VIERTES KAPITEL
Es poltert zur Hochzeit;
die Alte wird ums Geld genommen
Das Heu war unter Dach, Roggen und Weizen geborgen.
Der Sommer war zu Ende und er war gut gewesen.
– Er hat Glück, der Kerl! sagte Gustav über Carlsson,
dem man nicht ohne Grund die Erhöhung des Wohlstandes
zuschrieb.
Der Strömling war gekommen, und alle Männer außer
Carlsson waren draußen in den äußersten Schären, als die
Familie des Professors zur Eröffnung der Oper nach Haus
mußte.
Carlsson hatte auch das Packen übernommen und lief den
ganzen Tag mit der Bleifeder hinterm Ohr herum; trank
Bier am Küchentisch, im Eßzimmer, im Vorbau. Hier
kriegte er einen abgelegten Strohhut, dort ein Paar ausgetretene
Segelschuhe; eine Pfeife, ungerauchte Zigarren nebst
Spitze, leere Schachteln und Flaschen, Angelruten und Liebigbüchsen,
Korke, Bindfaden, Nägel – alles, was man nicht
mitnehmen konnte oder für unnötig hielt.
Es fielen so viele Brosamen von des Reichen Tische, und
man hatte allgemein das Gefühl, man werde die Abreisenden
vermissen; von Carlsson an, der seine Liebste verlor, bis
hinunter zu den Hühnern und Ferkeln, die nicht länger
Sonntagsessen aus der herrschaftlichen Küche bekamen. Am
wenigsten bitter war der Kummer für die verlassenen Mägde Clara und Lotte; trotzdem sie so manche gute Tasse Kaffee
bekommen hatten, wenn sie Milch hinaufbrachten, fühlten sie
doch, ihr Frühling werde wiederkommen, wenn nur der Herbst
die Mitbewerberinnen auf dem Liebesmarkte entfernte.
Am Nachmittage, als der Dampfer kam und anlegte, um
die Familie abzuholen, war große Aufregung auf der Insel,
denn noch nie hatte dort ein Dampfer angelegt.
Carlsson leitete die Landung, gab Befehle und führte das
große Wort, während der Dampfer an die Brücke heranzukommen
suchte. Da aber hatte er sich auf ein Eis begeben, das
ihn nicht tragen konnte, denn das Seewesen war ihm fremd;
und gerade in dem stolzen Augenblick, als die Leine geworfen
wurde und er, in Idas und der Herrschaft Gegenwart, seine
Gewandtheit zeigen wollte, kriegte er einen Arm voll Tau
von oben auf den Kopf, daß ihm die Mütze heruntergeschlagen
wurde und in die See fiel. In einem und demselben Augenblick
wollte er die Trosse anziehen und nach der Mütze greifen;
aber der Fuß blieb in einer Fuge hängen, er machte
einige Tanzschritte und fiel nieder, während der Kapitän ihn
schalt und die Matrosen ihn auslachten. Ida wandte sich
fort, böse über das ungeschickte Benehmen ihres Helden; beinahe
hätte sie geweint, so schämte sie sich seinetwegen. Mit
einem kurzen Lebewohl ließ sie ihn schließlich am Landungssteg
zurück; und als er ihre Hand behalten und vom nächsten
Sommer, von Briefwechsel und Adresse plaudern wollte,
wurde der Landungssteg ihm unter den Füßen fortgerissen;
er kippte nach vorn über, und die nasse Mütze rutschte ihm in
den Nacken; gleichzeitig brüllte der Steuermann ihm von der
Kommandobrücke aus zu:
– Wirst du endlich das Tau losmachen!
Ein neuer Schauer Scheltworte hagelte auf den unglücklichen
Liebhaber nieder, ehe er die Trosse losbekam.
Der Dampfer fuhr den Sund hinunter, und wie ein Hund,
dessen Herr fortreist, lief Carlsson am Strande entlang,
sprang auf Steine, strauchelte über Wurzeln, um die Landzunge
zu erreichen, auf der er seine Flinte hinter einem Erlenbusch
versteckt hatte, um den Ehrengruß abzugeben. Aber er
mußte mit dem falschen Bein zuerst aus dem Bett gestiegen
sein, denn gerade, als der Dampfer vorbeifuhr und er die
hoch erhobene Flinte abfeuern wollte, versagte der Schuß. Er
warf die Flinte ins Gras, holte sein Taschentuch heraus und
winkte; lief am Strande entlang und schwang sein blaues
Taschentuch, hurrahte und schnaubte.
Vom Dampfer aber antwortete niemand; nicht eine Hand
erhob sich, nicht ein Taschentuch bewegte sich. Ida war verschwunden!
Aber unermüdlich, rasend lief er über Granitfindlinge,
sprang ins Wasser, stürzte gegen Erlenbüsche, kam an einen
Feldzaun und fuhr halb durch ihn hindurch, daß er sich an
den Pfählen riß. Schließlich, gerade als das Boot hinter der
Landzunge verschwinden wollte, stieß er auf eine Schilfbucht;
ohne sich zu bedenken, sprang er ins Wasser, schwang noch
ein Mal sein Taschentuch und stieß ein letztes verzweifelndes
Hurrah aus. Das Achter des Dampfers kroch hinter die Kiefern,
und er sah, wie der Professor mit seinem Hut zum Abschied
winkte. Dann fuhr der Dampfer hinter die Waldspitze,
die blaugelbe Flagge mit dem Posthorn hinter sich her schleppend,
die noch ein Mal zwischen den Erlen hindurch schimmerte.
Dann war alles verschwunden, nur der lange schwarze
Rauch lag noch auf dem Wasser und machte die Luft dunkel.
Carlsson plumpste ans Land und ging Schritt vor Schritt
zu seiner Flinte zurück. Er blickte sie mit bösen Blicken an,
als sehe er eine andere, die ihn im Stich gelassen; er schüttelte
die Pfanne, setzte ein neues Zündhütchen auf und feuerte ab.
Darauf kam er an die Landungsbrücke zurück. Er sah den
ganzen Auftritt noch ein Mal; wie er gleich einem Hanswurst
auf den Brückenplanken umher tanzte; hörte das Lachen und
Schelten, erinnerte sich an Idas verlegene Blicke und kalten
Handschlag; spürte noch den Dunst von Steinkohlenrauch
und Maschinentalg, vom Bratenfett aus dem Küchenherd und
von der Ölfarbe der Schiffsbekleidung.
Der Dampfer war hierher in sein künftiges Reich gekommen
und hatte Stadtmenschen mitgebracht, die ihn verachteten;
die ihn in einem Augenblick von seiner Leiter herabstürzten,
auf deren Sprossen er schon ein gutes Stück hinauf
geklettert war; die ihm – er schluckte in der Halsgrube –
sein Sommerglück und seine Sommerfreude entführten.
Er blickte eine Weile ins Wasser, das die Radschaufeln
zu einer einzigen Brühe aufgerührt hatten, auf deren Oberfläche
Ruß in Flocken und Öl in Spiegeln lag; diese Spiegel
flammten in Regenbogenfarben wie eine alte Fensterscheibe.
Allen möglichen Schmutz hatte das Untier in der kurzen
Zeit von sich gegeben und damit das klare grüne Wasser
verunreinigt: Bierkorke, Eierschalen, Zitronenrinde, Zigarrenstummel,
abgebrannte Streichhölzchen, Papierfetzen, mit
denen Ukeleis spielten. Es war, als sei der Rinnstein der
ganzen Stadt hierher geflossen und habe auf ein Mal Unrat
und Schelte ausgeworfen.
Es war ihm einen Augenblick schaurig zu Mut, als er
daran dachte: wenn er sich wirklich seine Liebste erringen
wollte, müsse er in die Stadt, in die Gassen und Rinnsteine,
wo es den hohen Tagelohn und den feinen Rock gab, Gaslaternen
und Schaufenster, das Mädchen mit Krause, Manschetten
und Knöpfstiefeln; wo es alles gab, was lockte. Aber
er haßte die Stadt auch, wo er der Letzte war, wo seine
Mundart ausgelacht wurde, seine grobe Hand die feinen
Arbeiten nicht leisten konnte; wo seine mannigfachen Fertigkeiten
nichts abzuwerfen vermochten. Und doch mußte er
daran denken, denn Ida hatte gesagt, einen Bauernknecht
werde sie nie heiraten, und Bauer konnte er nicht werden!
Konnte er nicht?
Der Sund kräuselte sich, und ein kühler Wind, der immer
stärker wurde, rührte das Wasser auf; das schlug gegen die
Brückenpfähle, fegte den Ruß fort und klärte den blanken
Abendhimmel auf. Das Rauschen der Erlen, das Plätschern
der Wellen, das Zerren der Boote, rissen ihn aus seinen Gedanken.
Er warf die Flinte über die Schulter und wanderte
heimwärts.
Der Weg ging unter den Haselbüschen über einen Hügel;
auf dem stand noch eine höhere Grausteinwand, die mit Kiefern
bewachsen war; die hatte er noch nie besucht.
Von Neugier gelockt, kletterte er zwischen Farnkraut und
Himbeerdickicht hinauf; bald stand er oben auf einem Grausteinfelsen,
auf dem ein Seezeichen errichtet war.
Im Sonnenuntergang lag die Insel vor ihm ausgebreitet;
mit einem einzigen Rundblick konnte er ihre Wälder und
Äcker, Wiesen und Häuser übersehen; und dahinter Holme,
Kobben, Schären, bis aufs offene Meer hinaus. Es war ein
großes Stück der schönen Erde, und Wasser, Bäume, Steine:
alles konnte sein werden, wenn er nur die Hand ausstreckte,
die eine nur, und die andere zurückzog, die nach Eitelkeit,
Bettlust und Armut griff. Es brauchte kein Versucher neben
ihm zu stehen und zu betteln, vor diesem Bild auf die Knie
zu fallen, das die zauberischen Strahlen einer sinkenden Sonne
rosig färbten; auf dem blaues Wasser, grüne Wälder, gelbe
Äcker, rote Hütten sich zu einem Regenbogen mischten, der
auch einen schärferen Verstand betört hätte, als ein Bauernknecht
ihn hat.
Von der absichtlichen Vernachlässigung der Treulosen gereizt,
die in fünf Minuten das letzte kleine Versprechen, ihm
zum Abschied zu winken, vergessen; von den Schimpfworten
der übermütigen Stadtflegel so verletzt, als habe er den Stock
gekostet; vom Anblick der fetten Erde, der fischreichen Gewässer,
der warmen Hütten entzückt, faßte er seinen Entschluß:
einen letzten Versuch oder zwei zu machen, um das
falsche Herz zu prüfen, das ihn vielleicht schon vergessen
hatte; dann aber zu nehmen, was gewonnen werden konnte,
ohne daß man stahl.
Als er nach Haus zurückkehrte und die Großstuga leer stehen, die Rollgardinen herabgelassen, Stroh und leere Kisten draußen herumliegen sah, würgte es ihn im Halse, als habe er Apfelstücke quer geschluckt.
Als er nach Haus zurückkehrte und die Großstuga leer stehen, die Rollgardinen herabgelassen, Stroh und leere Kisten draußen herumliegen sah, würgte es ihn im Halse, als habe er Apfelstücke quer geschluckt.
Nachdem er seine Andenken an die ziehenden Sommergäste
in einen Sack gesammelt, schlich er so lautlos wie möglich auf
seine Kammer hinauf. Dort verbarg er seine Schätze unter
dem Bett, setzte sich an den Schreibtisch, holte Papier und Feder
hervor und machte sich bereit, einen Brief zu schreiben.
Die erste Seite ergoß sich in einem einzigen Wortstrom,
teils aus seiner eigenen Vorratskammer, teils aus der »Sagengeschichte«
und den »Schwedischen Volksliedern« von
Afzelius; die hatten einen starken Eindruck auf ihn gemacht,
als er sie beim Verwalter in Wärmland gelesen.
– Liebe, geliebte Freundin! begann er. Einsam sitze ich
hier auf meinem Kämmerchen und sehne mich ganz furchtbar
nach Dir, Ida. Als sei es gestern gewesen, weiß ich noch,
wie Du hierher kamst: wir säeten Frühlingsroggen und der
Kuckuck rief im Ochsenhag. Jetzt ist es Herbst, und die Burschen
sind draußen auf der Schäre, um Strömling zu fangen.
Ich würde nicht so viel danach fragen, wenn Du nicht abgereist
wärst, ohne mich vom Dampfer noch ein Mal zu grüßen,
wie es der Professor so freundlich vom Achterdeck getan,
als der Dampfer an der Landzunge vorbei fuhr. Es war leer
wie ein Loch nach Dir heute Abend, und das ist vor allem
der Grund, warum der Kummer so schwer lastet. Damals
beim Schnittertanz hast Du etwas versprochen, Ida, erinnerst
Du Dich noch? Ich erinnere mich so gut, als hätte ich’s aufgeschrieben;
aber ich bin auch im Stande, zu halten, was
ich verspreche. Dazu sind aber nicht alle im Stande; doch
das ist einerlei, und ich frage nicht so genau danach, wie die
Menschen gegen mich sind; die ich aber einmal liebe, die vergesse
ich nicht; das möchte ich gesagt haben.
Die Trauer des Vermissens hatte sich jetzt gelegt, und die
Bitterkeit kam; die Furcht vor unbekannten Nebenbuhlern
tauchte auf, vor den Versuchungen der Stadt mit ihren Vergnügungen;
und im Bewußtsein, daß er außer Stande sei,
den befürchteten Sündenfall zu verhüten, schlug er die edlern
Gefühle an. Sofort kamen ihm alte Erinnerungen an die
Zeit, da er Reiseprediger war. Er wurde hochgestimmt, streng,
sittlich; ein strafender Rächer, durch dessen Mund ein anderer
sprach:
– Wenn ich bedenke, wie Du jetzt allein in der großen
Stadt umhergehst, ohne daß ein Arm Dich stützt, der Gefahr
und Versuchung von Dir abwenden kann; wenn ich an alle
die sündhaften Gelegenheiten denke, die den Weg breit und
den Fuß leicht machen, fühle ich einen Stich in meinem Herzen;
ist mir’s, als habe ich vor Gott und Menschen unrecht
getan, daß ich Dich ins Garn der Sünde ließ; wie ein Vater
hätte ich Dir sein sollen, Ida; und Du hättest dem alten
Carlsson wie einem rechten Vater vertraut ...
Bei den Worten »Vater« und »alter Carlsson« wurde er
weich und erinnerte sich an das letzte Begräbnis, das er mitgemacht
hatte.
– Einem Vater, der immer Nachsicht und Verzeihung im
Herzen und auf den Lippen hat. Wer weiß, wie lange der
alte Carlsson (er liebte das Wort bereits!) hier noch wandelt;
wer weiß, ob nicht die Zahl seiner Tage gezählt ist, wie
die Wassertropfen in der See oder die Sterne in der Luft;
vielleicht, ehe man sich’s versieht, liegt er da wie trockenes
Heu ... Dann wird vielleicht jemand ihn ausgraben wollen,
der’s jetzt nicht glaubt; aber wir wollen hoffen und beten,
daß er noch den Tag erlebt, da die Blumen wieder aus
der Erde kommen und die Turteltaube sich in unserem Lande
hören läßt. Dann ist eine liebliche Zeit für
manchen, der
jetzt klagt und seufzt und mit dem Psalmisten singen möchte ...
Er hatte vergessen, was der Psalmist sang, und mußte das
Testament aus seinem Kasten holen, um nachzuschlagen. Aber
er hatte die Wahl zwischen hundert Psalmen, und Clara rief
schon zum Abendbrot; er mußte also aus der Menge einen
herausgreifen, und er nahm:
– Die Weiden in der Wüste sind auch fett, daß sie triefen;
und die Hügel umher sind lustig; die Anger sind voll
Schafe, und die Auen stehen dick mit Korn, daß man jauchzet
und singet.
Als er die Stelle durchlas, fand er darin eine glückliche Anspielung
auf die Vorzüge, die das Landleben vorm Stadtleben hat;
und da das gerade der wunde Punkt war, beschloß
er, ihn nicht mehr zu berühren, sondern die Anspielung für
sich sprechen zu lassen.
Dann überlegte er, was er noch schreiben solle; fühlte sich
hungrig und müde; konnte sich nicht verhehlen, daß es
schließlich einerlei sei, was er schrieb, denn Ida war ihm
doch wohl verloren, bis der Frühling wiederkam.
Dann aber wurde er wieder von dem Gedanken gequält,
daß ein Anderer sie besitzen könne, und mit kaltem Blute beschloß
er, im Voraus die Kanonen der unbekannten Feinde zu
vernageln. Darum fügte er eine Nachschrift an, nachdem er
mit »Getreu und ergeben« unterzeichnet hatte.
N. S. Du mußt Dich vor Berns Salon und Blanks Café
hüten, Ida, denn der Professor sagte, alle jungen Leute in
Stockholm seien angesteckt und ... (Am besten, man haut ihn
gleich nieder, dachte er, da er doch in einigen Tagen mit den
Fischen nach der Stadt fahren soll.) Norman ist auch angesteckt
worden. (Um aber, falls es nötig sein sollte, eine rückwirkende
abschreckende Wirkung zu erzielen, setzte er hinzu:)
als er im vorigen Jahre Soldat war.
D. O.
Darauf ging er in die Küche hinunter, um zu Abend zu essen.
Darauf ging er in die Küche hinunter, um zu Abend zu essen.
Es war dunkel geworden und der Wind hatte sich aufgemacht.
Unruhig kam die Alte und setzte sich an den Tisch, an
dem sich Carlsson niedergelassen, nachdem er ein Talglicht
angesteckt hatte. Die Mädchen gingen still und abwartend zwischen
Herd und Tisch hin und her.
– Carlsson, Ihr sollt heute Abend ein Glas Branntwein
haben, sagte die Alte. Ich sehe, Ihr habt es nötig.
– Ja, ja, es war nicht so leicht, die Sachen an Bord zu
bringen, antwortete Carlsson.
– Darum müßt Ihr Euch jetzt ausruhen, meinte die Alte
und ging nach dem Stundenglas. Was das für ein Wind
heute Abend ist, und von Osten kommt er auch; die Burschen
werden es heute Nacht schwer haben mit den Netzen.
Da kann ich ihnen nicht helfen; übers Wetter vermag ich
nichts, biß Carlsson den Faden ab. Aber nächste Woche muß
es schön werden; da denke ich mit dem Trebel nach der Stadt
zu fahren, um selbst mit dem Fischhändler zu sprechen.
– Soso, das wollt Ihr, Carlsson?
– Ja, ich finde, die Burschen erzielen nicht den richtigen
Preis für die Fische; und das muß doch wohl an irgend etwas
liegen; wer nun die Schuld haben mag.
Die Alte zupfte am Tisch und dachte wohl, ein anderes Geschäft
als der Fischhandel führe ihn nach der Stadt.
– Hm! sagte sie. Dann seid Ihr wohl so gut und sprecht
beim Professor vor?
– Ja, das tue ich wohl, wenn ich Zeit habe; er hat nämlich
einen Flaschenkorb hier vergessen ...
– Sehr nette Menschen waren es jedenfalls ... Wollt
Ihr nicht noch eine Halbe nehmen, Carlsson?
– Danke sehr, Tante! Ja, das waren feine Leute, und
ich glaube, sie kommen wieder, wenigstens nach dem, was ich
von Ida hörte.
Mit großem Vergnügen sprach er den Namen aus, und
er legte seine ganze Überlegenheit hinein. Die Alte fühlte
auch, wie sehr sie ihm unterlegen war; eine Glut stieg ihr in
die Wangen und ein Brand in die Augen.
– Ich glaubte, es sei aus zwischen Euch und Ida, flüsterte
die Alte.
– Nein behüte, weit davon, antwortete Carlsson, der
sehr wohl fühlte, wie er seine Schnur einholen mußte und
daß etwas am Haken saß.
– Wollt ihr euch denn heiraten?
– Gewiß, wenn die Zeit kommt; aber ich muß mich erst
nach einer neuen Stellung umhören.
Es zuckte in dem gefurchten Gesicht der Alten, und die
magere Hand zupfte und zupfte, wie die Hand eines Fieberkranken
am Laken zupft.
– Ein Mal muß es doch sein, antwortete Carlsson; früher
oder später will man sein eigener Herr werden; und sich für
andere abarbeiten, tut man auch nicht gern um nichts.
Clara war mit dem Mehlbrei gekommen, und Carlsson
wurde plötzlich von einer Lust erfaßt, mit ihr zu schäkern.
– Nun, Clara, seid ihr nicht bange davon, heute Nacht
allein schlafen zu müssen, da die Burschen fort sind? Vielleicht
wollt ihr, daß ich hinunterkomme und euch Gesellschaft
leiste?
– Oh, das ist durchaus nicht nötig! antwortete Clara.
Carlsson faßte sie beim schwellenden Oberarm und spielte
den Bösen:
– Was ist nicht nötig? Was weißt du, Clara, davon,
was ich nötig habe?
– Ist denn Ida Euch nicht genug gewesen? Ich hörte einen
Vogel singen, daß Ihr Euch Hilfe habt nehmen müssen!
Carlsson wurde rot bis in die Kopfhaut, über das Gesicht
der Alten aber huschte Hoffnung, Neugier und Überraschung.
Einen Augenblick herrschte Schweigen in der Küche, während
Carlsson nachdachte, welche Antwort am vorteilhaftesten
sei. Man hörte, wie draußen der Sturm durch den Wald
sauste, das Laub von den Birken riß, an den Feldzäunen rüttelte,
an Wetterfahnen und Dachtraufen zauste. Zuweilen
fuhr ein Windstoß in den Schornstein hinein und blies Feuer
und Rauch aus vom Herdmantel, daß Lotte sich die Hand
vor Augen und Mund halten mußte.
Als der Wind einen Augenblick ausblieb, hörte man das
offene Meer gegen die östliche Landspitze schlagen. Plötzlich
gab der Hund draußen auf dem Hofe Hals, und das Gebell
entfernte sich, als sei der Hund jemandem entgegen gesprungen,
um ihn zu begrüßen oder zu bedrohen.
– Seht bitte nach, wer das sein kann, sagte die Alte zu
Carlsson.
Der stand sofort auf, froh, auf Claras heikle Frage nicht
antworten zu müssen, und ging zur Tür hinaus. Er sah nur
ein Dunkel, das so dick war, daß man es mit Messern schneiden
konnte; und der Wind empfing ihn mit einem Stoß, daß
ihm das Haar wie Erbsensträucher um den Kopf stand. Er
lockte den Hund, aber das Gebell war bereits unten auf der
Quellwiese und klang jetzt freudig, als erkenne das Tier einen
Menschen.
– Es kommt so spät noch Besuch, sagte Carlsson zur Alten,
die sich in die Tür stellte. Wer kann das sein? Ich muß wohl
gehen und nachsehen. Clara, steck die Laterne an und gib mir
meine Mütze!
Er bekam die Laterne und arbeitete sich gegen den Wind
auf die Wiese hinaus, folgte dem Gebell und gelangte in
das Kieferngehölz, das die Wiese vom Strande trennte. Das
Gebell war verstummt, aber zwischen den rauschenden und
knackenden Föhren hallten Schritte von eisernen Haken gegen
den Bergfelsen; krachten Zweige, die jemand brach, der seinen
Weg suchte; spritzten Wasserlachen auf; antworteten Flüche
auf das Winseln des Hundes.
– Wer da? rief Carlsson.
– Der Pastor! antwortete eine rostige Stimme.
Carlsson sah Funken sprühen, die ein eiserner Haken an
einem Granitfindling schlug, und aus einem Dickicht stürzte
ein kleiner, breitschultriger Mann den Hügel hinab. Das
grobe, wetterharte Gesicht wurde von wildem, grauem Backenbart
eingerahmt und von kleinen scharfen Augen belebt, deren
Brauen Astmoos glichen.
– Herr Jesus, sind Sie’s, Herr Pastor? In diesem Hundewetter
unterwegs? beantwortete Carlsson achtungsvoll die
Willkommsflüche seines Seelsorgers. Aber wo ist denn das
Boot?
