ihnen stand, sondern auch nach
ihrer Extensität, der Wirkung auf die Mengen. Und von
Dickens wird man wie von keinem in unserem Jahrhundert
sagen können, er habe die Freudigkeit der Welt
gemehrt. Millionen Augen haben bei seinen Büchern in
Tränen gefunkelt; Tausenden, denen das Lachen verblüht
oder verschüttet war, hat er es neu in die Brust gepflanzt:
weit über das Literarische hinaus ging seine Wirkung.
Reiche Leute besannen sich und machten Stiftungen, als
sie von den Brüdern Chereby lasen; Hartherzige wurden
gerührt; die Kinder bekamen – es ist verbürgt –, als „Oliver
Twist“ erschien, mehr Almosen auf den Straßen; die
Regierung verbesserte die Armenhäuser und kontrollierte
die Privatschulen. Das Mitleid und Wohlwollen in England
ist stärker geworden durch Dickens, das Schicksal
von vielen und vielen Armen und Unglücklichen gelindert.
Ich weiß: solche außerordentliche Wirkungen haben nichts
zu tun mit der ästhetischen Wertung eines Kunstwerkes.
Aber sie sind wichtig, weil sie zeigen, daß jedes ganz große
Werk über die Welt der Phantasie hinaus, wo ja jeder
schaffende Wille zauberhaft frei schweifen kann, auch in
der realen Welt Wandlungen hervorbringt. Wandlungen
im Wesentlichen, im Sichtbaren und dann in der Temperatur
des Gefühlsempfindens. Dickens hat – im Gegensatz
zu den Dichtern, die für sich selbst um Mitleid und
Zuspruch bitten – die Heiterkeit und Lust seiner Zeit gemehrt,
ihren Blutkreislauf befördert. Die Welt ist heller
geworden seit dem Tage, da der junge Stenograph des
Parlaments zur Feder griff, um von Menschen und Schicksalen
zu schreiben. Er hat seiner Zeit die Freude gerettet
und den späteren Generationen den Frohsinn jenes „merry
old England“, des England zwischen den Napoleonskriegen
und dem Imperialismus. Nach vielen Jahren wird man
noch zurückschauen nach dieser dann schon altväterischen
Welt mit ihren seltsamen, verlorenen Berufen, die längst
im Mörser des Industrialismus zerpulvert sein werden, wird
sich vielleicht hineinsehnen in dies Leben, das arglos war,
voll von einfachen, stillen Heiterkeiten. Dickens hat dichterisch
die Idylle Englands geschaffen – das ist sein Werk.
Achten wir dieses Leise, das Zufriedene nicht zu gering
gegenüber dem Gewaltigen: auch die Idylle ist ein Ewiges,
eine uralte Wiederkehr. Das Georgikon oder Bukolikon,
das Gedicht des fliehenden, vom Schauer des Begehrens
ausruhenden Menschen ist hier erneut, so wie es immer im
Umschwung der Generationen wieder sich erneuern wird.
Es kommt, um wieder zu vergehen, die Atempause zwischen
den Erregungen, das Kraftgewinnen vor oder nach
der Anstrengung, die Sekunde der Zufriedenheit im rastlos
hämmernden Herzen. Andere schaffen die Gewalt,
andere die Stille. Charles Dickens hat einen Augenblick
der Stille in der Welt zum Gedicht gefügt. Heute ist das
Leben wieder lauter, die Maschinen dröhnen, die Zeit
saust in rascherem Umschwung. Aber die Idylle ist unsterblich,
weil sie Lebensfreude ist; sie kehrt wieder wie
der blaue Himmel hinter den Wettern, die ewige Heiterkeit
des Lebens nach allen Krisen und Erschütterungen
der Seele. Und so wird auch Dickens immer wieder aus
seiner Vergessenheit wiederkehren, wenn Menschen der
Fröhlichkeit bedürftig sind und, ermattet von den tragischen
Anspannungen der Leidenschaft, auch aus den leisern
Dingen die geisterhafte Musik des Dichterischen werden
vernehmen wollen.
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