– Es ist das Fischerboot, und das hat Robert in den Hafen
gebracht. Laß uns nur unter Dach kommen, denn heute
Abend weht der Wind einem durch den Leib. Vorwärts
marsch!
Carlsson ging mit der Laterne voran und der Pastor folgte,
während der Hund in den Büschen herumschnüffelte, nach
einem Birkhuhn, das sich eben erhoben und in den Bruch gerettet
hatte.
Die Alte war dem Laternenschein auf den Hof hinaus entgegen
gegangen; als sie den Pastor erkannte, freute sie sich
und hieß ihn willkommen.
Der Pastor hatte Fische nach der Stadt bringen wollen
und war unterwegs vom Sturm überrascht worden, der ihn
zum landen zwang. Er fluchte und schalt, weil er nicht zur
Zeit nach der Stadt kommen konnte, um seine Fische los zu
werden.
– Jetzt sind ja alle Teufel draußen und kratzen nach jedem
einzigen Fisch, der im Wasser lebt.
Die Alte wollte ihn in die Stube führen, er aber ging geradeswegs
in die Küche hinein, denn er zog das Herdfeuer
vor: dort konnte er trocken werden.
Wärme und Licht schienen indessen dem Pastor nicht gut
zu bekommen; er zwinkerte mit den Augen, als wolle er sich
ermuntern, während er die nassen Schmierstiefel auszog.
Carlsson half ihm unterdessen aus einer graugrünen Joppe,
die mit Schaffell gefüttert war. Bald saß der Pastor in wollenem Wams und bloßen Strümpfen an der Ecke des Tisches,
den die Alte abgeräumt und mit Kaffeegeschirr gedeckt
hatte.
Wer Pastor Nordström nicht kannte, hätte nicht vermutet,
daß dieser Fischer ein geistliches Amt bekleidete; so sehr hatten
dreißig Jahre Seelsorge draußen in den Schären den Mann
verwandelt, der einst recht fein gewesen war, als er von der
Universität Uppsala kam. Ein äußerst knappes Gehalt hatte
ihn genötigt, sein Auskommen aus See und Acker zu ergänzen;
und da es auch dann noch nicht reichte, mußte er sich an
den guten Willen seiner Gemeinde wenden, den er durch geselliges
Wesen, sich seiner Umgebung anpassend, lebendig erhielt.
Doch zeigte sich der gute Wille meist in Kaffeehalben und
Bewirtungen, die an Ort und Stelle verzehrt werden mußten,
also den Wohlstand des Pfarrhauses nicht erhöhen konnten;
eher unvorteilhaft auf den physischen und moralischen Zustand
des Empfängers wirkten. Außerdem wußten die Schärenleute
aus teuern Erfahrungen, wie in Seenot Gott nur dem
half, der sich selber half; auch waren sie unfähig, einen starken
östlichen Wind mit dem augsburgischen Bekenntnis in Zusammenhang
zu bringen. Sie machten sich deshalb wenig aus
der kleinen hölzernen Kapelle, die sie hatten bauen lassen.
Der Kirchgang, der durch lange Ruderfahrten erschwert oder
von ungünstigen Winden unmöglich gemacht wurde, war
mehr eine Art Volksmarkt, auf dem man Bekannte traf, Geschäfte
machte, Ankündigungen hörte. Und der Pastor war
die einzige Behörde, mit der man in Berührung kam; der
Amtmann, der die Polizeigewalt ausübte, wohnte weit entfernt
und wurde bei Rechtssachen nie bemüht; die machte man
vielmehr unter einander ab, mit einigen dänischen Küssen
oder einem Schoppen Branntwein.
Nicht eine Spur von Latein und Griechisch konnte man
in dieser vom Herdfeuer und zwei Talglichtern beleuchteten
Gestalt sehen, einer Kreuzung von Bauer und Seemann.
Die einstmals weiße Hand, die in ihrer ganzen Jugend in
Büchern geblättert hatte, war braun und borkig, hatte gelbe
Leberflecke von Salzwasser und Sonnenbrand, war hart und
schwielig von Rudern, Segeln, Steuern; die Nägel waren
halb abgenagt und trugen von der Berührung mit Erde und
Geräten schwarze Ränder. Die Ohrmuscheln waren mit Haar
zugewachsen und gegen Katarrh und Fluß von Bleiringen
durchbohrt. Aus der auf das wollene Wams aufgenähten Ledertasche
hing eine Haarschnur, die einen Uhrschlüssel aus
einem gelben Metall mit einem Karneol trug. In die feuchten
wollenen Strümpfe hatte die große Zehe Löcher gerissen,
welche die schlingernden Bewegungen der Füße unter dem
Tisch unablässig verbergen wollten. Das Wams war unter
den Armen von Schweiß gelbbraun geworden, und der Hosenschlitz
stand halb offen, weil Knöpfe fehlten.
Er holte eine kurze Pfeife aus der Hosentasche, klopfte
sie, während allgemeines achtungsvolles Schweigen herrschte,
gegen die Tischkante aus, daß sich ein kleiner Maulwurfshaufen
von Asche und sauerm Tabak auf den Boden legte.
Aber die Hand war unsicher und das Stopfen ging unregelmäßig
vor sich; war zu umständlich, um nicht Unruhe zu erregen.
– Wie steht es heute Abend mit Ihnen, Herr Pastor? Ich
glaube, Sie sind nicht ganz wohl, fuhr die Alte dazwischen.
Der Pastor hob das auf die Brust gesunkene Haupt, sah
sich nach den Balken der Decke um, als suche er nach der
Sprechenden.
– Ich? sagte er und stopfte eine Prise Tabak am Pfeifenkopf
vorbei. Dann schüttelte er den Kopf, als wolle er in
Frieden gelassen werden, und versank in schwermütige Gedanken
ohne bestimmte Form.
Carlsson sah, wie es stand, und flüsterte der Alten zu:
– Er ist nicht nüchtern!
Und im Glauben, einschreiten zu müssen, nahm er die
Kaffeekanne und goß die Tasse des Pastors voll, stellte die
Branntweinflasche daneben und bat ihn mit einer Verbeugung,
fürlieb zu nehmen.
Mit einem vernichtenden Blick hob der Alte seinen grauen
Kopf, als wolle er, daß der Schlag Carlsson rühre; mit
Ekel die Tasse von sich schiebend, spuckte er aus:
– Bist du hier zu Hause, Knecht?
Dann wendete er sich zur Alten:
– Gebt mir eine Tasse Kaffee, Frau Flod!
Und dann versank er für eine Weile in tiefes Schweigen,
sich vielleicht an die Größe früherer Tage erinnernd und erwägend,
wie die Unverschämtheit beim Volk überhand nahm.
– Verfluchter Knecht! schnaubte er noch ein Mal. Mach,
daß du hinauskommst, und hilf Robert beim Boot!
Carlsson versuchte es mit Schmeichelei, wurde aber sofort
unterbrochen:
– Weißt du nicht, wer du bist?
Carlsson verschwand durch die Tür.
Nachdem sich der Pastor mit einem Schluck aus der Tasse
erfrischt hatte, fuhr er die Alte an, die eine Entschuldigung
für den Knecht zu drechseln suchte:
– Habt ihr die Zugnetze draußen?
– Ja, lieber Herr Pastor, öffnete die Alte die Schleusen,
und alle Schleppnetze auch. Um sechs herum konnte noch niemand
wissen, daß für die Nacht Sturm kommen werde; und
ich kenne Gustav. Er würde eher zu Grunde gehen, als daß
er das Garn heute Nacht liegen ließe.
– Sagen Sie das nicht, Herr Pastor! Mag das Garn
meinetwegen draufgehen, es steckt zwar ein gut Stück Geld
darin, wenn nur der Junge heil aus der Sache herauskommt ...
– Er wird doch nicht so dumm sein, die Netze in diesem
Wetter aufzunehmen? Die ganze See liegt ja darauf!
– Das gerade kann man von ihm erwarten! Wie der Vater
hat er immer etwas Besonderes vorstellen wollen, und er
wäre im Stande, sein Leben daran zu setzen, um die Zugnetze
nicht verloren gehen zu lassen.
– Ist es so mit ihm bestellt, Frau, dann kann ihm selbst
der Teufel nicht helfen! Übrigens es fischt sich gut! Wir
waren vergangene Woche mit sechs Schleppnetzen draußen
bei den Erlenkobben, und wir haben achtzehn mal achtzig gefangen.
– War der Strömling denn auch fett?
– Das will ich meinen, fett wie Butter. Aber sagt mal,
Frau Flod, was ist das für ein Geschwätz, das von Euch umläuft:
Ihr sollt daran denken, Euch wieder zu verheiraten?
Ist das wahr?
– Ei potztausend, brach die Alte los, sagt man das? Das
ist doch toll, was die Leute schwatzen können.
– Mir geht es ja nicht zu nahe, erwiderte der Pastor;
verhält es sich aber so, wie man sagt, daß es sich um den
Knecht handelt, so wäre es um den Jungen schade.
– Oh, für den Jungen ist keine Gefahr, und einen schlechtern
Stiefvater hat mancher gekriegt.
– Es ist also wahr, höre ich. Brennt es noch so heftig in
dem alten Körper, daß Ihr’s nicht mehr aushalten könnt?
Das Fleisch will das Seine haben, und der Pfahl sitzt da,
hahaha!
Hier warf der Pastor einen prüfenden Blick auf Clara und
Lotte, um zu sehen, wie sie aussahen, wenn sie verlegen wurden;
sie sahen wirklich recht schelmisch aus, wie sie vergebens
das Lachen zu verbeißen suchten, denn der Pastor fühlte sich
veranlaßt, den Scherz noch weiter zu spinnen.
– Ihr grinst, Mädchen? Als ob ihr das nicht kenntet!
– Wollen Sie nicht noch eine Halbe trinken, Herr Pastor?
unterbrach ihn die Alte, die ängstlich wurde über die
Wendung, die das Gespräch ins Liebesgebiet nahm.
– Bitte, Frau; seid so freundlich! Danke! Aber ich muß
auch ins Bett, und Ihr habt wohl noch nicht für mich aufgebettet.
Lotte wurde auf die Kammer geschickt, um das Bett zu
machen, nachdem man beschlossen, daß Carlsson und Robert
in der Küche schlafen sollten.
Der Pastor gähnte und rieb den einen Fuß gegen den andern,
fuhr mit der Hand über die Stirn bis zur nackten Glatze
hinauf, als wolle er namenlosen Kummer fortstreichen; dabei
sank der Kopf in kurzen Rucken gegen die Tischplatte, wo
schließlich das Kinn seine Stütze fand.
Die Alte, die sah, wie es stand, trat näher und legte ihm die
Hand behutsam auf die Schulter, klopfte sacht und bat mit
rührender Stimme:
– Lieber Herr Pastor! Können wir nicht ein gutes Wort
heute Abend hören, ehe wir zu Bett gehen? Denken Sie an
die Alte und ihren Jungen, der auf See ist.
– Ein gutes Wort? Ja! Gebt mir das Buch; Ihr wißt
ja, wo es steckt.
Die Alte nahm den ledernen Proviantsack und holte ein
schwarzes Buch mit goldenem Kreuz heraus. Wie ein Reisekästchen,
aus dem alten Frauen und Kranken stärkende Tropfen
geboten werden, pflegte man dieses Buch vorzunehmen.
Andächtig, als habe sie ein Stück von der Kirche in ihre niedrige
Hütte gebracht, trug sie das geheimnisvolle Buch, behutsam
wie ein warmes Brot, auf ihren beiden Händen; schob
vorsichtig die Tasse des Pastors bei Seite, wischte den Tisch
mit ihrer Schürze ab und legte das heilige Buch vor den
schweren Kopf.
– Lieber Pastor, flüsterte die Alte, während der Wind im
Schornstein lärmte, da ist das Buch.
– Gut, gut, antwortete der Pastor wie im Schlaf; streckte
den Arm aus, ohne den Kopf zu heben, tappte nach der Kaffeetasse
und fuhr mit dem Finger so gegen den Henkel, daß er
die Tasse umstieß; in zwei Bächen floß der Branntwein über
den fettigen Tisch.
– Oh oh, klagte die Alte und rettete das Buch; das geht
nicht! Sie sind schläfrig, Herr Pastor, und müssen sich niederlegen.
Aber der Pastor schnarchte schon; er ruhte mit dem Arm
auf der Tischplatte und hatte den langen Finger zu einer
albernen Gebärde ausgestreckt, als zeige er nach einem unsichtbaren
Ziel, das augenblicklich unerreichbar war.
– Wie sollen wir’s nur anfangen, ihn ins Bett zu bringen?
klagte die Alte den Mädchen.
Sie wußte, in welch furchtbare Laune er geraten konnte,
wenn er aus dem Rausch geweckt wurde. Ihn in der Küche zu
lassen, ging nicht der Mädchen wegen; auch in die Stube
durfte er nicht; dann hätte man darüber geklatscht.
Die drei Frauen gingen um den Schlafenden herum, wie
Ratten die Katze umkreisen, um ihr Schellen anzuhängen,
ohne es jedoch zu wagen.
Inzwischen war das Feuer im Herd erloschen und der Wind drang durch Fenster und undichte Wände. Der Alte,
der ja in bloßen Strümpfen dasaß, mußte kalt geworden sein,
denn eins, zwei, drei erhob sich der Kopf, der Mund öffnete
sich gähnend, und drei Aufschreie, die klangen, wie wenn der
Fuchs seinen Geist aufgibt, ließen die Frauen zusammenfahren.
– Ich glaube, ich habe geniest, sagte der Pastor, erhob sich
und ging mit geschlossenen Augen zu einem Fenstersofa; dort
sank er nieder, streckte sich auf den Rücken aus, faltete die
Hände über der Brust und schlummerte mit einem langen
Seufzer ein.
Ihn von dort weg zu bringen, daran war nicht zu denken.
Auch Carlsson und Robert, die jetzt zurückkamen, wagten
nicht, ihn anzurühren.
– Er schläft!
Nehmt euch in Acht, sagte Robert. Gebt
ihm nur ein Kissen unter den Kopf und werft eine Decke über
ihn, dann schläft er bis zum Morgen.
Die Alte nahm die Mädchen mit in die Stube. Robert
mußte auf dem Heuboden über dem Vorratsschuppen schlafen.
Carlsson ging auf seine Kammer. Die Lichter wurden gelöscht
und es ward still in der Küche.
Da aber erinnerte sich die Alte, daß der Pastor kein Trinkwasser
habe, und Clara wurde mit der Kupferflasche zu ihm
hineingeschickt. Sie ging auf Zehen, so leise sie konnte, ohne
mit der Tür zu knarren, kam aber schnell wieder heraus:
– Oh, das ist ja ein Ferkel!
– Was, was? fragte die Alte eifrig, im Glauben, dem
Pastor sei etwas zugestoßen.
– Oh, könnt Ihr glauben, Tante, er wollte, ich solle mich
zu ihm legen ... Das ist ja schrecklich!
– Das kann ich nicht glauben, meinte die Alte, welche die
Ehre, den Pastor als Gast unter ihrem Dache zu haben, sich
nicht schmälern lassen wollte. Das kann ich nicht glauben.
– Ja, aber er hat mich um den Leib gefaßt und wollte
mich ...
– Ach, Geschwätz, schnauzte die Alte, schloß die Tür und
löschte das Licht. Gute Nacht!
Bald lag das ganze Haus im Schlaf, der mehr oder weniger
ruhig war.
Am nächsten Morgen, als der Hahn krähte und Frau Flod aufstand, um ihre Leute zu wecken, waren der Pastor und Robert fort. Der Sturm hatte sich etwas gelegt, kalte weiße Herbstwolken zogen von Osten ins Land hinein und der Himmel war wieder blau.
Am nächsten Morgen, als der Hahn krähte und Frau Flod aufstand, um ihre Leute zu wecken, waren der Pastor und Robert fort. Der Sturm hatte sich etwas gelegt, kalte weiße Herbstwolken zogen von Osten ins Land hinein und der Himmel war wieder blau.
Gegen acht begann die Alte ihre Wanderungen nach der
östlichen Landspitze hinunter, um nachzuschauen, ob sich kein
Boot auf dem Meere zeige. Draußen in der Rinne zwischen
den Kobben tauchte das eine und das andere gereffte Rahsegel
auf, verschwand und kam wieder zum Vorschein. Die
See lag blau da wie Stahl, und die äußersten Schären dämmerten,
hingen wie an luftfarbigen Tüchern, als seien sie aus
dem Wasser in die Höhe geflossen und im Begriff, sich wie
Nachtnebel zu erheben. Die jungen Sägegänse lagen auf
Buchten und Landspitzen und liefen auf den Seen; tauchten,
wenn sie den Meeradler auf seinem schweren Flug über sich
sahen, und kamen wieder in die Höhe; liefen von neuem, daß
das Wasser sprühte.
Sah Frau Flod draußen auf einer Schäre die Möwen
fliegen und hörte sie sie schreien, dachte sie: da kommt ein
Segel; und es kamen auch Segel, aber alle zogen an der Insel
vorbei, entweder nach Norden oder nach Süden.
Der kalte Wind und die weißen Wolken peinigten die
Augen der Alten; sie ging in den Wald zurück, des Wartens
müde. Sie fing an Preiselbeeren in die Schürze zu pflücken,
denn sie konnte nicht ohne Beschäftigung sein, sondern mußte
etwas haben, mit dem sie sich die Unruhe vertrieb. Der Sohn
war ihr doch das Liebste; und sie war nicht halb so bekümmert
gewesen an jenem Abend, als sie am Zauntritt stand und eine
andere dunkle Hoffnung in der Finsternis verschwinden sah.
Heute sehnte sie sich mehr nach ihrem Jungen, denn sie hatte
ein Gefühl, er werde sie bald verlassen. Das Wort des Pastors
gestern Abend über das Geschwätz hatte den Pulverfaden
angesteckt; bald würde es puff! machen. Wem dann
die Augenbrauen versengt würden, war nicht zu bestimmen;
daß aber einem etwas geschehen werde, war anzunehmen.
Schließlich schlenderte sie langsam nach Hause. Als sie auf
die Eichenhöhe kam, hörte sie Stimmen unten von der Landungsbrücke.
Durch das Eichenlaub sah sie, wie Menschen
sich um den Seeschuppen bewegten, mit einander sprachen,
verhandelten, stritten. Es hatte sich, während sie fort war,
etwas zugetragen! Aber was?
Die Unruhe jagte die Neugier auf, und sie trabte die Anhöhe
hinunter, um zu erfahren, was geschehen war.
Als sie an den Feldzaun kam, sah sie das Achterstück des
Netzbootes. Sie waren also um die Insel herum gerudert!
Normans Stimme war deutlich zu hören, wie er den Verlauf
schilderte:
– Er ging auf den Grund wie ein Stein; dann
kam er wieder in die Höhe; da aber kriegte er den Tod mitten
durchs linke Auge; es war genau so, als lösche man ein
Licht aus.
– Herr Jesus, ist er tot? schrie die Alte und stürzte über
den Zaun.
– Und dann warfen wir die Dregg und als der Ankerflügel
ihn im Rücken packte, da ...
Die Alte war hinter die Stangen gekommen, an denen die
Netze trockneten, und konnte nicht hindurch; aber sie sah, wie
durch einen Schleier vor einem Spiegel, hinter den aufgehängten
Netzen, wie alle Leute des Hofes um einen grauen
Körper, der im Boot verstaut war, lagen, knieten, krochen.
Sie schrie auf und wollte unter den Netzen durch, aber die
Schwimmer blieben in ihren Haarflechten hängen und die
Senker schlugen wie eine Geisel.
– Was haben wir denn da in den Flundernetzen gefangen?
schrie Rundqvist, der sah, daß das Garn lebendig wurde.
Nein, ich glaube, das ist Tante!
– Ist’s aus mit ihm? schrie Frau Flod so laut sie konnte.
Ist’s aus mit ihm?
– Aus wie mit einem toten Hund!
Die Alte kam endlich los und eilte an die Landungsbrücke.
Da lag Gustav mit bloßem Kopfe im Boot auf dem Bauch,
aber er bewegte sich, und unter ihm war ein großer haariger
Körper zu sehen.
Bist du’s, Mama? grüßte Gustav, ohne sich umzudrehen.
Sieh, was wir gefangen haben!
Die Alte machte große Augen, als sie einen fetten Seehund
erblickte, dem Gustav gerade das Fell abzog. Seehunde gab’s
allerdings nicht alle Tage; das Fleisch konnte man essen, wie
es jetzt war; der Tran reichte zu manchem Paar Stiefel; das
Fell war wohl seine zwanzig Kronen wert. Aber nötiger war
doch der Winterströmling, und sie sah nicht eine Flosse im
Boot; wurde deshalb etwas verstimmt, vergaß sowohl den wiedergefundenen Sohn wie den unerwarteten Seehund und
brach in Vorwürfe aus:
– Und der Strömling?
– Dem war nicht beizukommen, antwortete Gustav. Aber
den kann man ja schließlich kaufen, während man Seehunde
nicht alle Tage kriegt.
– Ja, so sprichst du immer, Gustav! Aber es ist wirklich
eine Schande, drei Tage auszubleiben und nicht einen einzigen
Fisch heimzubringen. Was sollen wir denn diesen Winter
essen?
Sie fand aber keine Zustimmung; vom Strömling hatte
man genug bekommen, und Fleisch war Fleisch; außerdem
hatten die Jäger durch ihre Erzählung des merkwürdigen
Jagdabenteuers alle Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.
– Ja, benutzte Carlsson die Gelegenheit, indem er sich
ein Stück vom Aas abhieb, hätten wir jetzt nicht den Ackerbau,
so kriegten wir nichts zu essen!
An diesem Tage fischte man nicht mehr; der große Waschkessel
wurde aufs Feuer gesetzt, um den Tran auszukochen; in
der Küche wurde gebraten und geschmort; dazwischen trank
man Kaffeehalbe. Auf der südlichen Wand der Scheune wurde
das Fell wie ein Siegeszeichen ausgespannt; Leichenreden
wurden dabei gehalten, und alle kommenden und gehenden
Kleingläubigen mußten ihre Finger in die Schußlöcher stecken
und anhören: wie das Blei dahin gekommen; wo der Seehund
auf den Stein gekrochen war; was Gustav im letzten
Augenblick, als der Schuß losgehen sollte, zu Norman sagte;
wie sich der sterbende Seehund im letzten Augenblick benahm,
als ihm das »Leben wie ein Faden abgeschnitten wurde«.
Carlsson war kein Held in diesen Tagen, aber er schmiedete
heimlich sein Eisen; und als das Fischen zu Ende war, setzte
er sich mit Norman und Lotte ins Boot, um nach der Stadt
zu fahren.
Als Frau Flod an die Landungsbrücke hinunter kam, um die aus der Stadt Heimkehrenden zu empfangen, war Carlsson so freundlich und bescheiden, daß die Alte sofort merkte, es war etwas dazwischen gekommen.
Als Frau Flod an die Landungsbrücke hinunter kam, um die aus der Stadt Heimkehrenden zu empfangen, war Carlsson so freundlich und bescheiden, daß die Alte sofort merkte, es war etwas dazwischen gekommen.
Nach dem Abendbrot ließ sie ihn in die Stube eintreten,
damit er das Geld aufzähle. Er mußte sich setzen und berichten.
Aber das ging träge; der Knecht schien keine Lust zu
haben, etwas mitzuteilen; doch die Alte ließ nicht locker, bis
er mit einem Reisebericht herausrückte.
– Nun, Carlsson, melkte sie, Ihr seid doch auch bei Professors
gewesen, nicht wahr?
– Ja, natürlich war ich dort, antwortete Carlsson, der
augenscheinlich von der Erinnerung unangenehm berührt
wurde.
– Nun, wie geht’s ihnen denn?
– Sie lassen alle auf dem Hof grüßen; sie waren so
freundlich, mich zum Frühstück einzuladen. Es war sehr fein
in der Wohnung, und wir haben auch etwas Gutes gekriegt.
– Was habt Ihr denn Gutes gekriegt?
– Oh, wir haben Hummer mit Schwammpignons gegessen
und dazu Porter getrunken.
– Da habt Ihr wohl auch die Mädchen gesehen, Carlsson?
– Ja gewiß, antwortete Carlsson freimütig.
– Und die sind sich gleich geblieben, nicht wahr?
Das waren sie nun allerdings nicht; das würde aber die
Alte zu sehr gefreut haben; darum antwortete Carlsson nicht
darauf.
– Ja, sie waren sehr nett! Wir sind abends in Berns Salon
gewesen, um uns die Musik anzuhören; da habe ich sie
mit Sherry und belegten Brötchen traktiert. Es war, wie
gesagt, sehr nett.
In Wirklichkeit war es aber durchaus nicht nett gewesen;
die Sache war nämlich ganz anders verlaufen.
Carlsson war in der Küche von Lina empfangen worden,
denn Ida war ausgegangen; an der Ecke des Küchentisches
hatte er dann eine halbe Flasche Bier getrunken. Dabei war
die Frau des Professors in die Küche gekommen und hatte zu
Lina gesagt, sie solle einen Hummer holen, da abends Besuch
komme; dann war sie wieder gegangen.
Als Carlsson mit Lina wieder allein war, wurde die etwas
verlegen; schließlich kriegte Carlsson aus ihr heraus, daß
Ida seinen Brief empfangen und ihn eines Abends, als ihr
Bräutigam dagewesen, laut vorgelesen habe; das war in der
Kammer geschehen, wo der Bräutigam Porter trank und
Lina Champignons reinigte. Und sie hatten sich halb tot gelacht.
Zwei Male habe der Bräutigam den Brief gelesen,
laut wie ein Pastor. Am meisten hatten sie sich über den
»alten Carlsson« und seine »letzten Stunden« amüsiert. Als
sie an die Stelle von »Versuchungen und Irrwegen« kamen,
hatte der Bräutigam – er war Bierfahrer – vorgeschlagen,
nach Berns Salon in die Versuchung zu gehen. Und sie waren
dorthin gegangen und wurden von dem Bräutigam mit
Sherry und belegten Brötchen traktiert.
Ob nun Linas Erzählung Carlssons Sinn erregt und sein
Gedächtnis erschüttert hatte; oder ob er sich so lebhaft in die
Kleider des Bierfahrers gewünscht, daß er sich in dessen angenehme
Lage als Wirt versetzt, sich mit dem Hummer essenden
Gast verwechselt, den Porter des Bräutigams getrunken
und Linas Champignons gegessen hatte – genug, er stellte
die Sache der Alten so dar, daß er die Wirkung erzielte, die
er beabsichtigte; und das war die Hauptsache.
Nachdem er so weit gekommen war, fühlte er sich ruhig
genug, um zum Angriff überzugehen. Die Burschen waren
auf See, Rundqvist hatte sich niedergelegt, und die Mädchen
waren für diesen Tag fertig geworden.
– Was ist das für ein Geschwätz, das hier im Kirchspiel
umläuft; das ich überall hören muß? begann er.
– Was schwatzt man jetzt wieder? fragte Frau Flod.
– Ach, es ist das alte Geschwätz: wir dächten daran, uns
zu heiraten.
– Ja, das ist nichts Neues; das haben wir so oft gehört.
– Aber es ist doch ganz unglaublich, daß die Leute behaupten,
was nicht wahr ist! Das ist mir ganz unbegreiflich, sagte
der listige Carlsson.
– Ja, was solltet Ihr, der junge, flinke Kerl, auch mit
einem alten Weibe, wie ich bin, anfangen?
– Oh, was das Alter betrifft, damit hat’s keine Gefahr.
Darf ich für mein Teil sprechen: sollte ich einmal daran
denken, mich zu verheiraten, so wäre es nicht mit einer
Dirne, die nichts kann und nichts weiß; denn seht Ihr, Tante,
die Lust ist eine Sache und sich verheiraten eine andere! Denn
die Lust, die weltliche Lust vergeht wie ein Rauch, und die
Treue ist wie Kautabak, wenn ein anderer kommt, der Zigarren
spendiert. Seht, so bin ich, Tante: mit der ich mich
verheirate, der halte ich auch Treue; und so bin ich immer
gewesen, und wer etwas anderes sagt, der lügt.
Die Alte spitzte die Ohren und merkte die Anspielung.
– Aber Ida? Ist es nicht Ernst zwischen ihr und Euch?
untersuchte sie.
– Ida, ja, die ist ja an und für sich ganz gut; ich brauchte
nur den Finger nach ihr auszustrecken, dann hätte ich sie!
Aber, Tante, sie hat nicht die rechte Gesinnung; sie ist weltlich
und eitel, und ich glaube, sie wandelt sogar auf unrechten
Wegen. Übrigens muß ich sagen, ich fange an alt zu werden
und habe keine Lust zum Schäkern mehr. Ja, gerade heraus
gesagt: sollte ich ans Heiraten denken, so würde ich eine
ältere, verständige Person nehmen, eine, welche die rechte
Gesinnung hat. Ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken
soll, aber Ihr versteht mich doch wohl, Tante, denn Ihr habt
ja die rechte Gesinnung; ja, die habt Ihr.
Die Alte hatte sich am Tisch niedergelassen, um Carlssons
Winkelzüge besser verstehen zu können, damit sie nicht die
Gelegenheit versäume, ihr Amen zu sagen, wenn er mit seinem
Ja herausrückte.
– Aber sagt mal, Carlsson, begann sie ein neues Garnende,
habt Ihr denn nicht an die Witwe von Owassa gedacht,
die allein steht und nichts Besseres verlangt, als wieder zu
heiraten?
– Ach nein, die kenne ich wohl, aber die hat nicht die
rechte Gesinnung: wer mich haben will, der muß die
rechte Gesinnung haben! Geld und äußeres Getue und feine
Kleider, das macht auf mich keinen Eindruck, denn so bin ich
nicht! Und wer mich wirklich kennt, der kann nichts anderes
sagen.
Der Stoff schien nun von allen Seiten benagt zu sein; einer
mußte das letzte Wort sagen, solange es noch möglich
war.
– Nun, an wen habt Ihr denn gedacht, Carlsson? wagte
sich die Frau einen kühnen Schritt vor.
– Gedacht? Gedacht! Man denkt dies und das; ich habe
überhaupt noch nichts gedacht. Der etwas denkt, der spreche;
ich schweige! Man soll nachher nicht sagen können, ich habe
jemanden verlockt: von der Gesinnung bin ich nicht.
– Ja, aber, lieber Carlsson, wenn Ihr Ida in Gedanken
habt, dann könnt Ihr doch nicht in vollem Ernst an eine andere
denken.
– Ida, nein, die Füchsin will ich nicht geschenkt haben!
Nein, etwas Besseres muß es sein; Kleider am Körper muß
sie wenigstens besitzen; und hat sie noch etwas mehr, so schadet
es auch nichts; doch sehe ich nicht darauf, denn so bin ich,
das ist meine Gesinnung.
Jetzt war man so viele Male hin- und hergefahren, daß
man in die Gefahr kam, sitzen zu bleiben, wenn die Alte sich
nicht noch einen Ruck gab.
– Nun, Carlsson, was würdet Ihr sagen, wenn wir
beide uns zusammen täten?
Carlsson wehrte mit beiden Händen ab, als wolle er sofort
vom ersten Augenblick an jeden Verdacht einer solchen Niedrigkeit
verjagen.
– Aber das kann doch gar nicht in Frage kommen! beteuerte
er. Daran wollen wir nicht einmal denken, geschweige
denn davon sprechen. Was würden die Leute schwatzen: ich
hätte Euch fürs Geld genommen. Aber so bin ich nicht,
und das ist nicht meine Gesinnung. Nein, über die Sache
wollen wir kein Wort mehr verlieren. Versprecht mir das,
Tante, und gebt mir die Hand darauf (er streckte seine Hand
aus), daß wir nie wieder davon sprechen! Gebt mir die Hand
darauf!
Frau Flod aber wollte ihm nicht die Hand darauf geben,
sondern sie wollte gerade die Sache gründlich besprechen.
– Warum soll man nicht von dem sprechen, was sich doch
zutragen könnte? Ich bin alt, das wißt Ihr, Carlsson, und
Gustav ist nicht der Mann dazu, den Hof zu übernehmen. Ich
brauche jemanden, der mir zur Seite steht und hilft; aber
ich verstehe wohl, daß Ihr Euch nicht für andere verbrauchen
und Euch nicht für nichts abrackern wollt: darum weiß ich
mir keinen andern Rat, als daß wir uns verheiraten. Die
Leute laßt nur schwatzen; sie klatschen doch so wie so! Habt
Ihr nichts Besonderes gegen mich, Carlsson, so sehe ich
nichts, was uns hindern sollte. Was habt Ihr gegen mich?
– Gegen Euch habe ich nichts, Tante, durchaus nichts;
aber dieses dumme Geschwätz; und übrigens Gustav wird
uns das nie vergessen.
– Ach was, seid Ihr nicht Manns genug, den Jungen
im Zaun zu halten, so werde ich’s schon besorgen. In die
Jahre bin ich ja gekommen, aber so alt bin ich denn doch noch
nicht, und ich muß ihm unter vier Augen sagen, Carlsson ...
wenn es darauf ankommt, bin ich noch ebenso gut wie ein
Mädchen. Ja, das ist keine Prahlerei, aber ich glaube, der
Flod hat sich nicht zu beklagen gehabt; und wenn einer Anregung
gebraucht hat, ich war es nicht.
Das war eine dunkle Rede, aber genug für den, der sie
verstand.
– Oh, darüber habe ich mich nicht abfällig geäußert,
antwortete Carlsson, und ich bin auch noch nicht so uralt,
aber keiner von uns ist so erpicht aufs Tanzen, daß das eine
Gefahr sein sollte. Tanzen ist eine Sache, und Gesinnung eine
andere, und wer die rechte Gesinnung hat, mit der kann
man ins Brautbett gehen, ohne die Decke zu hoch heben zu
müssen. Übrigens muß ich Euch sagen, Tante, ich bin nicht
sehr fleischlich, und Ihr habt wohl auch genug gehabt, nach
dem was ich über Flod gehört habe.
Das Gespräch hatte einen solchen Reiz erhalten, daß man
nicht aufhören konnte, zumal die Erinnerung an entschwundene
Freuden der Einen neue Hoffnungen einflößte, während
der Andere neugierig wurde auf das, was ihn erwartete.
– Ja, den Flod wollen wir nun ruhen lassen, da er tot
ist; aber seid Ihr bange, Carlsson, so könnt Ihr ja die Probe
machen, ehe Ihr Euch entscheidet.
– Oh, das ist durchaus nicht nötig, widersprach Carlsson.
Aber ist das hier am Orte Sitte mit den Mädchen, Herr
Gott, so will ich alten Brauch nicht brechen; man muß die
Sitte nehmen, wie man sie findet ...
Das Eis war gebrochen. Nun kam eine Flut von Plänen
und Beratungen, wie man sich Gustav gegenüber verhalten
und wie man es mit der Hochzeit machen solle.
Die Verhandlungen dauerten lange, so lange, daß die Alte
den Kaffeekessel aufsetzen und die Branntweinflasche hervorholen
mußte. Bis tief in die Nacht hinein dauerten die Verhandlungen,
bis Carlsson in die rechte Gesinnung kam, um
zu zeigen, daß er alten Brauch nicht brechen wolle. Damit
war der Bund besiegelt, wenn auch noch nicht geweiht.
FUNFTES KAPITEL
Man schlägt sich beim dritten Aufgebot, geht zum
Abendmahl und hält Hochzeit, kommt aber doch nicht
ins Brautbett
Daß niemand besser ist, als wenn er stirbt, und keiner
schlechter, als wenn er heiratet, mußte Carlsson bald erfahren.
Gustav hatte gebrüllt wie ein hungriger Seehund,
hatte drei Tage lang getobt, während Carlsson eine kleine
Reise unter irgend einem Vorwande unternahm.
Der alte Flod wurde aus der Erde ausgegraben und nach
allen Seiten gewendet, um für den besten Menschen erklärt
zu werden, der bisher geschaffen worden. Dagegen kehrte man
Carlsson um wie alte Kleider, um ihn auf der innern Seite
voller Flecken zu finden. Man entdeckte, daß er Bahnarbeiter
und Reiseprediger gewesen, von drei Stellen fortgejagt worden,
ein Mal ganz sicher geflüchtet, ein Mal, nach nicht verbürgter
Angabe, wegen Schlägerei bestraft worden sei.
Das alles hielt man Frau Flod unter die Nase; aber die
Flamme brannte nun einmal, und mit der Aussicht, daß der
Witwenstand zu Ende sei, schien die Alte wieder aufzuleben
und sich ein dickes Fell anzulegen, mit dem sie alles vertragen
konnte.
Die Feindseligkeit gegen Carlsson hatte ihre Wurzel
darin, daß er, der Fremdling, jetzt durch die Heirat in Besitz
dieses Stück Landes kommen sollte, das die Eingeborenen gewissermaßen
als ihr Eigentum betrachtet hatten.
Da die Alte wahrscheinlich noch manches Jahr leben
würde, verringerten sich des Sohnes Aussichten, einst sein eigener
Herr zu werden; und seine Stellung auf dem Hofe
würde künftighin wohl die eines Knechtes sein, und zwar
unter der Vormundschaft und dem guten Willen des frühern
Knechtes. Es war also ganz natürlich, daß der Abgesetzte
raste. Er gab der Mutter scharfe Worte, drohte zur Polizei
zu gehen, Anzeige zu machen und den künftigen Stiefvater
fortjagen zu lassen.
Noch böser wurde er, als Carlsson von seiner kleinen Reise
im schwarzen Sonntagsrock und der Seehundsmütze des seligen
Flod zurückkam, die er bei der ersten zärtlichen Gelegenheit
als Morgengabe erhalten hatte. Gustav sagte nichts, bestach
aber Rundqvist, Carlsson einen Schabernack zu spielen.
Eines Morgens, als man sich an den Frühstückstisch setzte,
lag auf Carlssons Platz ein Handtuch, das eine Menge unsichtbarer
Dinge verbarg. Carlsson, der nichts Böses ahnte,
hob das Handtuch auf und sah sein Tischende mit all dem
Plunder gedeckt, den er in seinen Sack gesammelt und unter
dem Bett auf seiner Kammer verborgen hatte. Da standen
leere Hummerbüchsen, Sardinendosen, Champignonkrüge, eine
Porterflasche, unendlich viel Körke, ein gesprungener Blumentopf
und anderes mehr.
Ihm wurde grün vor den Augen; er wußte aber nicht, gegen
wen er losbrechen sollte.
Rundqvist verhalf ihm zu einem Ableiter, indem er erklärte,
das sei ein üblicher »Spaß« in der Gegend, wenn sich jemand
verheirate.
Unglücklicher Weise kam Gustav gerade hinzu, um sein Erstaunen
auszusprechen, daß der Lumpensammler so früh im
Herbst gekommen, während er sonst sich nicht vor Neujahr zu
zeigen pflege. Gleichzeitig griff Norman ein, um zu erklären,
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es sei kein Lumpensammler da gewesen, das seien Carlssons
Andenken an Ida; mit denen habe Rundqvist dem Carlsson
einen Streich spielen wollen, da es jetzt zwischen den beiden
aus sei.
Nun fielen scharfe Worte. Das Ende war, daß Gustav zur
Pfarre segelte. Dort gelang es ihm, Carlssons Hochzeit auf
sechs Monate zu verschieben, da dessen Papiere nicht in Ordnung
waren.
Das war für Carlsson ein Strich durch die Rechnung.
Doch er suchte den, so gut er konnte, wieder auszukratzen, indem
er sich Ersatz verschaffte.
Zuerst hatte Carlsson seine neue Stellung feierlich aufgefaßt;
als das aber übel ablief, beschloß er, sie wenigstens
den Leuten auf dem Hof gegenüber scherzhaft zu nehmen.
Das gelang ihm auch, nur mit Gustav nicht; der unterhielt
beständig einen unterseeischen Kampf, ohne irgend ein Zeichen
zur Versöhnung blicken zu lassen.
So verging der Winter, langsam und still. Man haute
Holz, flickte Netze, fischte auf dem Eis. Dazwischen spielte
man Karten und trank Kaffeehalbe. Feierte Weihnachten
durch einen Schmaus. Lag der Eisvogeljagd ob.
Es wurde wieder Frühling. Der Eiderstrich lockte aufs Meer hinaus; aber Carlsson setzte alle Kräfte an die Bestellung, um auf eine gute Ernte rechnen zu können. Die war nötig, um den Ausfall zu ersetzen, den die Hochzeit bringen würde; besonders da man die Absicht hatte, eine große Hochzeit zu halten, an die man noch Jahre lang denken sollte.
Es wurde wieder Frühling. Der Eiderstrich lockte aufs Meer hinaus; aber Carlsson setzte alle Kräfte an die Bestellung, um auf eine gute Ernte rechnen zu können. Die war nötig, um den Ausfall zu ersetzen, den die Hochzeit bringen würde; besonders da man die Absicht hatte, eine große Hochzeit zu halten, an die man noch Jahre lang denken sollte.
Mit den Zugvögeln kamen auch die Sommergäste. Der
Professor nickte freundlich wie im vorigen Jahre und fand,
es sei alles »schön« wie früher, besonders daß man Hochzeit
halte. Glücklicher Weise war Ida nicht dabei. Sie hatte im
April den Dienst verlassen und sollte sich bald verheiraten.
Ihre Nachfolgerin war nicht besonders anziehend; auch hatte
Carlsson zu viel Eisen im Feuer, um sich mit ihr einzulassen;
zumal er das Spiel in der Hand hatte und nicht geneigt war,
es zu verlieren.
Am Mittsommertag wurden die Verlobten aufgeboten, und
die Hochzeit sollte zwischen Heumahd und Kornernte stattfinden;
dann war immer eine kleine Ruhepause in der Arbeit,
sowohl zu Lande wie zu Wasser.
Nach dem Aufgebot machte sich eine Änderung in Carlssons
Wesen bemerkbar, die nicht gerade angenehm war;
Frau Flod war die erste, die sie zu empfinden hatte. Nach der
Sitte des Landes hatten sie seit der Verlobung wie verheiratete
Leute gelebt; und der Bräutigam, den der Aufschub bedrohte,
wußte sein Benehmen immer nach den zwingenden Umständen
einzurichten. Als die Gefahr aber vorüber war, trug er den
Kopf hoch und zeigte die Klauen.
Das machte jedoch auf Frau Flod, die sich ebenfalls sicher
fühlte, keinen andern Eindruck, als daß sie die Zähne zeigte,
so viel sie noch hatte. So gerieten sie am Tage des dritten
Aufgebots an einander.
Die ganze Bevölkerung der Insel außer Lotte war nach der
Kirche gefahren, um das Abendmahl zu nehmen. Wie gewöhnlich
hatte man das kleinste Boot genommen, um, falls
man rudern mußte, so wenig Mühe wie möglich damit zu
haben. Es war also eng im Boot, zumal man Proviant, Fische
für den Pastor und Lichter für den Küster mitführte; außerdem
hatte man alle möglichen Kleidungsstücke zum Wechseln
mitgenommen; ganz abgesehen von Segel und Rudern,
Schöpfgefäßen und Eimern, Schemeln und Tritten.
Nach Gewohnheit hatte man ein besseres Frühstück gegessen;
hatte einander aus Krügen und Flaschen zugetrunken.
Heiß war es auch auf See, und niemand wollte rudern; ein
kleiner Streit brach unter den Männern aus, von denen keiner
Lust hatte, schwitzend in die Kirche zu kommen. Die
Frauen traten dazwischen; und als man in die Kirchbucht
kam und die Glocken hörte, die man seit Jahr und Tag nicht
vernommen, wurde der Zwist beigelegt.
Es läutete erst zum ersten Male; man hatte also noch viel
Zeit. Frau Flod ging darum mit den Fischen nach der Pfarre
hinauf.
Der Pastor rasierte sich gerade und war bei grimmiger Laune.
– Seltenen Besuch hat die Kirche heute, da die Hemsöer
kommen, grüßte er und prüfte das Messer am Zeigefinger.
Kommen die Leute mit Fischen, als hätte man die See nicht
vor der Tür, schnauzte er.
Carlsson, der die Fische trug, konnte in die Küche gehen,
um sich einen Schnaps geben zu lassen.
Dann ging man mit den Lichtern zum Küster; und dort gab
es auch einen Schnaps.
Schließlich trafen sich alle vor der Kirche, sahen sich die
Pferde der Großbauern an, lasen die Grabsteine und begrüßten
Bekannte. Frau Flod machte dem Grabe Flods einen
kurzen Besuch, während Carlsson bei Seite ging.
Als es zum letzten Male geläutet hatte, trat die Gemeinde
in die Kirche ein.
Da die Hemsöer, nachdem die alte Kirche verbrannt war,
keinen eigenen Kirchenstuhl hatten, mußten sie auf dem Gange
stehen. Heiß war es, und fremd fühlten sie sich in dem großen
Raume; aus reiner Verlegenheit schwitzten sie; sie sahen aus
wie eine Bande aus der Besserungsanstalt, die am Pranger
stand.
Die Uhr wurde elf, ehe man zum Kanzellied kam; die
Hemsöer hatten einige zwanzig Male die Beine umgestellt
und die Füße gewechselt. Die Sonne schien so heiß in die
Kirche, daß der Schweiß ihnen von den Stirnen perlte; aber
sie standen wie in einer Zange und konnten sich nicht nach einem
schattigen Fleck retten.
Da kommt der Kirchendiener und setzt Nummer 158 des
Gesangbuches an. Die Orgel spielt ein Vorspiel und der
Küster beginnt mit der ersten Strophe. Die wird mit Lust
und Liebe gesungen, da man unmittelbar nach ihr die Predigt
erwartete. Aber siehe, es kommt Strophe zwei und drei.
– Es kann doch nicht sein Ernst sein, alle achtzehn durchzunehmen?
flüsterte Rundqvist Norman zu.
Aber es war Ernst! In der Tür zur Sakristei war Pastor
Nordströms zorniges Gesicht zu sehen, das die Gemeinde trotzig
und herausfordernd anblickte; er hatte beschlossen, ihr eine
gehörige Lehre zu geben, da er sie ein Mal unter den Händen
hatte.
Und alle achtzehn Strophen wurden gesungen; die Uhr
war halb zwölf, als der Pastor endlich auf die Kanzel kam.
Da aber waren sie weich, so weich, daß sie auf ihr Angesicht
niederfielen und einschliefen.
Lange dauerte jedoch der Schlaf nicht, denn eins, zwei,
drei schrie der Pastor sie an, daß die Schlummernden auffuhren,
die Köpfe in die Höhe warfen und den Nachbar
dumm anstarrten, als fragten sie, ob Feuer ausgebrochen sei.
Carlsson und die Alte hatten sich so weit vorgedrängt, daß
ein Rückzug nach der Tür unmöglich war, ohne Aufsehen zu
erregen. Die Alte weinte aus Müdigkeit und infolge ihrer
engen Stiefel, die um so ärger drückten, je höher die Wärme
stieg. Zuweilen warf sie ihrem Bräutigam einen bittenden
Blick zu, als flehe sie ihn an, sie an die See hinunter zu tragen;
der aber war so in den Gottesdienst vertieft, wie er da
in Flods weiten roßledernen Stiefeln stand, daß er die Ungeduldige
nur mit bösen Blicken strafte.
Die andern dagegen waren achteraus gesackt und unter
die Orgelempore gekommen; dort war es kühl und man hatte
etwas Schatten. Dort entdeckte Gustav auch die Feuerspritze,
ließ sich darauf nieder und nahm Clara auf den Schoß.
Rundqvist lehnte sich an einen Pfeiler und Norman stand
neben ihm, als die Predigt begann.
Es waren »Worte und keine Lieder«, scharfe Worte, und
sie dauerten sechs Viertelstunden. Der Text handelte von den
klugen und törichten Jungfrauen; da keiner von den Mannsleuten
den auf sich bezog, schlief die ganze Gesellschaft; schlief
sitzend, hängend, stehend.
Als eine halbe Stunde vergangen war, stieß Norman
Rundqvist, der sich die Stirn mit der Hand hielt, als sei ihm
nicht wohl, in die Rippen und zeigte mit dem Daumen nach
Clara und Gustav auf der Feuerspritze. Rundqvist drehte sich
behutsam zur Seite, sperrte die Augen auf, als sehe er den
Bösen selber; schüttelte den Kopf und lächelte, als habe er
verstanden. Clara hatte nämlich die Augen geschlossen und
ließ die Zunge hängen, als schliefe sie in schmerzlichen Träumen;
Gustav aber starrte unverwandt Pastor Nordström an,
als wolle er jedes Wort aufessen und strenge sich an, das
Stundenglas rinnen zu hören.
– Aber die sind ja toll, flüsterte Rundqvist, ging langsam
und vorsichtig rückwärts, behutsam mit den Fersen tappend,
um nicht heftig gegen die Ziegelsteine zu stoßen.
Norman aber hatte Rundqvists Gedanken schon gelesen:
schnell wie ein Aal war er zum Kirchhof hinaus geschlüpft.
Dorthin folgte Rundqvist ihm bald. Beide eilten dann zusammen
nach dem Boot hinunter.
Draußen wehte ein kühler Seewind, und die hastig eingenommenen
Erfrischungen setzten ihre Kräfte bald wieder
in Stand. Leise, wie sie gekommen, kehrten sie wieder in die
Kirche zurück.
Dort war Clara in des schlafenden Gustavs Armen entschlummert;
die umfaßten sie aber so hoch oben, daß Rundqvist
sie etwas hinunterschieben zu müssen glaubte. Dabei erwachte
Gustav jedoch und umfaßte seinen Raub von neuem,
als habe jemand ihm das Mädchen nehmen wollen.
Eine halbe Stunde dauerte noch die Predigt; und dann
ging noch eine halbe darauf mit dem Kirchenliede, ehe das
Abendmahl begann.
Unter starker Erregung wurden die Gnadenmittel genommen.
Rundqvist weinte.
Als die feierliche Handlung zu Ende war, wollte sich Frau
Flod in einen Kirchenstuhl drängen. Dabei wäre es beinahe
zu einem Streit gekommen, und sie wurde aus dem Stuhl
wieder hinausgewiesen. So brachte sie die letzte halbe Stunde
hinter dem Stuhl des Kirchenvorstehers zu, auf den Hacken
stehend, als verbrennten die Ziegelsteine ihr die Sohlen. Wie
der Pastor das Aufgebot vorlas, wurde sie ganz wild, weil
die Leute sie ansahen.
Endlich war alles aus, und man stürzte nach dem Boot
hinunter. Frau Flod konnte nicht mehr warten, sondern zog,
sobald sie die Glückwünsche vor der Kirche empfangen, ihre
Schuhe aus und trug sie hinunter zum Boot. Dort steckte sie
die Füße ins Wasser und schalt Carlsson aus.
Dann machte man sich über den Mundvorrat her. Als man
entdeckte, daß die Pfannkuchen fehlten, wurde Lärm geschlagen.
Rundqvist hielt es für wahrscheinlich, daß sie vergessen
waren; Norman meinte, jemand habe sie auf dem Hinweg
aufgezehrt; dabei warf er einen argwöhnischen Blick auf
Carlsson.
Schließlich stieg man ins Boot. Da aber erinnerte sich
Carlsson, daß er ein Faß Teer aus dem Kirchenschuppen abzuholen
habe. Das gab einen Sturm. Die Frauen schrien,
sie wollten keinen Teer im Boot haben; um keinen Preis, da
sie neue Kleider anhätten. Doch Carlsson holte die Teertonne
und verstaute sie.
Da entstand wieder ein Leben über die Frage, wer neben
dem gefährlichen Gefäß sitzen sollte.
– Worauf soll man denn sitzen? jammerte Frau Flod.
– Nimm die Röcke hoch und setz dich auf den Hintern,
antwortete Carlsson, der sich jetzt, nachdem er aufgeboten
war, sehr viel mehr zu Hause fühlte.
– Was sagst du? zischte die Alte.
– Ja, das sage ich: setz dich ins Boot, damit wir fortkommen!
– Wer hat den Befehl auf See, möchte ich wissen? fiel
Gustav ein, der fand, daß man seiner Ehre zu nahe trat.
Und Gustav setzte sich ans Steuer, ließ aufhissen und nahm
die Schot in die Hand.
Das Boot war tief beladen, der Wind war äußerst schwach,
die Sonne brannte heiß und die Köpfe befanden sich in
Gärung. Das Boot kroch dahin »wie eine Laus auf geteerter
Birkenrinde«, und es half nicht, daß die Mannsleute einen
Segelschnaps nahmen.
Die Geduld verging ihnen bald und das Schweigen, das
eine Weile geherrscht hatte, wurde von Carlsson unterbrochen,
der die Segel reffen und rudern wollte. Das wollte
Gustav aber nicht:
– Wartet nur! Sobald man aus den Kobben heraus ist,
kann man schon segeln, meinte er.
Und man wartete. Schon war draußen im Gatt zwischen
den Inseln ein dunkelblauer Streifen zu sehen, und man
hörte die See gegen die äußeren Schären branden. Ein starker
östlicher Wind war im Anzuge, und Leben kam in die Segel.
Gerade als man um eine Landzunge bog, kam solcher
Wind, daß sich das Boot legte, wieder hoch hob und dahin
schoß, daß es hinter ihm gurgelte.
Jetzt mußte die ganze Gesellschaft einen Schnaps nehmen.
Alle lebten auf, als das Boot guten Gang machte.
Dann aber frischte der Wind auf; das Boot lag leewärts
unter Wasser, wurde aber vom Wind durchgedrückt.
Carlsson ward bange, hielt sich an den Tauen fest und bat,
man solle reffen und zu den Riemen greifen.
Gustav antwortete nicht, sondern holte die Schot an, daß
Wasser ins Boot kam.
Da erhob sich Carlsson, wurde wild und wollte ein Ruder
auslegen. Aber die Alte packte ihn beim Rock und zog ihn
nieder.
– Sitz still im Boot, Mensch, in Jesu Namen! schrie sie.
Carlsson setzte sich wieder, aber sein Gesicht war weiß.
Aber er saß nicht lange, als er auffuhr und, ganz außer sich,
den Rockschoß aufhob.
– Alle Wetter, leckt der Racker! heulte er und schlug mit
dem Rockschoß.
– Was leckt? fragten alle auf einmal.
– Das Teerfaß!
– Herr Jesus! riefen alle und rückten von dem Teerfluß
fort, der allen Bewegungen des Bootes folgte.
– Sitzt still im Boot, brüllte Gustav; sonst segle ich euch
um!
Carlsson hatte sich wieder erhoben, gerade als eine Brise
kam. Rundqvist sah die Gefahr, erhob sich vorsichtig im Sitz
und gab ihm eine Maulschelle, daß er niederstürzte.
Eine Schlägerei stand bevor. Frau Flod geriet außer sich
und schritt ein. Sie ergriff ihren Liebsten am Rockkragen und
schüttelte ihn.
– Was ist das für ein Tropf, der noch nicht gesegelt hat?
Weißt du nicht, daß man im Boot still sitzen muß?
Carlsson wurde böse, riß sich los, verlor aber ein Stück
vom Rockkragen.
– Reißt du meine Kleider kaputt, Weibstück! schrie er und
setzte die Stiefel auf die Bootsseite, um sie vorm Teer zu
schützen.
– Was sagst du? flammte die Alte auf. Deine Kleider?
Von wem hast du denn den Rock? Weibstück für solch einen
Laichhering, der nichts hat ...
– Schweig, brüllte Carlsson, in seinem empfindlichsten
Punkt getroffen; sonst antworte ich!
– Antworte nur; ich werde schon zurückgeben, meinte Frau
Flod.
– Ja, ich könnte sagen: mancher hobelt schlecht auf trockenem
Brett, der gut ist auf frischem.
Gustav fand, nun ging es zu weit, und stimmte einen
Schottischen an; in den fielen Norman und Rundqvist ein.
Das giftige Gespräch flaute ab, um auf den gemeinsamen
Feind überzugehen, den Pastor Nordström, der sie fünf Stunden
hatte stehen und achtzehn Strophen hatte singen lassen.
Die Flasche machte die Runde, der Wind wurde gleichmäßiger,
die Gemüter beruhigten sich. Die beste Stimmung
herrschte, als das Boot in die Bucht einfuhr und an der
Brücke anlegte.
Die Vorbereitungen für die Hochzeit, die drei Tage dauern sollte, nahmen ihren Anfang. Man schlachtete ein Ferkel und eine Kuh; kaufte hundert Kannen Branntwein; legte den Strömling in Salz und Lorbeerblätter; scheuerte, backte, braute, kochte, briet, mahlte Kaffee.
Die Vorbereitungen für die Hochzeit, die drei Tage dauern sollte, nahmen ihren Anfang. Man schlachtete ein Ferkel und eine Kuh; kaufte hundert Kannen Branntwein; legte den Strömling in Salz und Lorbeerblätter; scheuerte, backte, braute, kochte, briet, mahlte Kaffee.
Gustav ging während all dieser Zurüstungen mit einem
geheimnisvollen Gesicht umher; ließ die Andern gewähren
und äußerte keinerlei Ansicht.
Carlsson dagegen saß meist vor der Klappe des Sekretärs
und rechnete; fuhr nach dem Badeorte Dalarö; ordnete
alles, wie er es haben wollte.
Der Tag vor der Hochzeit war da. Zeitig am Morgen
packte Gustav seine Tasche, nahm die Flinte und ging. Die
Mutter erwachte und fragte, wohin er wolle. Gustav antwortete,
er wolle hinausfahren, um nachzusehen, ob der Badefisch
schon gekommen. Damit drückte er sich.
Sein Boot hatte er mit Mundvorrat für mehrere Tage versehen;
auch nahm er eine Bettdecke, einen Kaffeekessel und
andere Sachen mit, die für einen Aufenthalt auf den Schären
nötig waren.
Unten am Strand setzte er sofort Segel. Statt aber in die
Buchten einzubiegen, um nachzusehen, ob der Kühlung auf
die warmen sandigen seichten Ufer zum »baden« hinauf gezogen
sei, hielt er geradewegs zwischen die Kobben hindurch.
Der Morgen war jetzt Ende Juli blendend klar, der Himmel
blauweiß wie abgerahmte Milch; Inseln, Holme, Schären,
Kobben, Riffe lagen so weich und schmelzend im Wasser,
daß man nicht sagen konnte, ob sie der Erde oder dem Himmel
angehörten. Ins Land hinein standen Fichten und Erlen,
und auf den Landzungen lagen Sägergänse, Trauerenten,
Taucher, Möwen. Nach dem offenen Meer zu waren nur
Meerkiefern zu sehen, und Teiste, Alke, schwarze, papageiähnliche,
schwärmten frech um das Boot, um den Jäger von
den in den Bergschluchten versteckten Nestern abzuleiten.
Schließlich wurden die Schären niedriger, nackter; und
hier draußen war nur eine vereinzelte Kiefer übrig gelassen,
um den Nistkasten zu tragen, in dem man Eider und Sägergänse
ihre Eier legen ließ; oder eine Eberesche, über deren
Krone eine Wolke von Mücken sich im Winde schaukelte. Dahinter
lag das offene Meer. Dort hielt die Raubmöwe ihre
Jagd, in Fehde mit Seeschwalben, Möwen und Blaumänteln.
Dorthin lenkte der Meeradler seinen schweren Flug, um vielleicht
eine liegende Eiderente zu packen.
Dorthin, nach der letzten Schäre, steuerte jetzt Gustav, an
der Ruderpinne liegend, die Pfeife im Munde. Von einer
lauen südlichen Brise ließ er sich schleppen; gegen neun ging
er auf der Schäre Norsten an Land.
Es war eine felsige Insel, einige Morgen groß, mit einer
Talmulde in der Mitte. Einige kahlköpfige Ebereschen standen
zwischen den Steinen; auch wuchs der prachtvolle Spindelbaum
mit seinen feuerroten Beeren in den Klüften; und
die Talmulde war mit einer dichten Matte aus Heidekraut,
Krähenbeere, Multebeere bedeckt; die letzten hatten angefangen,
gelb zu werden. Vereinzelte Wachholderbüsche lagen wie
platt getreten an den Felsen und schienen sich mit den Nägeln
festzuhalten, um nicht fortgeweht zu werden.
Hier war Gustav zu Hause; kannte jeden Stein; wußte,
welchen Wachholderbusch er heben mußte, um die brütende
Eider zu finden, die sich den Rücken streicheln ließ und ihn
ins Hosenbein biß. Er steckte seine Gabelstange in einen Bergspalt
und zog die Alke heraus, um ihnen den Hals umzudrehen,
da er sie zum Frühstück haben wollte.
Hier draußen fischten die Hemsöer ihre Strömlinge. Hier
hatten sie zusammen mit einer andern Fischergesellschaft einen
Schuppen gebaut, in dem sie Nachtherberge zu nehmen pflegten.
Dorthin lenkte auch Gustav seine Schritte, nahm den
Schlüssel von seinem gewöhnlichen Ort unterm Dachbart und
trug seine Gerätschaften hinein. Der Schuppen bestand nur
aus einem Raum ohne Fenster, hatte aber Bettkojen, die
fachförmig übereinander aufgeschlagen waren; einen Herd,
einen Tisch, einen Dreifuß zum Sitzen.
Nachdem er seine Sachen verstaut hatte, kletterte er nach
dem Dach hinauf, um die Schornsteinluke zu öffnen. Als er
wieder herunter kam, holte er die Streichhölzchen von ihrem
Platze unter einem Balken und machte Feuer im Herd; dort
hatte der letzte Besucher, nach altem Brauch, einen Arm voll
Brennholz für seinen Nachfolger zurecht gelegt. Dann setzte
er den Kartoffelkessel auf und legte einige gesalzene Fische
über die Kartoffeln. Während er wartete, rauchte er eine
Pfeife.
Als er gegessen und getrunken hatte, nahm er die Flinte
und ging zum Boot hinunter, wo er die Lockvögel hatte. Ruderte
die hinaus und verankerte sie vor einer Landzunge. Kroch
dann in die Schießkoje, die aus Steinen und Reisig gebaut
war.
Die Lockvögel schaukelten auf den langen Wellen, die
hereinbrachen, aber keine Eider fielen ein. Das Warten wurde
ihm lang, und er ermüdete. Trieb sich auf den Sandsteinen
umher, um eine Otter aufzuscheuchen; sah aber nur schwarze
Nattern und Wespennester zwischen glänzendem Weiderich
und vertrocknetem Sandhafer.
Es schien ihm aber auch nichts daran zu liegen, etwas zu
bekommen; er trieb sich mehr herum, um sich herumzutreiben;
um nicht daheim sein zu müssen; es machte ihm Vergnügen,
sich hier draußen herumzutreiben, wo niemand ihn sah, niemand
ihn hörte.
Nach dem Mittagessen legte er sich in den Schuppen nieder
und schlief.
Zur Vesperzeit ruderte er mit der Dorschleine hinaus, um
sein Glück auf diese Art zu versuchen. Die See lag jetzt blickstill,
und er sah, wie sich das Land gleich dünnem Rauch in
der goldenen Straße der sinkenden Sonne streckte. Es war
still um ihn wie in einer windstillen Nacht, und er hörte das
Dunken der Ruderdollen meilenweit. Die Seehunde badeten
in gehöriger Entfernung, steckten ihre Schwachköpfe aus dem
Wasser, blökten, pusteten und tauchten wieder unter.
Der Dorsch biß wirklich; es gelang Gustav einige Weißbäuche
heraufzuholen, die mit ihrem großen aber ungefährlichen
Schlund nach Wasser schnappten und mit ihren Augen
in die Sonne blinzelten, als sie aus ihrer dunkeln Tiefe hervorgeholt
wurden und über die Reling ins Boot sprangen.
Gustav hatte auf der nördlichen Seite der Schäre gehalten;
als es aber schnell Abend wurde und er wendete, um zurückzufahren,
merkte er erst, daß der Schornstein des Schuppens
rauchte. Sich fragend, wer das sein könne, machte er, daß er
so schnell wie möglich hin kam.
– Bist du’s? hörte er von innen und erkannte die Stimme
des Pastors.
– Nein, Sie sind’s, Herr Pastor, rief Gustav erstaunt,
als er den Geistlichen am Herdfeuer sitzen und Heringe braten
sah. Sind Sie allein draußen?
– Ich bin herausgefahren, um Dorsch zu fischen; ich habe
auf der Südseite gesessen, deshalb habe ich dich nicht gesehen.
Aber warum bist du nicht zu Hause und hilfst die Hochzeit
rüsten?
– Ich werde die Hochzeit nicht mitmachen, meinte Gustav.
– Ach Geschwätz, warum solltest du sie nicht mitmachen?
Gustav erklärte, so gut er konnte, seine Gründe; aus denen
ging hervor: er wollte erstens ein Fest nicht mitmachen, das
ihn anwiderte; zweitens wollte er den brandmarken, der
sein Gegner war.
– Das kann ich nicht finden, antwortete Gustav. Es ist
eher schade um mich: ich kriege diesen Knoten zum Stiefvater
und kann den Hof nicht erben, solange er darauf sitzt.
– Ja, mein Junge, das ist jetzt nicht mehr zu ändern;
vielleicht aber kann man später ein Mal etwas dabei machen.
Jetzt mußt du morgen ganz früh dein Boot nehmen und
heimsegeln. Die Hochzeit mußt du jedenfalls mitmachen!
– Daraus wird nichts, da ich’s mir einmal in den Kopf
gesetzt habe, versicherte Gustav.
Der Pastor ließ den Stoff fallen und fing an, auf dem
Herdstein seinen Hering zu essen.
– Du hast wohl keinen Schnaps bei dir? begann er von
neuem. Siehst du, meine Alte schließt alles Starke ein, und
ich kriege so früh nichts.
Gustav hatte Branntwein. Der Pastor nahm sich einen gehörigen
Schluck. Darauf wurde er gesprächig und schwatzte
alles mögliche über die Angelegenheiten des Kirchspiels, sowohl
die äußeren wie die innern.
Auf den Steinen vorm Schuppen sitzend, sahen sie die
Sonne untergehen und die Dämmerung sich wie ein melonenfarbiger
Nebel über Kobben und Wasser legen. Die Möwen
gingen auf der Tangbank zur Ruhe, und die Krähen zogen
nach den innern Schären, um in den Wäldern Nachtquartier
zu suchen.
Es ward Zeit, zu Bett zu gehen. Erst aber mußten die
Mücken aus dem Schuppen verjagt werden. Zu diesem Zweck
wurde die Tür geschlossen und der Raum mit »Schwarzem
Anker« vollgeraucht; darauf wurde die Tür wieder geöffnet
und die Jagd mit Ebereschenzweigen unternommen.
– Jetzt mußt du mir noch einen Flohschluck geben, bettelte
der Pastor, der schon sein gehöriges Teil erhalten hatte.
Auf dem Bettrand gab Gustav ihm die letzte Ölung.
Dann wollte man schlafen.
Es war dunkel im Schuppen; nur der eine und der andere
Streifen Tageslicht brach durch die undichten Wände. Doch
in der schlechten Beleuchtung fanden einzelne Mücken ihren
Weg zu den Schläfrigen, die sich in ihren Kojen wanden und
warfen, um den Quälgeistern zu entgehen.
– Nein, das ist doch toll! stöhnte schließlich der Pastor.
Schläfst du, Gustav?
– Bewahre! Heute Nacht wird wohl nichts aus dem
Schlafen werden. Aber womit soll man sich die Zeit vertreiben?
– Wir müssen wohl aufstehen und wieder Feuer anzünden;
einen andern Rat weiß ich nicht. Wenn wir nur ein Spiel
Karten hätten, könnten wir eine Mariage machen. Du hast
wohl keins?
– Nein, ich nicht, aber ich glaube zu wissen, wo die
Qvarnöer ihres haben, antwortete Gustav, kletterte aus dem
Bett, kroch unter die letzte Koje und kam wieder heraus mit
einem Spiel Karten, das etwas abgegriffen war.
Der Pastor hatte Feuer geschlagen, legte Wachholderreisig
auf den Herd und steckte einen Lichtstumpf an. Gustav setzte
den Kaffeekessel auf und zog eine Strömlingstrommel herbei;
die wurde zwischen die Knie gestellt und diente als Spieltisch.
Man steckte die Stummelpfeifen an. Bald tanzten die Karten.
Die Stunden vergingen.
– Drei frische, passe, Trumpf, war zu hören; dazwischen
ein Fluch, wenn eine Mücke unversehens ihren Schröpfkopf
auf Nacken und Knöchel der Spieler ansetzte.
– Hör mal, Gustav, unterbrach der Pastor, der seine Gedanken
anderswo als bei Karten und Mücken gehabt zu haben
schien, schließlich das Spiel, könntest du ihm nicht einen
Streich spielen, ohne gerade der Hochzeit fern zu bleiben?
Es sieht ja feig aus, wenn du diesem Knoten aus dem Weg
gehst! Willst du ihn ärgern, so weiß ich bessern Rat.
– Wie sollte ich das anfangen? fragte Gustav, dem es
allerdings leid tat, um die Bewirtung zu kommen, die noch
dazu von seinem väterlichen Erbe genommen wurde.
– Komm am Nachmittage, unmittelbar nach der Trauung,
heim; sag, du seist auf der See aufgehalten worden. Das ist
genug Schikane. Dann nehmen wir beide zusammen uns den
Carlsson vor und machen ihn betrunken, damit er nicht ins
Brautbett kommt; auch sorgen wir dafür, daß die Burschen
ihren Spaß mit ihm treiben. Ist das vielleicht nicht genug?
Gustav schien nicht abgeneigt zu sein. Der Gedanke, drei
Tage allein auf der Schäre zu hausen, um nachts von den
Mücken aufgefressen zu werden, machte ihn weich; zumal er
sich wirklich danach sehnte, all die Herrlichkeiten, die er hatte
zubereiten sehen, auch sich schmecken zu lassen.
Der Pastor entwarf also den Plan, wie das Abenteuer
auszuführen sei, und Gustav erklärte sich bereit, bei der Ausführung
mitzuwirken.
Mit sich selbst und einander zufrieden, krochen sie schließlich
in ihre Kojen, als schon das Tageslicht durch die Türspalten
drang und die Mücken ihres nächtlichen Tanzes
müde geworden waren.
Carlsson hatte am selben Abend von heimkehrenden Strömlingsfischern gehört, daß man sowohl Gustav wie den Pastor nach der Schäre Norsten habe steuern sehen. Er zog daraus den richtigen Schluß, es sei eine Teufelei im Werke. Gegen den Pastor hegte er einen heftigen Groll, erstens, weil der die Hochzeit sechs Monate verschoben hatte; zweitens, weil der Pastor ihm eine nie ermüdende Geringschätzung zeigte. Carlsson hatte vor ihm gekrochen, sich an ihm gerieben, ihn geschmiert, aber ohne Erfolg. Waren sie im selben Zimmer, drehte ihm der Pastor immer seinen breiten Rücken zu; hörte nie auf das, was er sagte; erzählte immer Geschichten, die sich sehr wohl auf den vorliegenden Fall anwenden ließen.
Carlsson hatte am selben Abend von heimkehrenden Strömlingsfischern gehört, daß man sowohl Gustav wie den Pastor nach der Schäre Norsten habe steuern sehen. Er zog daraus den richtigen Schluß, es sei eine Teufelei im Werke. Gegen den Pastor hegte er einen heftigen Groll, erstens, weil der die Hochzeit sechs Monate verschoben hatte; zweitens, weil der Pastor ihm eine nie ermüdende Geringschätzung zeigte. Carlsson hatte vor ihm gekrochen, sich an ihm gerieben, ihn geschmiert, aber ohne Erfolg. Waren sie im selben Zimmer, drehte ihm der Pastor immer seinen breiten Rücken zu; hörte nie auf das, was er sagte; erzählte immer Geschichten, die sich sehr wohl auf den vorliegenden Fall anwenden ließen.
Statt nun abzuwarten, wie der Pastor und Gustav ihren
Anschlag gegen ihn ausführen würden, entwarf Carlsson einen
Plan, wie er ihnen begegnen könne. Der Seesoldat der
Küste befand sich zufällig auf Urlaub und war augenblicklich
als Mundschenk und Handlanger auf Hemsö angestellt; dort
war seine Gewandtheit als Leiter bei Tänzen und dergleichen
wohl bekannt und geschätzt. Carlsson hatte richtig gerechnet,
wenn er glaubte, der Seesoldat werde mitwirken, um dem
Pastor einen Streich zu spielen; Rapp, so hieß der Bootsmann,
war nämlich vom Pastor nicht konfirmiert worden,
weil er Mädchen nachgestellt hatte; dieser Verlust eines Jahres
hatte ihm Schwierigkeiten bei der Marine gemacht.
Die beiden Pfaffenhasser spannen also bei einer Kaffeehalben
ihren Plan. Der Streich, den sie dem Pastor spielen
wollten, lief auf nichts Geringeres hinaus, als ihn betrunken
zu machen; was dann weiter zu tun war, würden die Umstände
schon ergeben.
Die Minen waren also von beiden Seiten gelegt; und
der Zufall mußte entscheiden, welche die wirksamere war.
Alle erwachten müde und schlechter Laune, infolge der
vielen Vorbereitungen.
Als die ersten Gäste zu früh anlangten, da die Wasserverbindungen
niemals pünktlich sein können, empfing sie niemand;
verdutzt strichen die Gäste um die Häuser, als seien
sie zum Schmarotzen gekommen.
Die Braut war noch nicht angezogen. Der Bräutigam eilte
in Hemdsärmeln umher, um Gläser abzutrocknen, Flaschen
aufzuziehen, Lichter in die Leuchter zu stecken.
Die Stuga war gescheuert und belaubt; alle Möbel waren
hinaus getragen und hinter einer Ecke aufgestellt worden,
daß es aussah, als sei Auktion. Auf dem Hofe war eine
Flaggenstange errichtet; auf der hatte man die Zollflagge
gehißt, die man für die Feier vom Zollaufseher geliehen.
Über der Haustür hingen Kranz und Krone aus Preißelbeerreis
und Gänseblumen; zu beiden Seiten standen Birkenbüsche.
In den Fenstern waren Flaschen aufgereiht, deren Schilder
in den stärksten Farben leuchteten; wie in einem Branntweinladen:
Carlsson liebte starke Effekte. Der goldgelbe
Punsch schien wie Sonnenstrahlen durch das seifengrüne
Glas; der Purpur des Kognaks leuchtete wie Kohlenfeuer;
die silberähnlichen Zinnkapseln, welche die Korke bedeckten,
funkelten wie blanke Geldstücke.
Einige der Kühnsten unter den jungen Bauern traten
näher und gafften, als ständen sie vor einem Ladenfenster;
sie fühlten den Vorgeschmack eines angenehmen Kratzens im
Schlunde.
Auf jeder Seite der Tür lag ein Faß von sechzig Kannen;
wie grobe Mörser bewachten sie den Eingang. Das eine enthielt
Branntwein, das andere Dünnbier. Hinter ihnen lagen
in Haufen, Kugelpyramiden gleich, zweihundert Bierflaschen.
Der Anblick war prachtvoll und kriegerisch, und Bootsmann
Rapp ging umher wie ein Gefreiter, den Korkzieher
am Bauchriemen, das Kriegsgerät ordnend, das unter seinem
Befehl stand. Er hatte die Fässer mit Fichtenreisern verziert,
sie angestochen und mit Metallhähnen versehen; er schwang
seinen Spundhammer wie einen Kanonenwischer und klopfte
dann und wann an die Gefäße, um hören zu lassen, daß sich
etwas in ihnen befand.
In Paradeuniform mit blauer Jacke und umgeschlagenem
Kragen, weißen Hosen und Glanzlederhut, jedoch der Sicherheit
halber ohne Seitengewehr, flößte er den Bauernburschen
großen Respekt ein. Außer seiner Befassung als
Mundschenk hatte er den Auftrag, Ordnung zu halten, Unfug
zu verhüten, bei Bedarf hinauszuwerfen, bei Schlägereien
einzuschreiten. Die reichen Burschen taten so, als verachteten
sie ihn; das war aber nur Neid; sie hätten so gern die Uniform
angezogen und der Krone gedient, wenn sie nicht das
Tauende und die launischen Kanoniere gefürchtet hätten.
In der Küche standen zwei Kochtöpfe für den Kaffee auf
dem Herde, und zusammen geliehene Mühlen krachten und
knirschten. Zuckerhüte wurden mit dem Beil zerschlagen und
Kaffeekuchen war in den Fenstern aufgeschichtet. Die Mägde
liefen hin und her zwischen Küche und Vorratsschuppen, der
mit Gekochtem und Gebratenem aller Art und mit Säcken
voll frischgebackenem Brot behängt war.
Zuweilen steckte die Braut, mit losem Haar und in Hemdsärmeln,
den Kopf durchs Kammerfenster und rief, bald nach
Lotte, bald nach Clara.
Segel auf Segel bog in die Bucht ein, fuhr geschickt um
den Brückenkopf und legte unter Flintenschüssen an. Aber
die Leute wagten sich noch nicht in die Stuga hinauf, sondern
strichen in Scharen um den Hof.
Ein glücklicher Zufall hatte es gefügt, daß des Professors
Frau und Kinder landeinwärts zu einem Geburtstage hatten
reisen müssen, und nur der Professor zu Hause war. Der hatte
daher freundlich die Einladung angenommen, gab auch seinen
großen Saal für die feierliche Handlung her und seinen
Rasen unter den Eichen für Kaffeetrinken und Abendschmaus.
Da waren lange Bretter auf Böcke und Fässer gelegt, um
Tische und Bänke zu bilden; die Tische waren bereits mit
Decken versehen und mit Kaffeetassen gedeckt.
Auf der Höhe vor der Stuga bildeten sich jetzt kleine Gruppen.
Rundqvist, Seehundstran im Haar, frisch rasiert, in
schwarzer Jacke, hatte sich selber die Aufgabe gestellt, die
Gäste durch spöttische Anmerkungen zu erheitern.
Norman hatte den Auftrag erhalten, zusammen mit Rapp
den Ehrengruß zu donnern, hauptsächlich mit Dynamitpatronen;
er hielt sich hinter der Hausecke und übte sich in kleinerem
Maßstabe mit einem Terzerol. Dafür hatte er aber
seine Harmonika hergeben müssen; die war heute in Acht und
Bann getan, weil man den besten Geigenspieler der Gegend,
den Schneider aus Fifong, berufen hatte; und dieser Herr
war sehr empfindlich, wenn man in seine Kunst griff.
Dann kam der Pastor. Er war in scherzhafter Hochzeitslaune,
bereit, mit dem Brautpaar zu spaßen, wie der Brauch
es forderte. Er wurde von Carlsson auf der Schwelle empfangen
und willkommen geheißen.
– Nun, müssen wir auch gleich taufen? grüßte Pastor
Nordström.
– Nein, potztausend, so eilig ist’s denn doch nicht! antwortete
der Bräutigam, ohne verlegen zu werden.
– Bist du deiner Sache auch sicher? fragte der Pastor, während die Bauern grinsten. Ich habe schon ein Mal auf
einer Hochzeit getraut und getauft, aber das waren auch
flinke Leute, die sich es leisten konnten. Im Ernst, wie steht’s
mit der Braut?
– Hm, dieses Mal ist keine Gefahr; aber man kann nie
wissen, wann es los geht, antwortete Carlsson, indem er
dem Pastor seinen Platz anwies, zwischen der Mutter des
Kirchenvorstehers und der Witwe von Owassa, die der Pastor
mit Fischerei und Wetter unterhielt.
Der Professor kam, in Frack und weißer Binde, mit schwarzem
hohen Hut. Der Pastor nahm ihn sofort als ebenbürtige
Standesperson in Anspruch und fing ein Gespräch an, das
die Frauen mit gespannten Augen und Ohren belauschten;
sie waren nämlich davon überzeugt, der Professor sei ein
grundgelehrter Mann.
Aber Carlsson kam und verkündete, alles sei bereit; man
suche nur Gustav noch, um anfangen zu können.
– Wo ist Gustav? rief man jetzt auf dem Hof und wiederholte
es bis zur Scheune.
Niemand antwortete. Keiner hatte ihn gesehen.
– Oh, ich weiß es wohl, wo er ist, erklärte Carlsson.
– Wo kann er denn sein? höhnte Pastor Nordström so,
daß Carlsson es merkte.
– Man hat ihn draußen auf Norsten gesehen, hat ein
Vogel gezwitschert; und ein Fuchs war mit ihm, der ihn zum
trinken verführte!
– Wenn er in schlechte Gesellschaft geraten ist, hat es
keinen Zweck, auf ihn zu warten, meinte der Pastor. Es ist
jedenfalls unrecht von ihm, sich nicht zu Hause zu halten,
wo er so gute Vorbilder und so treue Freunde hat. Aber was
sagt die Braut? Sollen wir anfangen oder sollen wir warten?
Die Braut ward gehört. Ob sie gleich recht traurig war,
wollte sie doch, daß man anfange, weil sonst der Kaffee kalt
werde.
So begann man aufzubrechen, während hinten auf den
Bergfelsen der Dynamit donnerte. Der Spielmann harzte
und schraubte, der Pastor zog den Talar an, die Brautdiener
gingen voran. Der Pastor führte die Braut. Die war in
schwarze Seide gekleidet, trug den weißen Schleier mit dem
Myrtenkranz und war sehr geschnürt; was verborgen werden
sollte, wurde um so sichtbarer.
So zog man in den Saal des Professors hinauf, während
die Geige knirschte und die Schüsse knallten.
Die Braut warf noch im letzten Augenblick unruhige Blicke
um sich, um nach dem verlorenen Sohn zu spähen; als sie
zur Tür hinein sollte, mußte der Pastor sie schleppen, während
sie die Augen hinten hatte.
Sobald sie in den Saal kamen, stellten sich die Gäste rings
an den Wänden auf, als bildeten sie die Wache für eine Hinrichtung.
Das Brautpaar nahm vor zwei umgekehrten Stühlen
Platz, die mit einem brüsseler Teppich bedeckt waren.
Der Pastor hatte das Buch genommen, befühlte seinen
Kragen und wollte sich gerade räuspern, als die Braut ihre
Hand auf seinen Arm legte.
– Nur noch einen Augenblick, dann kommt Gustav wohl!
Es wurde fast ganz still im Zimmer; man hörte nur das
Knarren von Stiefeln und das Knittern gestärkter Hemden;
nach einigen Augenblicken hörte das auf, man sah einander
an, wurde verlegen, hustete; dann ward es wieder still.
Schließlich sagte der Pastor, an dem aller Blicke hingen:
– Jetzt beginnen wir; länger können wir nicht warten!
Ist er noch nicht gekommen, so kommt er auch nicht.
– Teure Christen, die Ehe ist von Gott selbst gestiftet ...
Eine gute Weile war vergangen, die älteren Frauen rochen
an ihrem Lavendel und weinten, als plötzlich ein Knall vom
Hofe zu hören war und das Geklirr von Glasscherben. Man
horchte einen Augenblick auf, ließ sich aber nicht weiter stören;
nur Carlsson rührte sich etwas unruhig und schielte zum
Fenster hinaus. Bald aber kam ein neues puff! puff! puff!,
als entkorke man Champagnerflaschen; die Jungen, die an
der Tür standen, fingen an zu kichern.
Als sich die Unruhe wieder legte, fragte der Pastor den
Bräutigam:
– Vor Gott dem Allwissenden und in Gegenwart dieser
Gemeinde frage ich dich, Johannes Eduard Carlsson, ob du
diese Anna Eva Flod zur Ehefrau haben und sie in Lust und
Leid lieben willst?
An Stelle der Antwort schmetterte eine neue Salve Flaschenkörke,
Glasscherben klirrten und der Hund begann ganz
toll zu bellen.
– Wer zieht denn da draußen Flaschen auf und stört den
heiligen Akt? brüllte Pastor Nordström wütend.
– Danach wollte ich gerade fragen, platzte Carlsson
heraus, der seine Neugier und Unruhe nicht länger zurückhalten
konnte. Macht Rapp diesen Spektakel?
– Was soll ich machen, rief Rapp, der in der Tür stand
und sich von der Zumutung verletzt fühlte.
Puff! puff! puff! knallte es unaufhörlich.
– Geht doch um Himmels willen hinaus und seht nach,
was los ist, damit nicht noch ein Unglück geschieht, schrie der
Pastor; nachher fahren wir fort.
Einige Hochzeitsgäste stürzten hinaus, andere drängten sich
an die Fenster.
– Das Bier, das Bier platzt! wiederholte der Professor.
– Wie kann man aber auch das Bier in die Sonne legen!
Wie Kugelspritzen lagen die Bierflaschen in ihren Haufen
und knallten und brausten, daß der Schaum auf die Erde
rann.
Die Braut war über die unerwartete Unterbrechung der
heiligen Handlung erregt; das bedeutete nichts Gutes! Der
Bräutigam wurde gescholten, weil er seine Anordnung schlecht
getroffen hatte; beinahe wäre er in eine Schlägerei mit dem
Bootsmann gekommen, auf den er die Schuld schieben wollte.
Der Pastor war zornig, daß die heilige Handlung von den
Flaschen gestört worden. Draußen aber standen die Jungen
und tranken die Reste aus den Flaschenböden; während ihrer
Rettungsarbeit bargen sie auch einige halbvolle Flaschen,
aus denen nur die Korke heraus gesprungen waren.
Als sich schließlich der Sturm gelegt hatte, versammelte
man sich von neuem im Saal, allerdings nicht mehr so andächtig
wie vorher. Nachdem der Pastor die Frage an den
Bräutigam wiederholt hatte, wurde die heilige Handlung
zu Ende geführt, ohne daß sie von etwas Anderm unterbrochen
wurde als dem Kichern, das die Jungen im Flur nicht zu
unterdrücken vermochten.
Die Glückwünsche regneten auf die Neuvermählten nieder;
und so schnell man konnte, verließ man den Saal, der
nach Schweiß, Tränen, feuchten Strümpfen, Lavendel und
welken Blumensträußen roch.
Eilig ging’s an den Kaffeetisch.
Carlsson nahm zwischen Professor und Pastor Platz; aber
die Braut hatte nicht die Ruhe zum Sitzen, sondern mußte
hierhin und dorthin eilen, um nach den Zurüstungen zu sehen.
Die Sonne schien glänzend an diesem Juliabend, und unter
den Eichen plauderte und lachte man. Der Branntwein
floß in die Kaffeetöpfe, als die zweite Tasse kam, in die man
nicht mehr den Kuchen tauchte. Doch oben am Kopfende beim
Bräutigam wurde Punsch geboten; weder Bauern noch Burschen
sahen scheel darauf. Es war ein Getränk, das man sich
nicht alle Tage leistete, und der Pastor ließ sich’s aus seinem
Kaffeetopf wohl bekommen.
Heute war er ungewöhnlich mild gegen Carlsson und
trank ihm unaufhörlich zu, rühmte ihn und zeigte ihm die
größte Aufmerksamkeit. Doch vergaß er den Professor nicht,
dessen Bekanntschaft ihm mehr Vergnügen machte, weil er
so selten einen gebildeten Mann traf. Aber es war nicht
leicht, ihn im Gespräch zu finden, da Musik nicht die starke
Seite des Pastors war und der Professor aus Höflichkeit das
Gespräch auf das Gebiet des Pastors zu bringen suchte, dem
dieser gerade entkommen wollte. Da man einander so schwer
verstand, konnte der eine dem andern auch nicht näher kommen.
Überhaupt sprach der Professor, der gewohnt war,
seinen Gefühlen in Musik Luft zu machen, nicht viel.
– Sind viel Leute in der Kirche? fragte er.
– Oh nein, das kann man nicht sagen, nur wenn Abendmahl
ist. Werden wir Sie nie bei uns sehen, Herr Professor?
fragte der Pastor.
– Nein, ich nehme nie das Abendmahl; ich kann nicht.
– Können nicht! Warum nicht?
– Ich muß den Ablaß ausspeien! antwortete der Professor
und machte ein saures Gesicht.
Pastor Nordström, der nicht verwöhnt war, fand, das war
roh gesagt von einem so feinen Herrn; wandte sich von ihm
ab und fuhr fort, dem Bräutigam zuzusetzen.
– Du bist Reiseprediger gewesen, Carlsson? warf er dem
hin. Was hast du denn gepredigt?
– Na, das lasse ich mir gefallen, aber habt ihr gehört,
Burschen – damit wandte er sich an die Männer – habt
ihr von jenem Reiseprediger sprechen hören, der jetzt umherläuft
und den Bauern zeigen will, wie man Kinder macht!
– Hahaha! lachten Männer und Burschen, während die
Frauen sich abwandten und grinsten.
– Solch ein Teufel, dem Vater ins Handwerk zu fuschen!
– Aber, das kann doch nicht Ernst sein? fragte Rundqvist
mit einer schurkisch unschuldigen Miene. Als wüßte
man nicht, wie man auf der Tenne drischt, während man den
Roggen draußen läßt.
Jetzt kam der Spielmann, dem es sehr schwer wurde, unbemerkt
dazusitzen, zum Hochsitz hinauf; durch Kaffeehalbe
in seinem Mut gestärkt, wollte er mit dem Professor über
Musik sprechen.
– Bitte um Verzeihung, Herr Kammermusikus, grüßte
er und knipste an seiner Geige; wir haben ja gewissermaßen
etwas gemeinsam, denn ich spiele auch, wenn auch nur auf
meine Art.
– Geh zur Hölle, Schneider! Sei nicht unverschämt! wies
ihn Carlsson ab.
– Ich bitte um Verzeihung, aber Euch geht’s nichts an,
Carlsson! Versuchen Sie nur diese Geige, Herr Kammermusikus,
und sagen Sie mir, ob die nicht gut ist; sie hat zehn
Reichstaler gekostet.
Der Professor knippste die Quinte, lächelt und sagte
freundlich:
– Recht gut!
– Wenn sich nur jemand darauf versteht, dann kann man
ein wahres Wort hören! Aber über Kunst sprechen mit diesen
– er wollte flüstern, aber die Stimmittel weigerten sich,
zu nuancieren, und er schrie – Bauernlümmeln ...
– Hör mal, Schneider, du darfst dich nicht betrinken:
dann können wir nicht tanzen!
– Rapp, du mußt auf den Spielmann achten, daß er nicht
mehr trinkt!
– Bin ich nicht zum Trinken eingeladen? Bist du vielleicht
geizig, du Preller?
– Setz dich, Friedrich, und sei ruhig, meinte der Pastor,
sonst kriegst du Schläge.
Aber der Spielmann wollte unbedingt über seine Kunst
schwatzen; um seine Behauptung, daß die Geige vortrefflich
sei, zu bekräftigen, fing er an zu quinkelieren.
– Hören Sie nur, Herr Kammermusikus, diese Bässe;
die klingen ganz wie eine kleine Orgel ...
– Der Schneider soll das Maul halten! ...
Um die Tische entstand Bewegung und der Rausch nahm
zu.
Da schrie jemand:
– Gustav ist da!
– Wo? Wo?
Clara sagte, sie haben ihn unten beim Holzhaufen gesehen.
– Sag es mir, wenn er drinnen ist, bittet der Pastor;
aber nicht früher, als bis er drinnen ist, hörst du!
Die Groggläser werden vorgesetzt, und Rapp zieht die
Kognakflaschen auf.
– Das geht etwas hitzig, meinte der Pastor abwehrend.
Carlsson aber fand, es gehe, wie es gehen soll.
Rapp forderte alle heimlich auf, mit dem Pastor anzustoßen.
Bald hatte der seinen ersten Grog geleert und mußte
den zweiten bereiten.
Der Pastor beginnt mit den Augen zu rollen und kaut. Er
betrachtet so genau, wie er kann, Carlssons Züge und sucht
zu ergründen, ob der seine volle Ladung erhalten. Das Sehen
aber fällt ihm schwer, darum beschränkt er sich darauf, mit
ihm anzustoßen.
Da kommt Clara und ruft:
– Jetzt ist er drinnen, Herr Pastor! Jetzt ist er drinnen!
– Nein, was sagst du, zum Teufel, ist er schon drinnen!
Der Pastor hatte vergessen, um wen es sich handelte.
– Wer ist drinnen, Clara? widerhallte es im Chor.
– Gustav natürlich!
Der Pastor erhob sich, ging in die Stuga hinunter und
holte Gustav. Scheu, verwirrt, kam der zu Tisch. Der Pastor
ließ ihn mit einer Tasse Punsch und Hurrahrufen begrüßen.
Dann stieß Gustav mit Carlsson an und sagte ein kurzes:
– Glück auf!
Carlsson wurde gefühlvoll und trank bis auf den Grund
aus; erklärte, es sei ihm ein großes Vergnügen, ihn zu sehen,
wenn er auch spät komme; und er wisse von zweien, deren
alten Herzen es wohl tue, ihn zu sehen, wenn er auch spät
komme.
– Und glaube mir, schloß er, wer den alten Carlsson richtig
zu nehmen versteht, der weiß auch, wo er ihn hat.
Hingerissen war Gustav nicht, aber er forderte Carlsson
auf, ein Glas mit ihm zu trinken.
Die Dämmerung kam, die Mücken tanzten, die Leute
schwatzten, Gläser klangen, Lachen schallten. Hier und dort
in den Büschen waren bereits kleine Notschreie zu hören,
unterbrochen von Kichern und Hurrahen, Hallohen und
Schüssen, während der Himmel des lauen Sommerabends
erblaßte. Draußen auf den Wiesen zirpte das Heimchen und
snarpte die Wiesenknarre.
Die Tische wurden abgeräumt; es sollte zum Abendbrot
gedeckt werden. Rapp hing farbige Laternen, die er vom Professor
geliehen, in die Äste der Eiche. Norman trug Haufen
von Tellern. Rundqvist lag auf den Knien und zapfte Dünnbier
und Branntwein. Die Mädchen trugen Butter in Schobern
herbei, Strömlinge in Diemen, Pfannkuchen in Stapeln,
Fleischklöße in Hocken.
Als alles fertig war, klatschte der Bräutigam in die Hände:
– Bitte, nehmt ein Butterbrot! lud er ein.
– Aber wo ist der Pastor? sperrten sich die alten Frauen.
Ohne den Pastor wollte niemand anfangen.
– Und der Professor? Wo sind sie geblieben? Es geht
wirklich nicht, daß man ohne sie anfängt!
Man rief und suchte, aber keine Antwort.
In Gruppen umstand man die Tische, wie hungrige Hunde
mit funkelnden Augen, bereit, sich auf das Essen zu stürzen;
aber keine Hand rührte sich und das Schweigen wurde bedrückend.
– Vielleicht sitzt der Pastor im Häuschen! ertönte Rundqvists
unschuldige Stimme.
Ohne weiteren Aufschluß abzuwarten, ging Carlsson hinunter,
um den geheimen Ort aufzusuchen. Ganz richtig, bei offener
Tür saßen da Pastor und Professor, jeder seine Zeitung
in der Hand, und waren in lebhaftem Meinungsaustausch
begriffen. Die Laterne stand auf dem Boden und warf ein
Rampenlicht auf die beiden Thronbesteiger, die Carlsson aus
Achtung vor der Heiligkeit des Ortes nicht in ihrer natürlichen
Ausübung einer zwingenden Pflicht stören wollte.
– Nein, lallte der Pastor, ein Mal in der Woche, siehst
du, mein Bruder – er glaubte, sie hätten Brüderschaft getrunken
– ein Mal in der Woche, das ist mein Regime.
Nicht mehr, und nicht weniger.
– Ein Mal in der Woche, sage ich, und nie mehr
als einen Ritt! sagt Hufeland, und das ist mein Regime,
siehst du, mein Bruder.
Das Gespräch drohte langwierig zu werden, und Carlsson
mußte einschreiten.
– Entschuldigen Sie, meine Herren, aber die Butterbröte
werden kalt!
– Bist du’s, Carlsson? Achso! Fangt nur an; wir kommen
sofort!
– Ja, aber alle Leute warten! Mit Respekt zu sagen: die
Herren könnten sich wohl etwas beeilen!
– Kommen gleich, kommen gleich! Geh nur; geh nur!
Carlsson hatte mit Befriedigung zu bemerken geglaubt,
daß der Pastor »gerührt« war; er entfernte sich und beeilte
sich, die Gesellschaft mit der Erklärung zu beruhigen, der
Pastor mache sich bereit und werde gleich kommen.
Einen Augenblick später irrte eine Laterne über den Hof
und näherte sich den gedeckten Tischen; zwei schwankende
Schatten folgten.
Das bleiche Gesicht des Pastors wurde bald am oberen
Ende des Tisches sichtbar. Die Braut trat mit dem Brotkorb
auf ihn zu, um dem peinlichen Warten ein Ende zu machen.
Carlsson aber hatte etwas anderes im Sinn; indem er mit
einem Messer an die Schüssel mit den Fleischklößen klopfte,
schrie er mit lauter Stimme:
– Still, gute Leute, der Herr Pastor will einige Worte
sagen!
Der Geistliche starrte Carlsson an, schien nicht zu verstehen,
wo er zu Hause war; sah, daß er einen glänzenden Gegenstand
in der Hand hatte; erinnerte sich, daß er bei seiner letzten
Weihnachtsrede eine silberne Kanne in der Hand gehabt;
hob die Laterne wie einen Pokal in die Höhe und sprach:
Er starrte Carlsson an, um etwas über Charakter und
Zweck des Festes zu erfahren, denn er war bereits so vollständig
abwesend, daß sich Jahreszeit, Ort, Ursache, Absicht
verflüchtigt hatten. Aber Carlssons grinsendes Gesicht löste
ihm das Rätsel nicht. Er starrte in die Luft, um irgend einen
leitenden Faden zu entdecken; sah die farbigen Laternen in
der Eiche und erhielt die schwankende Vorstellung von einem
riesengroßen Weihnachtsbaum: da hatte er die Spur gefunden.
– Dieses frohe Fest des Lichtes, stieß er hervor, wenn die
Sonne der Kälte weicht, und der Schnee – er sah das weiße
Tischtuch sich wie ein großes Schneefeld unendlich weit ausbreiten
– meine Freunde, wenn der erste Schnee sich wie
eine Decke über den Schmutz des Herbstes legt ... nein, ich
glaube, ihr treibt euern Scherz mit mir ...
Er wandte sich fort und machte einen krummen Rücken.
– Der Herr Pastor ist kalt geworden! sagte Carlsson; er
will sich niederlegen! Bitte, fangt an, meine Herrschaften!
Man ließ sich das nicht zwei Male sagen, sondern stürzte
auf die Schüsseln los, indem man den Pastor seinem Schicksal
überließ.
Dem Pastor war die Bodenkammer des Professors zum
Nachtquartier angewiesen worden; um zu zeigen, daß er
nüchtern war, lehnte er alle Angebote von Hilfe ab, indem
er mit Schlagen
drohte. Die Laterne an den Knien, zusammengefallen,
als suche er Nadeln in dem tauigen Grase, steuerte
er auf ein Fenster zu, das erleuchtet war. Aber an der Gartentür
strauchelte er und stieß so heftig gegen den Türpfosten,
daß die Laterne zerbrach und erlosch. Wie ein Sack schloß
sich die Dunkelheit um ihn und er sank auf seine Knie nieder; aber das Fenster mit dem Licht leuchtete ihm wie ein Leitfeuer.
Beim Weitergehen verspürte er das unangenehme Gefühl,
daß die Knie seiner schwarzen Hosen bei jedem Schritt
feucht wurden, und seine eigenen Kniescheiben schmerzten,
als schlügen sie gegen Steine.
Schließlich kriegt er etwas sehr Großes, Rundes und
Feuchtes zu fassen; er tappt und sticht sich an einem Brief
Stecknadeln oder dergleichen; steckt die Hand in eine Bootsdolle
oder ähnliches; da hört er das Brausen von Wasser und
fühlt, daß er naß wird. Von der Furcht, in die See gegangen
zu sein, aufgescheucht, erhebt er sich am Mast und findet in
einem lichten Augenblick, daß er an einem Türpfosten steht;
kommt mit einer Krängung in einen Flur; fühlt eine Treppenstufe
an den Knien; hört eine Magd schreien: »Herr Jesus,
das Dünnbier!«
Von einem dunkeln bösen Gewissen getrieben, kriecht er
die Treppe hinauf, stößt sich die Fingerknöchel an einem
Schlüssel, kriegt eine Tür auf, die nach innen nachgibt; stürzt
in eine Kammer hinein und sieht ein großes gemachtes Bett
für zwei; hat soviel Kraft, die Decke aufzuschlagen; kriecht
mit Kleidern und Stiefeln hinein, um sich zu verstecken, da
man ihn unten mit Schreien verfolgt; glaubt zu sterben oder
zu erlöschen oder zu ertrinken, und meint, die Menschen rufen
nach Dünnbier!
Ab und zu erwachte er wieder zum Leben, ward wieder angezündet,
aus der See gezogen, lebte und stand am Weihnachtstisch;
saß Lende an Lende neben dem Professor und
disputierte über Hufelands Kunst, hundert Jahre zu leben;
und dann wurde er wieder ausgeblasen wie ein Licht, erlosch,
starb, sank und wurde naß.
Inzwischen wurde das Abendbrot unter den Eichen fortgesetzt
und mit Bier und Branntwein so stark befeuchtet, daß
keiner an den Pastor dachte.
Als man das Essen soweit verschlungen hatte, daß der
Boden in Tellern und Schüsseln zu sehen war, ging man in
die Stuga hinunter, um zu tanzen.
Die Braut wollte dem Pastor etwas Gutes auf die Kammer
schicken; aber Carlsson überzeugte sie davon, daß der
Pastor am liebsten Ruhe haben wolle; es sei nicht richtig,
ihn zu stören. Und dabei blieb es.
Gustav hatte sich von seinem Bundesgenossen abgewandt,
als er merkte, daß der überlistet war; er gab sich seinen Vergnügungen
hin und vergaß allen Groll im Rausch.
Der Tanz ging wie eine Mühle. Der Spielmann saß auf
dem Herd und fiedelte. In den offnen Fenstern kühlten sich
schwitzende Rücken an der Frische der Nacht. Draußen auf
der Höhe saßen die Alten, rauchten, tranken und scherzten
im Halbdunkel, im schwachen Feuerschein, der durch die
Scheiben der Küche fiel, und bei den Lichtern in der Tanzstube.
Draußen aber auf Wiesen und Höhen wanderte Paar um
Paar in dem tauigen Grase unter dem schwachen Schimmer
des Sternenhimmels, um bei Heuduft und Heimchengezirp
das Feuer zu löschen, das die Wärme des Hauses, der starke
Geist des Kornweins, der wiegende Schritt des Tanzes in
ihnen entzündet hatten.
Mitternacht tanzte vorbei und der Himmel begann sich im
Osten zu lichten; die Sterne zogen sich zurück, und der große
Wagen streckte die Deichsel in die Luft, als sei er nach hinten
umgekippt. Die Enten schnatterten im Schilf. Die blanke
Bucht spiegelte bereits die Zitronenfarben der Morgenröte
wieder, zwischen den Schatten der dunkeln Erlen, die im
Wasser auf dem Kopf zu stehen schienen und bis auf den
Seegrund reichten.
Das währte aber nur einen Augenblick; dann zogen Wolken
von der Küste auf und es wurde wieder Nacht.
Da ertönte ein Geschrei in der Küche.
– Der Glühwein! Der Glühwein!
In Zugordnung kamen die Männer mit einer Kasserolle,
die von brennendem Branntwein flammte und einen blauen
Schein um sich warf, während der Spielmann einen Marsch
spielte.
– Mit dem ersten Glas zum Pastor hinauf! schrie Carlsson,
in der Hoffnung, seinem Werk die Krone aufsetzen zu
können.
Mit Hurrahrufen wurde der Vorschlag angenommen. Der
Zug setzte sich nach der Stuga des Professors in Bewegung.
Mit mehr oder weniger sichern Schritten enterte man die
Treppe.
Der Schlüssel saß in der Kammertür und man stampfte
hinein, nicht ohne eine gewisse Furcht, mit Schelten und Hieben
empfangen zu werden. Drinnen war es still, und bei
dem blauen zitternden Scheine der Kasserolle sah man, daß
das Bett unberührt und leer war.
Eine schwarze Ahnung von einem furchtbaren Rückschlag
erfaßte Carlsson; aber er verbarg seinen Argwohn und
machte der Ungewißheit und den Vermutungen mit der improvisierten
Erklärung ein Ende: er erinnere sich jetzt, daß
der Pastor gesagt habe, er wolle sich auf den Heuboden legen,
um den Mücken zu entgehen.
Da man sich mit dem Feuer nicht dem Heu nähern durfte,
gab man die Sache auf. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung,
um den Rückweg anzutreten, hinunter nach dem Hof,
wo das Trankopfer dargebracht wurde.
Carlsson ernannte eilig Gustav zum stellvertretenden Wirt.
Dann nahm er Rapp bei Seite und teilte ihm seine schrecklichen
Ahnungen mit.
Ohne daß die Andern es merkten, schlichen die beiden
Verschworenen die Treppe zur Brautkammer hinauf; einen
Lichtstummel und Streichhölzchen hatten sie mitgenommen.
Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen ein Gestank entgegen,
daß sie beinahe auf den Rücken gefallen wären, wie sie
später erzählten.
Rapp schlug Feuer, und im Brautbett sah Carlsson seine
schlimmsten Erwartungen übertroffen.
Auf dem weißen mit Hohlsaum genähten Kopfkissen lag
ein zottiger Kopf, ähnlich dem eines nassen Hundes, dessen
Mund weit offen stand.
– Potztausend, knirschte Carlsson, das hätte ich doch nicht
gedacht, daß der Halunke sich wie ein Schwein betragen
würde. Gott erbarme sich!
Rapp hob die Decke und hielt sich die Nase zu!
– Oh Jesus, nein! Pfui, pfui!
Carlsson suchte nach einem Stock, aber es war keiner im
Zimmer!
– So ein verdammter Schurke! Gott im Himmel! Und
auch die Stiefel hat er an, der Stänker!
Hier war guter Rat teuer! Wie sollte man den Kranken
fortschaffen, ohne daß die Leute etwas erfuhren, vor allem,
ohne daß die Braut etwas merkte?
– Wir müssen ihn durchs Fenster hinausschaffen! erklärte
Rapp.
– Nicht einmal mit einer Zange möchte ich ihn anfassen!
versicherte Carlsson.
– Mit einer Talje geht es; dann schleppen wir ihn in
die See! Lösch nur das Licht, und dann nach der Scheune
hinauf und die Geräte geholt!
Die Tür wurde von draußen verschlossen und der Schlüssel
herausgezogen. Dann schlichen die beiden Rächer auf einem
Umwege nach der Scheune hinauf. Carlsson fluchte und
schwor:
– Wenn wir ihn nur erst heraus haben, dann wollen wir
ihn schon kriegen!
Zufällig stand das Hebezeug noch vom letzten Schlachten
her da. Nachdem sie die Spiere heruntergenommen und Block
und Seil gefunden hatten, schleppten sie die Geräte auf Umwegen
hinter die Stuga, bis an den Giebel unter das Fenster
des Pastors.
Rapp holte eine Leiter, scherte die Spiere und machte sie
mit einer Latte am First fest. Darauf splißte er einen Stropp,
befestigte den Block und schnitt die Talje ein. Dann kroch
er in die Kammer, während Carlsson unten mit einem Bootshaken
stand, um abzustoßen.
Nachdem Rapp in der Kammer eine Weile gearbeitet
hatte, pustend und schnaubend, sah Carlsson ihn den Kopf
herausstecken und hörte ihn leise den Befehl geben:
– Holen!
Carlsson holte, und bald erschien ein schwarzer Körper
draußen auf dem Fensterbrett.
– Hol steif! befahl Rapp.
Carlsson holte an. Draußen auf dem Hebezeug baumelte
jetzt der schlaffe Körper des Pastors, der sich unglaublich verlängerte,
wie der eines Gehängten.
– Fieren! befahl Rapp wieder.
Aber im selben Augenblick war ein Laut zu hören wie aus
einem angestochenen Dünnbieranker, und als es klack! sagte,
strömte es nieder über Carlssons Kopf und Schultern.
– Herr Jesus, er kotzt! er kotzt, schrie der Bräutigam, der
fühlte, wie sein schwarzer Rock verdorben wurde und etwas
Klebriges sich in die Haarlocken legte, die Rundqvist mit der
kleinen Kneifzange gekräuselt hatte.
– Fieren! schrie Rapp! Nur fieren! Hol an!
Aber Carlsson hatte schon losgelassen; wie ein Haufen lag
der Pastor in den Nesseln, ohne einen Laut von sich zu geben.
Im Nu war der Bootsmann zum Fenster hinausgeklettert,
und eilte die Leiter hinunter. Beide schleppten den Pastor nun
nach der Waschbrücke.
Als sie ans Seeufer kamen, brach Carlsson los:
– Jetzt sollst du baden, du Halunke!
Es war seicht am Strande, aber sehr schlammig, weil
man Jahre lang das Eingeweide der Fische dorthin geworfen
hatte. Rapp packte den Stropp, den er um den Leib des
Schlafenden befestigt, und warf ihn in die See.
Da erwachte der Pastor und stieß einen Schrei aus, wie
ein Ferkel beim Schlachten.
– Holen! befahl Rapp, der merkte, daß die Leute oben
aufhorchten und schon herbeieilten.
Carlsson aber legte sich auf die Knie und wälzte den Pastor
im Schlamm; dann rieb er mit den Händen dessen
schwarzen Anzug so ein, daß jede Spur von dem Unglück,
das im Brautbett geschehen, vertilgt war.
– Was ist da unten los? Was ist? riefen die Leute, die
herbeieilten.
– Der Pastor ist in die See gefallen! antwortete Rapp
und holte den schreienden Geistlichen.
Jetzt entstand eine Volksversammlung. Carlsson spielte
den edelmütigen Retter und machte den mitleidigen Samariter,
indem er frömmelte und wehklagte.
– Könnt ihr euch denken: ich komme ganz zufällig hierher,
da höre ich etwas plätschern und quellen, daß ich glaube,
es sei ein Seehund. Als ich näher kam, sehe ich, es ist unser
lieber Herr Pastor. Herr Jesus, sage ich zum Bootsmann,
ich glaube, das ist Pastor Nordström selbst, der dort liegt
und mit den Flügeln schlägt. Und dann sagte ich zu Rapp:
Du, Rapp, lauf nach einer Trosse! Und Rapp lief nach einer
Trosse. Als wir aber den Stropp um den dicken Herrn schlangen,
fing er an zu schreien, als wollte man ihn ausweiden.
Und wie er aussieht!
Der Pastor sah wirklich unbeschreiblich aus. Die Männer
betrachteten ihren Hirten mit Verdruß, aber auch mit unausrodbarer
Ehrerbietung; sie wollten ihn so schnell wie möglich
fortschaffen.
Aus zwei Paar Rudern wurde eine Bahre gemacht, auf
die man den Pastor legte. Acht starke Schultern trugen ihn
nach der Tenne hinauf, wo man ihn umkleiden wollte.
Der Spielmann, der ganz betrunken war, glaubte, es
handle sich um irgendeine Posse; er stieß zu ihnen und zog
mit, während er Bellmans Trinklied »Macht Platz da,
macht Platz da der Bahr des alten Schmidt!«; fiedelte.
Burschen kamen aus den Büschen hervor und gesellten sich
dazu. Der Professor glaubte seine verlorene Jugend wiedergefunden
zu haben, setzte sich an die Spitze und sang. Norman
hatte seine Harmonika vorgeholt, da er seine musikalische
Suada nicht unterdrücken konnte.
– Es stinkt arg! bemerkte der Professor, welcher der
Dachtraufe von der Bahre zu nahe gekommen war, und die
Männer hielten sich die Nase zu. Da rührte es sich oben, und
über ihre Köpfe ergoß es sich von der Höhe.
– Er speit, er speit! schrie der Professor.
– Nehmt euch in Acht, er kotzt, er kotzt, warnte Carlsson,
aber zu spät.
Als sie aber auf den Hof kamen, stürzten die Frauen herbei;
sobald die den Pastor in seiner traurigen Verfassung
sahen, wurden sie von Mitleid ergriffen und erbarmten sich
über den Bewußtlosen. Frau Flod holte eine Bettdecke, die
sie, trotz Carlssons Warnungen, über den Jammer warf.
Dann setzte man warmes Wasser auf und borgte vom Professor
Wäsche und Anzug.
Als man zur Tenne hinauf kam, wurde der Kranke, wie
man ihn nannte – niemand hätte zugegeben, daß der Pastor
betrunken sei – auf trockenes Stroh gelegt.
Rundqvist kam mit dem Schnäpper, um den Pastor zur
Ader zu lassen, wurde aber fortgejagt. Da bat er, den Kranken
wenigstens besprechen zu dürfen, denn er könne wassersüchtige
Schafe besprechen. Er durfte sich aber durchaus nicht
mit dem Geistlichen befassen, und auch kein anderer von den
Mannsleuten.
Carlsson aber schlich sich wieder in die Brautkammer hinauf,
dieses Mal allein, um die Spuren seiner Demütigung
zu verwischen. Als er die Verwüstung in dem beschmutzten
Brautbett sah, überfiel ihn einen Augenblick Schwäche, ermüdet,
wie er von den Arbeiten der letzten Tage und den
Anstrengungen dieser Nacht war. Er dachte daran, wie anders
es mit Ida gewesen wäre, wenn ihr Verhältnis zu
Stande gekommen. Er trat ans Fenster und blickte lange und
schwermütig über die Bucht.
Die Wolken hatten sich zerstreut und die Nebel sammelten
sich in weißem Flor über dem Wasser; die Sonne ging auf
und strahlte in die Brautkammer hinein, beschien das bleiche
Gesicht und die ausgewässerten Augen, die sich zusammen
kniffen, als kämpften sie gegen hervorbrechende Tränen. Das
Haar lag in feuchten Zotten auf der Stirn, das weiße Halstuch
war befleckt, der Rock hing schlaff herunter und war bekotzt.
Die Sonnenwärme ließ ihn erschauern; mit der Hand
über die Stirn fahrend, wandte er sich ins Zimmer hinein,
noch ein Mal das beschmutzte Bett betrachtend.
– Aber das ist doch ganz furchtbar! sagte er zu sich selbst,
riß sich aus seiner Schlaffheit und fing an, die Bezüge von
den Betten zu ziehen.
SECHSTES KAPITEL
Veränderte Verhältnisse und veränderte Ansichten;
die Landwirtschaft geht zurück und der Grubenbau blüht
Carlsson war nicht der Mann, unangenehme Empfindungen
länger, als er wollte, auf sich einwirken zu lassen; sein
Körper nahm die Schauer hin, schüttelte sich und ließ sie ablaufen.
Seine Stellung als Hofbesitzer hatte er sich durch
seine Tüchtigkeit und sein Wissen errungen; und daß Frau
Flod ihn zum Manne nahm, war ebenso viel Gewinn für sie
als für ihn, meinte er.
Als aber der Hochzeitsrausch verflogen war, begann Carlsson
weniger eifrig zu werden; er war ja nun sicher, sowohl
durch die Heirat wie durch den Erben; denn in wenigen Monaten
war das Kind zu erwarten. Den Gedanken, sich zu einem
Herrn zu machen, hatte er aufgegeben; statt dessen rüstete er
sich, Großbauer zu werden. Zog ein prächtiges wollenes
Wams an, tat ein festes Schurzfell um, trug Wasserstiefel;
brachte viel Zeit vor seinem Sekretär zu; das war sein Lieblingsplatz
geworden. Las die Zeitung, schrieb und rechnete
weniger als früher; überwachte die Arbeit mit der Pfeife
im Munde und zeigte weniger Interesse für die Landwirtschaft.
– Die Landwirtschaft geht zurück, sagte er. Das habe ich
in der Zeitung gelesen; es ist billiger, sein Korn zu kaufen!
– Früher hat er anders gesprochen, meinte Gustav, der
auf alles achtgab, was Carlsson sagte und tat, sich aber auf
eine stumpfe Unterwerfung beschränkte, ohne jedoch den neuen
Herrn anzuerkennen.
– Die Zeiten verändern sich und wir uns mit ihnen! Ich
danke Gott für jeden Tag, an dem ich klüger werde! antwortete
Carlsson.
Er besuchte Sonntags die Kirche; nahm an allgemeinen
Fragen teil und wurde in den Gemeinderat gewählt. Dadurch
kam er in nähere Berührung mit dem Pastor und erlebte
den großen Tag, an dem er ihn duzen konnte. Das war
einer der größten Träume seines Ehrgeizes; ein ganzes Jahr
lang ward er nicht müde, zu erzählen, was er gesagt und
was Pastor Nordström geantwortet hatte.
– Hör mal, lieber Nordström, sagte ich, dieses Mal läßt
du mich aber gewähren! Und da sagte Nordström: Carlsson,
du mußt nicht halsstarrig sein, wenn du auch ein kluger Kerl
und ein verständiger Mann bist ...
Die Folge war, daß Carlsson eine Menge Gemeindeangelegenheiten
übernahm, unter denen die Feuerschau die beliebteste
war. Da reiste man auf Kosten des Kirchspiels umher
und trank Kaffeehalbe bei Bekannten.
Auch die Wahl zum Reichstage, die allerdings im Innern
des Landes stattfand, hatte ihre Verführungen und ihre kleinen
Nachwehen, die bis in die Schären zu spüren waren.
Zur Wahlzeit und auch sonst wohl einige Male im Jahr
kam der Baron mit seinen Jagdherren auf einem Dampfer
heraus; dann wurden fünfzig Kronen für das Recht, einige
Tage jagen zu können, bezahlt. Punsch und Kognak flossen
Tag und Nacht, und man schied von den Jägern mit der
festen Überzeugung: das sind feine Leute.
Carlsson kam also in die Höhe und wurde ein Licht auf
dem Hofe: eine Autorität, die über Dinge Bescheid wußte,
welche die Andern nicht begriffen. Ein schwacher Punkt aber
blieb, und er spürte ihn zuweilen: er war vom Lande, war
kein Seemann.
Um diesen letzten Rangunterschied auszugleichen, fing er
an, sich mehr für die Seegeschäfte zu interessieren, legte eine
große Neigung fürs Meer an den Tag. Putzte sich eine Flinte
und fuhr auf die Jagd hinaus; nahm am Fischen teil und
wagte sich auf längere Segelfahrten.
– Mit der Landwirtschaft gehts abwärts, und wir müssen
uns auf’s Fischen legen, antwortete er seiner Frau, die mit
Unruhe Vieh und Feld verkommen sah.
– Vor allem das Fischen! Das Fischen für den Fischer
und das Land für den Landwirt! verkündigte er jetzt auf eine
Art, die keinen Widerspruch duldete, nachdem er vom Schullehrer
im Kirchenrat gelernt hatte, seine Worte »pallementarisch«
zu setzen.
Zeigte sich ein Mangel im Ertrag, so mußte man Holz
hauen.
– Der Wald muß gelichtet werden, wenn er reif werden
soll! So spricht wenigstens der rationelle Landwirt; ich selber
weiß es nicht.
Und wenn Carlsson es nicht wußte, wie sollten dann die
Andern es wissen!
Rundqvist wurde die Landwirtschaft überlassen, Clara das
Vieh.
Rundqvist ließ Gras auf dem Acker wachsen, schlief vom
Frühstück bis zum Mittag auf dem Rain, schlief vom Mittag
bis zum Abendbrot in den Büschen; warf Stahl über die
Kühe, wenn sie keine Milch gaben.
Gustav hauste noch mehr auf der See als früher und
knüpfte den alten Jägerbund mit Norman wieder an.
Das Interesse, das einen Augenblick alle Arme in Bewegung
gesetzt hatte, war fortgefallen; für einen Fremden arbeiten,
war nicht sehr ermunternd. Darum ging das Ganze
nachlässig aber ruhig seinen gewohnten Gang.
Im Herbst aber, einige Monate nach der Hochzeit, trat ein
Ereignis ein, das wie ein Stoßwind auf Carlssons eben mit
vollen Segeln ausgelaufenes Fahrzeug wirkte. Seine Frau
kam vor der Zeit nieder und gebar ein totes Kind. Die Umstände
waren außerdem so beunruhigend, daß der Arzt bestimmt
erklärte, jetzt sei es Schluß:
– Keine Kinder mehr!
Das war verhängnisvoll für Carlsson; denn nun hatte
er für die Zukunft keine andere Aussicht, als einst aufs Altenteil
zu kommen. Da die Alte obendrein noch kränklich nach der
Entbindung war, drohte diese Veränderung in seiner Stellung
früher einzutreten, als er geträumt hatte. Es kam also
darauf an, die Zeit gut auszunutzen, in die Scheunen zu sammeln,
an den morgenden Tag zu denken.
Neues Leben kam in Carlsson. Die Landwirtschaft mußte
schleunigst gehoben werden; warum, das ging niemanden etwas
an. Bauholz wurde gefällt; denn jetzt sollte eine neue
Stuga gebaut werden; warum, das brauchte er niemandem
auf die Nase zu binden. Die Jagdlust mußte bei Norman
schleunigst gedämpft werden, und noch ein Mal wurde Norman
seinem Freunde abspenstig gemacht. Rundqvist wurde
wieder eingefangen und mit neuen Vorteilen aufgemuntert.
Es ward gepflügt, gesäet, gefischt, gezimmert; die Gemeindesachen
blieben liegen.
Gleichzeitig führte Carlsson ein häusliches Leben; saß bei
seiner Alten; las ihr zuweilen vor, aus der Heiligen Schrift
oder aus dem Gesangbuch; sprach zu ihrem Herzen und
wandte sich an ihre edleren Gefühle, ohne recht erklären zu
können, wo er hinaus wolle.
Die Alte liebte Gesellschaft und hörte gern Geplauder; sie
legte also Wert auf diese kleinen Aufmerksamkeiten, ohne
weiter darüber nachzudenken, was diese Vorbereitungen auf
den Tod bezwecken könnten.
Eines Winterabends, als die Bucht unterm Eise lag, die offnen Meeresflächen aber nicht mehr fahrbar waren, man schon vierzehn Tage eingeschlossen war, ohne einen Nachbar begrüßen zu können, ohne einen Brief oder eine Zeitung zu erhalten; als die Einsamkeit und der Schnee das Gemüt bedrückte und der kurze Tag nur wenig Arbeit erlaubte, hatten sich die Leute in der Küche versammelt; auch Gustav war dabei. Das Feuer brannte im Herd und die Burschen saßen und flickten Netze. Die Mädchen spannen und Rundqvist schnitzte an einem Spatenschaft. Der Schnee war den ganzen Tag gefallen und stieg schon über die Fensterscheiben. Wie ein Totenzimmer sah die Küche aus, da die Fenster mit Laken aus Schnee verhängt waren. Jede Viertelstunde mußte ein Mann hinaus und die Tür frei schaufeln, damit man nicht eingeschneit wurde, sondern zum Melken und Futtern nach dem Stall gelangen konnte.
Eines Winterabends, als die Bucht unterm Eise lag, die offnen Meeresflächen aber nicht mehr fahrbar waren, man schon vierzehn Tage eingeschlossen war, ohne einen Nachbar begrüßen zu können, ohne einen Brief oder eine Zeitung zu erhalten; als die Einsamkeit und der Schnee das Gemüt bedrückte und der kurze Tag nur wenig Arbeit erlaubte, hatten sich die Leute in der Küche versammelt; auch Gustav war dabei. Das Feuer brannte im Herd und die Burschen saßen und flickten Netze. Die Mädchen spannen und Rundqvist schnitzte an einem Spatenschaft. Der Schnee war den ganzen Tag gefallen und stieg schon über die Fensterscheiben. Wie ein Totenzimmer sah die Küche aus, da die Fenster mit Laken aus Schnee verhängt waren. Jede Viertelstunde mußte ein Mann hinaus und die Tür frei schaufeln, damit man nicht eingeschneit wurde, sondern zum Melken und Futtern nach dem Stall gelangen konnte.
Jetzt war die Reihe an Gustav; Ölrock und Südwester
über Wams und Ottermütze, so ging er hinaus; stemmte die
Tür auf, gegen die sich der Schnee gelegt hatte, und stand
draußen im Schneetreiben. Die Luft war schwarz, die Schneeflocken
waren grau wie Motten, groß wie Hühnerfedern;
schwebten unaufhörlich, unaufhörlich nieder, legten sich leise
auf einander, erst leicht, dann schwerer; packten sich zusammen
und wuchsen an. Schon ein gut Stück ging der Schnee
die Wand des Hauses hinauf und nur durch die obere Ecke
der Fenster schimmerten die Lichter von innen.
Eine Neugier, die ihn schnell überkam, veranlaßte Gustav,
den oberen Schnee herunter zu stochern, damit er ein Guckloch
erhielt; als er dann auf den Schneehaufen stieg, konnte
er ins Zimmer sehen.
Carlsson saß wie gewöhnlich vor dem Sekretär; er hatte
ein großes Papier vor sich liegen; das war oben mit einem
großen blauen Stempel bedruckt, der wie die Zeichnung auf
den Scheinen der Reichsbank aussah. Die Feder hoch erhoben,
sprach er auf die Alte, die neben ihm stand, ein; er
schien ihr die Feder geben zu wollen, damit sie etwas schreibe.
Gustav legte das Ohr an die Scheibe; da es aber Doppelfenster
waren, hörte er nur ein Gemurmel. Außerordentlich
gern hätte er jedoch gewußt, was da vor ging, denn er ahnte,
daß es ihn sehr nahe berühre; auch hatte er gelernt, daß es
sich um wichtige Angelegenheiten handelt, wenn man gestempeltes
Papier benutzt.
Leise öffnete er die Tür, schob die Strohschuhe ab und
kroch die Treppe hinauf, bis er auf den oberen Flur kam.
Dort legte er sich auf den Bauch; und nun konnte er hören,
was in der Stube bei der Mutter gesprochen wurde.
– Anna Eva, verkündete Carlsson mit einem Ton, der
zwischen Reiseprediger und Gemeinderat lag; das Leben ist
kurz, und der Tod kann über uns kommen, ehe wir es
wissen. Wir müssen also darauf gefaßt sein, von hinnen
zu gehen, ob es nun heute geschieht oder morgen; das ist
ganz einerlei! Unterschreib also, je eher desto besser!
Die Alte liebte es nicht, so viel von Tod zu hören; aber
Carlsson hatte nun Monate lang so oft davon gesprochen,
daß sie gegen diese Rede nur noch schwach Widerstand zu
leisten vermochte.
– Aber, Carlsson, ganz einerlei ist es mir nicht, ob ich
heute sterbe oder in zehn Jahren; ich kann noch lange leben.
– Ich habe ja nicht gesagt, daß du sterben wirst; ich
habe nur gesagt, daß wir sterben können; und ob das
heute oder morgen, oder in zehn Jahren geschieht, das ist
ganz einerlei; ein Mal muß es geschehen! Also schreib nur!
– Das verstehe ich nicht, widerstrebte die Alte, als wolle
der Tod kommen und sie holen; es kann doch wohl nicht ...
– Doch, es ist ganz einerlei, wann es geschieht! Ist es
vielleicht nicht so? Ich weiß es nicht! Jedenfalls schreib!
Ihr war, als lege er ihr einen Strick um den Hals, wenn
Carlsson mit seinem »Ich weiß nicht« kam; die Alte wußte
sich nicht mehr zu helfen und gab nach.
– Nun, wo hinaus willst du? fragte sie ihn, von dem
langen Hinundherreden ermüdet und erschöpft.
– Anna Eva, du mußt an deine Nachkommen denken;
denn das ist die erste Pflicht des Menschen; darum mußt du
schreiben.
In diesem Augenblick öffnete Clara die Küchentür und
fragte, wo Gustav bleibe; der aber wollte sich nicht verraten
und verhielt sich still; konnte aber nicht mehr hören, was weiter
in der Stube geschah.
Clara ging zurück und Gustav kletterte hinab; blieb vor
der Stubentür stehen, um die letzten Worte von Carlsson zu
hören; die ließen ihn vermuten, daß die Alte unterschrieben
habe und das Testament aufgesetzt sei.
Als Gustav wieder in die Küche kam, sahen die Leute,
daß ihm etwas geschehen war. Er sprach in versteckten Worten,
er werde einen Fuchs fangen, den er schreien gehört;
es sei besser, auf See zu gehen, als sich zu Hause von den
Läusen fressen zu lassen; ein weißes Pulver unterm Futter
könne Gaulen Mut machen; aber auch den Tod geben, wenn
es zu viel sei.
Carlsson dagegen war beim Abendbrot äußerst menschenfreundlich;
erkundigte sich nach Gustavs Arbeitsplänen und
Jagdabsichten; holte das Stundenglas und ließ den weißen
Sand rinnen; dann sagte er:
– Die Minuten sind kostbar; essen wir und trinken wir,
denn morgen müssen wir sterben!
Gustav lag in dieser Nacht lange wach; viele finstere Gedanken
und schwarze Pläne kreuzten sich in seinem Kopfe.
Aber er war keine starke Seele, welche die Verhältnisse nach
ihrem Sinn ändern, Gedanken in Handlung umsetzen konnte;
wenn er eine Sache durchdacht hatte, ließ er sie fallen, als
sei sie vollendet.
Nachdem er einige Stunden geschlafen und von andern
Dingen geträumt hatte, war er wieder ebenso fröhlich und
ließ fünf gerade sein, indem er darauf traute: Kommt Zeit,
kommt Rat; die Gerechtigkeit wird schon ihren Gang gehen;
und dergleichen mehr.
Der Frühling kam wieder, die Schwalben besserten ihre Nester aus und der Professor kehrte zurück.
Der Frühling kam wieder, die Schwalben besserten ihre Nester aus und der Professor kehrte zurück.
Um dessen Stuga hatte Carlsson im Laufe der Jahre einen
Garten angelegt; Flieder, Obstbäume, Beerenbüsche gepflanzt;
für die er Stecklinge und Pfropfreiser aus der Pfarre
geholt; Wege besandet und Lauben errichtet. Es begann herrschaftlich
auf dem Hofe auszusehen.
Niemand konnte leugnen, daß der Fremdling Wohlstand
und Gemütlichkeit geschaffen, daß er Feld und Vieh in die
Höhe gebracht, Haus und Hof in Stand gesetzt; sogar den
Preis für die Fische hatte er in der Stadt in die Höhe getrieben
und ein Abkommen mit einem Dampfer getroffen,
damit man sich die langen zeitraubenden Fahrten nach der
Stadt sparen konnte.
Jetzt, als er nachließ, müde war, sich mit dem Bau seiner
eigenen Stuga beschäftigte, klagte man.
– Macht es doch selber, antwortete Carlsson, dann werdet
ihr mal sehen, wie gut es tut. Jeder für sich und Gott
für uns alle!
Bald hatte er seine eigene Stuga unter Dach, begann
einen Garten anzulegen, Büsche zu pflanzen, Wege zu machen.
Er hatte seine Stuga mit solchem Geschmack gebaut, daß
sie die anderen in Schatten stellte. Sie besaß zwar nur zwei
Zimmer und Küche, sah aber doch stattlicher aus als die alten
Häuser; woran es lag, konnte man nicht sagen. Ob daran,
daß er den Dachstuhl hoch geführt und die Dachtraufe weit
über die Wand hatte vorspringen lassen; oder ob es die
»Krucifixe« waren, die er in die Deckbretter gesägt hatte;
oder die Veranda, die er mit einigen Treppenstufen vor die
Tür gesetzt. Es waren keine Kostbarkeiten, aber es sah doch
etwas villenartig aus. Rot war die Stuga wie eine Kuh,
aber die Ecken waren schwarz und getäfelt; die Fensterbretter
waren weiß gestrichen und die Veranda, ein leichtes Dach
auf vier Pfosten, war blau gemalt.
Auch hatte er Verstand genug gehabt, seinen Platz zu
wählen; unmittelbar unter dem Fuß des Berges, und zwar
so, daß zwei alte Eichen mitten davor zu stehen kamen, ungefähr
wie der Anfang einer geplanten Allee oder eines Parks.
Wenn man auf der Veranda saß, hatte man die schönste Aussicht:
die Bucht mit den Schilfbänken, die lange grüne
Quellwiese; durch eine Mulde im Kälberhag konnte man die
Boote hinten im Sunde sehen.
Gustav sah alles scheel an, wünschte die Stuga fort, hielt
Carlsson für eine Wespe, die ihr Nest unter dem Dachstuhl
baute; die hätte er gern verscheucht, ehe sie Eier legen und
sich vielleicht mit ihrer Brut festsetzen konnte. Er hatte aber
nicht die Kraft, sie fortzubringen; darum blieb sie sitzen.
Die Alte war kränklich und ließ alles gehen, wie es ging.
Im Vorgefühl des Wirrsals, das entstehen würde, wenn sie
aus dem Leben schied, sah sie es nicht ungern, daß ihr Mann,
denn das war er jedenfalls, ein Dach über dem Kopf hatte
und nicht als armer Teufel herumlief. Sie verstand sich
nicht auf Rechtssachen, hatte aber eine Ahnung davon, daß
es bei Vermögensaufnahme, Erbteilung, Testament nicht mit
rechten Dingen zugegangen; doch das war die Sache der Andern,
wenn sie nur damit nichts zu tun hatte. Ein Mal mußte
es aber losbrechen, wenn nicht früher, dann an dem Tage,
an dem Gustav heiratete; und solche Gedanken mußte ihm
jemand in den Kopf gesetzt haben, denn er war sich nicht mehr
gleich, sondern ging nachdenklich umher.
Eines Nachmittags Ende Mai stand Carlsson in seiner neuen Küche und mauerte am Herd, als Clara kam und ihn rief:
Eines Nachmittags Ende Mai stand Carlsson in seiner neuen Küche und mauerte am Herd, als Clara kam und ihn rief:
– Carlsson, Carlsson, der Professor ist mit einem deutschen
Herrn gekommen, der Carlsson sprechen will!
Carlsson nahm das Schurzfell ab, trocknete sich die Hände
und machte sich zum Empfang bereit, neugierig, was der ungewöhnliche
Besuch zu bedeuten habe.
Als er auf die Veranda kam, stieß er auf den Professor,
in dessen Begleitung sich ein Herr mit langem schwarzem
Bart befand, der sehr energisch aussah.
– Direktor Diethoff möchte Sie sprechen, Carlsson, sagte
der Professor, indem er auf seinen Begleiter deutete.
Der Direktor hatte keine Zeit, sich zu setzen, sondern fragte
stehend, ob der Roggenholm zu verkaufen sei.
Carlsson fragte, zu welchem Zweck, denn der Holm war
vielleicht nur drei Morgen groß, war hügelig, trug etwas
Fichtenwald und bot nur unbedeutende Schafweide.
– Zu industriellem Zweck, antwortete der Direktor und
fragte, was er koste.
Carlsson war unschlüssig und bat um Bedenkzeit, bis er
erfahren, was dem Holm seinen unerwarteten Wert gab.
Es war aber nicht die Absicht des Direktors, ihn das sofort
wissen zu lassen, sondern er wiederholte noch ein Mal
seine Frage, was der Holm koste. Dabei faßte er in die
Brusttasche, deren starke Anschwellung deutlich durchs Tuch
zu sehen war und verriet, daß darin etwas steckte.
– So teuer kann der wohl nicht sein, meinte Carlsson;
aber ich muß erst mit der Alten und dem Sohne sprechen.
Damit lief er nach der Stuga hinunter; blieb eine gute
Weile fort und kam dann zurück. Jetzt aber sah er verlegen
aus, und es schien ihm schwer zu fallen, mit seiner Forderung
herauszurücken.
– Sagen Sie, was Sie geben wollen, Herr Direktor,
brachte er schließlich hervor.
Nein, das wollte der Direktor nicht.
– Nun, wenn ich dann fünf sage, so werden Sie es nicht
zu teuer finden, preßte Carlsson hervor, dem der Atem im
Hals stecken blieb und der Schweiß auf die Stirne trat.
Direktor Diethoff öffnete den Rock, zog die Banknotentasche
heraus und zählte zehn Scheine zu je einhundert Kronen
auf.
– Hier ist vorläufig Handgeld; die vier andern kommen im Herbst? Einverstanden?
– Hier ist vorläufig Handgeld; die vier andern kommen im Herbst? Einverstanden?
Carlsson war im Begriff eine Dummheit zu machen; es
gelang ihm aber gerade noch, seine überschwellenden Gefühle
zurückzudrängen und ziemlich ruhig zu antworten, er sei einverstanden,
während er nur fünfhundert Kronen statt fünftausend
gemeint hatte.
Darauf ging man zum Sohne und zur Alten hinunter, um
den Kaufvertrag zu unterzeichnen und die Summe zu quittieren.
Carlsson blinzelte und grinste den Beiden zu, sie sollten
ihm beistehen; die aber verstanden nichts.
Schließlich setzte sich die Alte die Brille auf und las, nachdem
sie unterschrieben hatte.
– Fünftausend! schrie sie. Was lese ich? Du sagtest doch
hundert, Carlsson?
– Nein, da mußt du dich verhört haben, Anna Eva. Habe
ich vielleicht nicht tausend gesagt, Gustav?
Dabei blinzelte er so sehr, daß der Direktor es sah.
– Ja, ich glaube wohl, er hat tausend gesagt! stand
ihm Gustav bei, so gut er konnte.
Als der Vertrag unterschrieben war, erklärte der Direktor,
er beabsichtige für Rechnung seiner Gesellschaft auf dem
Roggenholm eine Feldspatgrube anzulegen.
Niemand wußte, was Feldspat ist, und niemand hatte an
diesen Schatz gedacht; außer Carlsson; der schwindelte jetzt,
er habe längst daran gedacht, nur kein Kapital gehabt.
Der Direktor erzählte, Feldspat sei eine rote Steinart,
die von Porzellanfabriken gebraucht werde. In acht Tagen
werde das Haus des Verwalters, das schon bei der Tischlerei
bestellt sei, aufgestellt sein; in vierzehn Tagen werde die
hölzerne Arbeiterkaserne auf ihrem Platz stehen; mit dreißig
Mann werde man dann die Arbeit anfangen.
Damit reiste er.
Dieser Goldregen war so schnell über die Inselbauern gekommen,
daß sie keine Zeit gehabt hatten, alle Folgen zu
berechnen. Tausend Kronen auf dem Tisch, viertausend im
Herbst, für eine wertlose Insel: das war zu viel auf ein Mal.
Darum saßen sie den ganzen Abend einträchtig bei einander
und rechneten aus, was ihnen außerdem noch zufallen könnte.
Natürlich konnte man Fische und andere Produkte an die
vielen Arbeiter und an den Verwalter verkaufen; Holz auch;
das war nicht zweifelhaft. Dann kam der Direktor heraus,
vielleicht mit Familie, und wollte auf Sommerfrische wohnen.
Dann konnte man natürlich dem Professor die Miete
steigern; und Carlsson konnte vielleicht seine Stuga auch
vermieten. Alles werde schön und gut werden.
Carlsson legte selbst das Geld in den Sekretär und saß
die halbe Nacht vor der Klappe, um zu rechnen.
Während der nächsten Woche fuhr Carlsson mehrere Male nach dem Badeort Dalarö und kam mit Tischlern und Malern zurück. Auf seiner Veranda hielt er kleine Empfänge ab; er hatte einen Tisch dahin gestellt; an den setzte er sich, trank Kognak, rauchte die Pfeife und überwachte die Arbeit, die jetzt große Fortschritte machte.
Während der nächsten Woche fuhr Carlsson mehrere Male nach dem Badeort Dalarö und kam mit Tischlern und Malern zurück. Auf seiner Veranda hielt er kleine Empfänge ab; er hatte einen Tisch dahin gestellt; an den setzte er sich, trank Kognak, rauchte die Pfeife und überwachte die Arbeit, die jetzt große Fortschritte machte.
Bald waren Tapeten in allen Zimmern, sogar in der
Küche; und dort wurde auch ein ordentlicher Herd eingemauert.
Die Fenster wurden mit grünen Läden versehen, die
weithin leuchteten; die Veranda wurde noch ein Mal gestrichen,
und zwar weiß und rosenrot; auch erhielt sie auf der
Sonnenseite eine blau- und weißgestreifte Zwillichgardine. Um Hof und Garten erstreckte sich ein Lattenzaun, der grau
gestrichen war und weiße Köpfe hatte.
Die Leute standen lange davor und gafften die Herrlichkeit
an; Gustav aber stand am liebsten in gehöriger Entfernung
hinter einer Ecke oder einem dichten Busch; eine Einladung,
auf die Veranda zu kommen, nahm er selten oder
niemals an.
Es war einer von Carlssons Träumen, die er in recht
klaren Nächten träumte, wie der Professor auf der Veranda
zu sitzen, selbstherrlich zurückgelehnt, aus einem Fußglas
Kognak nippend, sich die Aussicht anzusehen und eine Pfeife
zu rauchen – noch lieber eine Zigarre; aber die war ihm
noch zu stark.
Als er acht Tage später eines Morgens in aller Frühe
dort saß, hörte er im Sunde vorm Roggenholm einen Dampfer
pfeifen.
– Jetzt kommen sie, dachte er; und als Herr am Ort wollte
er fein sein und sie empfangen.
Er ging hinunter in die Stuga und zog sich an; schickte nach
Rundqvist und Norman, die ihn nach dem Roggenholm begleiten
sollten, um die fremden Herren zu empfangen.
In einer halben Stunde stieß das Boot ab, und Carlsson
setzte sich ans Steuer. Dann und wann ermahnte er die
Knechte, in Takt zu rudern, damit man als ordentliche Leute
ankomme.
Als sie die letzte Landzunge umfahren hatten und der
Sund sich öffnete, auf der einen Seite von der großen Insel
und auf der andern Seite vom Roggenholm begrenzt, hatten
sie einen prachtvollen Anblick vor sich. Ein Dampfer, der mit
Flaggen und Signalen geschmückt war, lag im Sund verankert;
und zwischen Schiff und Land fuhren kleine Jollen
mit Matrosen in blauweißen Jacken. Oben auf der Strandklippe,
die von dem bloßgelegten Feldspat rosenrot leuchtete,
stand eine Gruppe Herren und ein Stück davon ein Musikchor,
dessen Messinginstrumente sich prächtig von den schwarzen
Fichten abhoben.
Die Ruderer fragten sich, was man dort oben vorhabe, und
ruderten an die Klippe heran, um so nahe wie möglich zu
kommen und zu sehen und zu hören. Eins, zwei, drei, gerade
als sie unter dem Sammelplatz lagen, war ein Sausen in der
Luft zu hören, als seien zwölfhundert Eider aufgeflogen;
dann ein Dröhnen, das aus dem Innern des Berges zu kommen
schien; schließlich ein Krachen, als sei der ganze Holm
gesprungen.
– Zum Teufel! war alles, was Carlsson hervorbringen
konnte, denn im nächsten Augenblicke regnete es Steine ums
Boot; ein Schauer von Kies folgte und schließlich ein Hagel
kleiner Steine.
Dann sprach eine Stimme oben auf dem Berge; sprach von
Handwerk und Gewerbe, von aufgespeicherter Arbeit; auch
etwas Ausländisches kam vor, das die Inselbauern nicht
verstanden.
Rundqvist glaubte, es sei eine Predigt, und nahm die
Mütze in die Hand; Carlsson aber verstand, daß es die Direktion
war, die sprach.
– Ja, meine Herren, schloß der Direktor, wir haben hier
viel Steine vor uns, und ich schließe meine Rede mit dem
Wunsch, sie mögen alle zu Brot werden!
– Bravo!
Und dann blies die Musik einen Marsch. Die Herren kamen
an den Strand hinab, alle kleine Steinstücke in der Hand
tragend, die sie unter Lachen und Lärm befingerten.
– Was macht ihr da mit dem Boot? schrie ein Herr in
Marineuniform die Inselbauern an, die auf ihren Rudern
ausruhten.
Sie wußten nicht, was sie antworten sollten, hatten aber
nicht gedacht, daß es gefährlich sein könne, sich den Staat
anzusehen.
– Das ist ja Carlsson selbst, erklärte Direktor Diethoff,
der hinzu gekommen war. Das ist unser Wirt hier am Ort,
stellte er vor. Kommen Sie und frühstücken Sie mit uns!
Carlsson traute seinen Ohren nicht, überzeugte sich aber
bald, daß die Einladung ernst gemeint sei.
Bald saß Carlsson auf dem Achterdeck des Dampfers an
einem gedeckten Tisch, dessengleichen er noch nicht gesehen.
Er hatte sich zuerst geziert, aber die Herren waren ganz ungewöhnlich
leutselig und erlaubten nicht ein Mal, daß er
das Schurzfell abnahm.
Rundqvist aber und Norman aßen auf dem Vorderdeck mit
der Mannschaft.
Das Paradies hatte Carlsson sich nicht herrlicher gedacht.
Speisen, deren Namen er nicht wußte und die wie Honig im
Mund schmolzen; Speisen, die den Hals einrieben ganz wie
ein Schnaps; Speisen in allen Farben. Und sechs Gläser
standen vor seinem Platze wie vor den Plätzen der andern
Herren; und Weine wurden getrunken, die waren, als rieche
man an einer Blume oder küsse ein Mädchen; Weine, die
einem in die Nase stachen, die einem in den Beinen kitzelten,
die einem zum Lachen verlockten. Dazu blies die Musik so
lieblich, daß es an der Nasenwurzel kribbelte, als wolle man
weinen; bald fror man an den Schläfen, bald tat es einem
so wohl im ganzen Körper, daß man hätte sterben mögen.
Als alles zu Ende war, sprach der Direktor für den Wirt;
lobte ihn, daß er seinen Stand ehre und nicht den Haupterwerb
verlasse, um einem unsichern Gewinn auf andern Gebieten
nachzujagen, wo die Not Arm in Arm mit dem Luxus
gehe.
Und dann stieß man mit Carlsson an. Der wußte nicht,
ob er lachen oder ernst bleiben sollte; aber er sah die Herren
lachen, als etwas recht Ernstes, wie er meinte, gesagt wurde;
also lachte er mit.
Nach dem Frühstück wurden Kaffee und Zigarren geboten,
und man stand vom Tische auf.
Carlsson, edelmütig wie ein Glücklicher, wollte nach vorn
gehen, um nachzusehen, ob Rundqvist und Norman etwas
bekommen hatten. Da aber rief ihn der Direktor an und bat
ihn, einen Augenblick in die Kajüte zu kommen.
In der Kajüte machte ihm Herr Diethoff den Vorschlag, er
möge, um seine Stellung zu befestigen und, wenn es nötig
sei, als Autorität unter den Arbeitern auftreten zu können,
einige Aktien zeichnen.
– Darauf verstehe ich mich leider nicht, meinte Carlsson,
der so viel von diesen Geschäften wußte, daß man nichts abschloß,
wenn man getrunken hatte.
Aber der Direktor ließ ihn nicht los, und nach einer halben
Stunde hatte Carlsson vierzig Aktien der Feldspat-Aktiengesellschaft
Eagle zu je hundert Kronen; ferner das ausdrückliche
Versprechen, stellvertretendes Mitglied des Aufsichtsrates
zu werden. Von der Einzahlung sagte man nur, sie
sollten »pö a pö« geschehen und
à conto.
Darauf trank man Kaffee und Kognak und Punsch und
Biliner Wasser. Sechs war die Uhr, als Carlsson ins Boot
kam.
Bei der Ausbootung ließ man das Reep fallen; das verstand
Carlsson aber nicht, sondern drückte allen Matrosen,
die an der Treppe standen, die Hand und bat sie zu grüßen,
wenn sie an Land kämen.
Mit seinen vierzig Aktienbriefen nebst Coupons ließ er
sich nach Hause rudern, am Steuer sitzend, eine Zigarre im
Munde und einen Korb Punsch zwischen den Knien.
Als Carlsson nach Haus kam, schwamm er in Seligkeit,
lud alle, auch die Mägde aus der Küche, zu Punsch ein, zeigte
die Aktienbriefe, die wie riesengroße Scheine der Reichsbank
aussahen; wollte den Professor einladen und begegnete die
Einwendungen der Anderen damit: er sei stellvertretendes
Mitglied des Aufsichtsrates und ebenso gut wie ein deutscher
Musikant, der kein Gelehrter sei und darum auch kein richtiger
Professor.
Pläne, so groß wie ein Holzstoß, hatte Carlsson; er wollte
eine einzige große Strömling-Salzerei-Aktiengesellschaft für
das ganze stockholmer Inselmeer gründen, Faßbinder von
England ins Land rufen, Fahrzeuge direkt von Spanien mit
Salz kommen lassen!
Im selben Atemzuge sprach er vom Hauptgewerbe, der
Landwirtschaft, deren Vertretern und deren Zukunft, gab
seinen Hoffnungen und Befürchtungen Ausdruck. Man trank
seinen Punsch und hüllte sich in Tabakswolken und frohe
Aussichten ein.
Carlsson war so hoch gestiegen, daß er einen Schwindelanfall bekam. Die Landwirtschaft wurde vernachlässigt und die Besuche auf dem Roggenholm folgten sich Tag aus Tag ein. Er machte die Bekanntschaft des Verwalters, saß auf dessen Veranda, trank Kognak und Biliner Wasser, während er zusah, wie die Arbeiter Steine klopften, um die Quarzadern herauszubrechen; wären die nicht gewesen, hätte man den ganzen Berg auf ein Mal verschiffen können.
Carlsson war so hoch gestiegen, daß er einen Schwindelanfall bekam. Die Landwirtschaft wurde vernachlässigt und die Besuche auf dem Roggenholm folgten sich Tag aus Tag ein. Er machte die Bekanntschaft des Verwalters, saß auf dessen Veranda, trank Kognak und Biliner Wasser, während er zusah, wie die Arbeiter Steine klopften, um die Quarzadern herauszubrechen; wären die nicht gewesen, hätte man den ganzen Berg auf ein Mal verschiffen können.
Der Verwalter war früher Vorarbeiter in einem Bergwerk
gewesen; hatte Verstand genug, um sich mit dem Aktienbesitzer
und stellvertretenden Mitglied des Aufsichtsrates
gut zu stellen; besaß genügende Einsicht, um abschätzen zu
können, wie lange das Geschäft gehen würde.
Aber der neue Grubenbetrieb übte auch seinen Einfluß auf
das leibliche und sittliche Wohlbefinden der Inselbauern;
und die Anwesenheit von dreißig unverheirateten Arbeitern
begann ihre Wirkungen zu zeigen.
Die Ruhe war gestört. Den ganzen Tag über donnerten
Schüsse aus dem Berge; Dampfer pfiffen im Sund; Jachten
kamen und spieen Seeleute ans Land. Abends erschienen die
Arbeiter auf dem Bauernhofe, umkreisten Brunnen und Stall;
stellten den Mädchen nach; veranstalteten Tänze; tranken und
schlugen sich mit den Knechten.
Die Leute feierten die Nächte durch, und am Tage war
nichts mit ihnen anzufangen; sie schliefen auf den Wiesen,
nickten am Herd ein.
Zuweilen kam der Verwalter auf Besuch. Dann mußte man
den Kaffeekessel aufsetzen, und da man dem Herrn nicht
Branntwein anbieten konnte, mußte man sich Kognak halten.
Doch man verkaufte Fische und Butter; Geld strömte ein;
man lebte flott, und Fleisch kam öfters auf den Tisch als
früher.
Carlsson fing an fett zu werden; ging den Tag über in
einem leichten Rausch umher, ohne sich jedoch zu überladen.
Wie ein einziges langes Fest verging der Sommer für ihn,
da er seine Zeit zwischen Gemeindesachen, Grubenbau und
Naturverschönerungen teilte.
Jetzt im Herbst war er acht Tage auf Feuerschau fort gewesen.
Als er eines frühen Morgens nach Hause kam, wurde
er von der Alten mit der beunruhigenden Mitteilung empfangen,
es müsse etwas draußen auf dem Roggenholm geschehen
sein. Es sei dort nämlich vier Tage lang still gewesen; nicht
ein Schuß sei gelöst worden und keine Dampferpfeife habe
man gehört. Die Leute seien mit Dreschen beschäftigt gewesen;
deshalb habe niemand Zeit gehabt, die Grube zu besuchen.
Der Verwalter habe sich auch nicht sehen lassen; und
die Arbeiter hätten aufgehört, abends den Hof zu umkreisen.
Es müsse also etwas geschehen sein.
Um sich Bescheid zu holen, ließ Carlsson anspannen; so
nannte er es, wenn er sich nach der Grube rudern ließ. Das
Boot hatte er weiß streichen und mit einem blauen Rande
versehen lassen; und damit es mehr herrenmäßig aussah,
wenn er am Steuerruder saß, hatte er sich aus einer alten
Gardinenschnur eine Talje gemacht; nun konnte er beim
Steuern gerade sitzen. Auch hatten sich Rundqvist und Norman
in marinemäßigem Rudern üben müssen, damit es stattlich
aussah, wenn er angefahren kam.
Die Fahrt legten sie rasch zurück, da Neugier und Angst
sie spornten. Als sie auf die Höhe des Roggenholms kamen,
erstaunten sie über die Öde, die dort herrschte.
Es war still wie im Grabe und kein Mensch war zu sehen.
Sie stiegen ans Land und kletterten die Steintreppe zur
Grube hinauf. Das Haus des Verwalters war fort; alle
Werkzeuge und Geräte verschwunden; nur die Kaserne, wie
der Schuppen genannt wurde, stand auf ihrem Platz, aber
ausgeräumt und geplündert; alles, was nicht niet- und nagelfest
war, hatte man mitgenommen: Türen, Fenster, Bänke,
Betten.
– Ich glaube beinahe, sie haben eingepackt! meinte Rundqvist.
– Es sieht so aus! erwiderte Carlsson und ließ wieder anspannen;
aber dieses Mal ging’s nach dem Badeort Dalarö;
dort mußte ein Brief für ihn auf der Post liegen.
Ganz richtig, dort lag ein großer Brief vom Direktor, der
verkündete, die Gesellschaft habe ihre Tätigkeit eingestellt,
weil sich das Rohmaterial als untauglich erwiesen habe. Da
Carlssons Forderung von viertausend Kronen sich gerade
gegen die vierzig Aktien aufhebe, die er bisher noch nicht eingezahlt,
so seien alle Geschäfte zwischen der Gesellschaft und
Carlsson erledigt.
– Also um viertausend geprellt, dachte Carlsson. Nun,
man muß sich zufrieden geben.
Er besaß die Natur eines Seevogels, wenn er auch vom
Lande war; er schüttelte sich und war ebenso trocken wie
vorher. Noch trockener fühlte er sich, als er in einer Nachschrift
las, alles, was man zurückgelassen, falle den Inselbauern
zu, wenn sie Lust hätten, es fortzuschaffen.
Etwas kleinlaut kam Carlsson wieder zu Hause an, einer
Menge Geldes und eines ehrenvollen Titels beraubt.
Gustav wollte Salz in die Wunde streuen, aber Carlsson
machte mit einer Gebärde einen großen Strich durch alles.
– Ach, das ist nicht der Rede wert! Darüber braucht man
kein Wort zu verlieren.
Aber am nächsten Tage war er mit seinen drei Mann in
voller Tätigkeit, um mit der großen Fähre Bretter und Ziegel
vom Roggenholm zu holen.
Ehe man sich’s versah, hatte er sich ein Sommerhäuschen
von einem Zimmer nebst Küche errichtet; und zwar unten am
Sunde, an einer Stelle, an die niemand gedacht, von der man
aber eine Aussicht sowohl aufs Dorf wie aufs offene Meer
hatte.
Der Sommer mit seinen luftigen Träumen war vorbei.
Der Winter nahte; die Luft wurde schwerer, die Träume
düsterer, und die Wirklichkeit nahm ein neues Aussehen an,
heller für die einen, drohender für die andern.
SIEBENTES KAPITEL
Carlsson wahrträumt; der Sekretär wird bewacht,
aber der Tod kommt und macht einen Strich durch alles
Carlssons Ehe war, obwohl sie erst kurze Zeit bestand,
nicht gewesen, was man glücklich nennt. Die Alte war bei
Jahren, wenn auch nicht steinalt, und Carlsson stand im
Begriff, in sein gefährliches Alter einzutreten. Bis zu seinen
jetzt begonnenen vierzig Jahren hatte er sich abgearbeitet,
um sein Brot zu verdienen und vorwärts zu kommen; und
das Mädchen, das er hatte haben wollen, hatte er nicht bekommen.
Jetzt, da er am Ziel war und ein ruhiges Alter vor
sich sah, fing das Fleisch an zu pochen, vielleicht stärker als
sonst, weil er im letzten Jahre nicht so streng gearbeitet hatte;
vielleicht auch, weil er das Fleisch stärker gefüttert hatte, als
es vertrug. Seine Gedanken begannen daher zu spielen, wenn
er in der warmen Küche saß, und seine Augen gewöhnten sich
daran, dem jungen Körper Claras zu folgen, wie sie aus und
ein ging. Die Blicke blieben allmählich haften, ließen sich
nieder und ruhten, machten kleine Ausflüge hierhin und
dorthin, flogen fort, kamen wieder. Schließlich saß das Mädchen
ihm im Auge: wohin er auch ging, immer sah er sie.
Aber eine andere, die sah auch; aber nicht Clara, sondern
die Augen, die ihr folgten; und je mehr sie sah, desto mehr
glaubte sie zu sehen; wie ein Gerstenkorn schlug es sich auf
ihr Auge, das schmerzte und tränte.
Es war einige Tage vor Weihnachten. Es war dunkel geworden,
aber der Mond war aufgegangen und schien klar
über schneebedeckte Fichten, auf die blanke Bucht und den
weißen Boden. Ein karger Nordwind trieb trockenen Schnee
vor sich her.
In der Küche stand Clara und fegte den Backofen, während
Lotte am Backtrog arbeitete. Carlsson saß in der Schrankecke,
rauchte seine Pfeife und spann wie eine Katze in der
Wärme. Seine Augen waren draußen auf Spiel und sie erwärmten
sich und ergötzten sich, als sie auf Claras weißen
Armen haften blieben, die aus dem Hemd herausragten.
– Willst du nicht erst melken, ehe wir heizen? fragte Lotte.
– Ja, das muß ich, antwortete Clara und zog eine Jacke
aus Schafpelz an, nachdem sie Kratze und Besen fort gelegt
hatte.
Dann steckte sie die Stallaterne an und ging hinaus.
Als sie gegangen war, stand Carlsson auf und ging nach.
Nach einer Weile kam die Alte aus der Stube und fragte
nach Carlsson.
– Er ist Clara in den Stall nachgegangen, antwortete
Lotte.
Ohne auf nähern Bescheid zu warten, nahm die Alte eine
Laterne und ging auch hinaus.
Draußen blies ein scharfer Wind; aber sie wollte nicht
umkehren, um sich etwas anzuziehen, da sie nur einen Steinwurf
weit zu gehen hatte. Auf den Steinen rutschte sie aus
und der Schnee wirbelte wie Mehlstaub, aber sie kam doch
ziemlich schnell nach dem Stall und ging sofort zum Vieh
hinein, wo es warm war. Dort stellte sie sich hin, um zu lauschen,
und hörte, daß in der Schafhürde jemand flüsterte. In
dem schwachen Mondschein, der durch die Spinngewebe und
Heuhalme der Scheibe fiel, sah sie, wie die Kühe ihre Köpfe
nach hinten drehten und sie mit großen, im Dunkel grün leuchtenden
Augen anguckten. Der Schemel stand da und der Eimer
auch. Aber nicht das wollte sie sehen; etwas anderes,
etwas, das sie um alles in der Welt nicht hätte sehen mögen;
etwas, das sie lockte wie eine Enthauptung; etwas, das das
Leben aus ihr scheuchte.
Über die Streuhaufen ging sie durch den Kuhstall und
kam zu den Schafen. Da war es dunkel und still; die Laterne
stand da, sie war gelöscht, aber das Talglicht rauchte noch.
Die Schafe standen auf und raschelten mit trockenen Laubzweigen.
Nein, das wollte sie nicht sehen.
Sie ging weiter und kam zu den Hühnern; die waren auf
ihre Pflöcke geflogen und glucksten etwas, als seien sie eben
geweckt worden.
Die Tür stand offen, und sie kam wieder in den Mondschein
hinaus. Zwei Paar Schuhe, ein kleineres und ein größeres,
hatten Spuren im Schnee hinterlassen; diese Spuren
waren blau in den Schatten, und sie führten nach der Hagtür,
die abgehoben war. Sie ging nach, als werde sie von jemandem
geschleppt; wie eine Kette lagen die Spuren am
Boden; an dieser Kette war sie angemacht und wurde nun
von einer unsichtbaren Stelle im Hag gezogen.
Und die Kette zog und zog, zog sie in denselben Hag, an
demselben Zauntritt vorbei, unter dieselben Haselbüsche, wo
sie ein anderes Mal, ein schreckliches Mal, eine Abendstunde
erlebt hatte, an die sie sich nicht erinnern wollte. Jetzt standen
die Haselbüsche nackt und trugen nur ihre neuen Knospen,
die kleinen Kohlraupen glichen; an den Eichen raschelte das
braune harte Laub im Winde, aber so dünn war das Laub,
daß man die Sterne und den grünschwarzen Himmel sehen
konnte.
Und immer weiter erstreckte sich die Kette; schlängelte sich
durch die Fichten, die ihr Schnee auf ihr graues, dünnes
Haar warfen, wenn sie gegen die Zweige kam; auf Hals
und Rücken stäubte der Schnee, fiel über ihre gestreifte Bluse,
kühlte und feuchtete.
Immer weiter und weiter gings in den Wald hinein; das
Auerhuhn flog von seinem Nachtzweig auf und erschreckte
sie; über Moore gings, deren Schollen schwankten; über Feldzäune,
die krachten, wenn sie darüber setzte.
Zu Zweien liefen die Spuren, die eine klein, die andere
groß, Seite an Seite, bald in einander tretend, bald um
einander, als ob sie getanzt hätten; über Stoppelfelder, von
denen der Schnee abgeweht war; über Steinhaufen und
Gräben, über Buschzäune und Windbruch.
Sie wußte nicht, wie lange sie ging; aber ihr fror der
Kopf und ihre Hände waren klamm; sie steckte die magern,
roten Hände bald unter den Rock, bald blies sie darauf. Sie
wollte umkehren, aber es war zu spät; auch war der Rückweg
jetzt wohl ebenso weit, als wenn sie geradeaus ging. Also
vorwärts durch ein Espenwäldchen, dessen letztes Laub zitterte
und raschelte, als friere es im Nordwind.
Dann kam sie zu einem Zauntritt.
Der Mondschein war klar und scharf; sie konnte deutlich
sehen, dort hatten sie gesessen. Sie sah den Eindruck von
Claras Rock, von der Jacke mit der Schafpelzverbrämung.
Hier war es also gewesen! Hier! Sie zitterte in den Kniekehlen,
fror, als sei ihr Blut Eis geworden; brannte, als habe
sie kochendes Blut in den Adern. Erschöpft, setzte sich auf den
Zauntritt nieder, weinte, schrie; plötzlich ward sie ruhig, stand
auf und ging hinüber.
Auf der andern Seite lag die Bucht: blank, schwarz; und
gerade gegenüber sah sie die Lichter in der Stuga und ein
Licht oben im Stall. Der Wind wehte scharf und ging ihr
durch den Rücken, zauste an den Haaren und vereiste die Nasenflügel.
Halb laufend kam sie aufs Eis hinunter, hinauf
auf die schwankende Fläche, hörte das trockene Schilf um
ihre Ohren sausen, unter ihren Füßen knacken. Über eine
eingefrorene Boje fiel sie nieder. Erhob sich wieder und lief
weiter, als sei der Tod ihr auf den Fersen. Als sie das andere
Ufer erreichte, fuhr sie mitten durchs Eis, das sich infolge
des sinkenden Wasserstandes wie Fensterscheiben auf den
Schlammboden gelegt hatte und unter ihrer Last klingend
und krachend zerbrach. Sie fühlte, wie die Kälte die Beine
hinauf stieg, aber sie wagte nicht zu schreien, damit niemand
komme und frage, wo sie gewesen. Hustend, als wolle ihre
Brust springen, schleppte sie sich aus der Wake, schlich sie die
Höhe hinauf. Als sie ans Haus kam, ging sie unmittelbar
aufs Bett zu, legte sich nieder und bat Lotte, Feuer im Herd
zu machen und Fliedertee aufzusetzen.
Sie ließ sich die Kleider ausziehen, Decke und Schaffelle
über sich werfen; ließ den Ofen mit Knüppelholz heizen, fror
aber doch unaufhörlich.
Schließlich ließ sie Gustav rufen, der in der Küche saß.
– Bist du krank, Mutter? fragte er mit seiner gewöhnlichen
Ruhe.
– Jetzt bin ich’s, antwortete die Alte pustend, und ich
komme nie wieder auf. Schließ die Tür und geh an den Sekretär.
Der Schlüssel liegt hinter dem Pulverhorn auf dem
Fach; du weißt doch!
Gustav gehorchte niedergeschlagen.
– Öffne die Klappe; zieh die dritte Schublade linker
Hand und nimm den großen Brief ... Ja, den ... Wirf ihn
ins Feuer.
– Schließ die Tür, mein Junge, und mach den Sekretär
zu! Steck den Schlüssel zu dir! Setz dich hierher und hör mich
an; denn morgen kann ich nicht mehr sprechen.
– Wenn ich die Augen zumache, so nimm das Petschaft
deines Vaters, du hast es selbst, und versiegele alle Schlüssellöcher,
bis die Gerichtsherren kommen.
– Und Carlsson? fragte der Sohn zögernd.
– Der kriegt sein Altenteil; das wird ihm wohl niemand
nehmen! Aber nicht mehr; und kannst du’s auslösen, so tu es!
Gott sei mit dir, Gustav! Du hättest wohl auf meine Hochzeit
kommen können; aber du hast wohl deine Gründe gehabt.
Und jetzt, wenn ich reise, mußt du verständig sein. Kein Sarg
mit silbernem Schild; du nimmst solch einen gelben, gebeizten;
und nicht viel Menschen; aber Glocken will ich haben.
Will der Pastor einige Worte sprechen, so mag er; du kannst
ihm dafür Vaters Meerschaumkopf mit dem Silber geben
und seiner Frau ein halbes Schaf. Und dann, Gustav, schau,
daß du dich bald verheiratest. Nimm ein Mädchen, das du
liebst und halte dich zu ihr; aber nimm eine aus deinem
Stande; und hat sie Geld, so schadet es nichts! Aber nimm
keine, die unter dir steht; die fressen dich nur auf wie Läuse;
und gleich und gleich gesellt sich gern. Willst du mir jetzt etwas
vorlesen, so will ich sehen, ob ich einschlafen kann.
Die Tür öffnete sich, und Carlsson schlüpfte herein, weich,
aber zuversichtlich.
– Bist du krank, Anna Eva? fragte er kurz; dann wollen
wir nach dem Doktor schicken.
– Das ist nicht nötig, antwortete die Alte und drehte
sich nach der Wand.
Carlsson ahnte den Zusammenhang und wollte wieder gut
Freund werden.
– Bist du böse auf mich, Anna Eva? Ach was, man wird
doch nicht um nichts und wieder nichts böse werden! Soll ich
dir aus dem Buche vorlesen?
– Ist nicht nötig! war alles, was die Alte antwortete.
Carlsson merkte, daß hier nichts mehr zu machen war;
da er unnütze Arbeit nicht liebte, nahm er die Sache, wie
sie war, und setzte sich auf das Holzsofa, um zu warten. Da
die geschäftliche Lage klar war und die Alte nicht Lust oder
nicht Kraft hatte, sich mitzuteilen, so war nichts mehr hinzuzufügen;
und was Gustav und ihn betraf, das würden sie
später schon mit einander abmachen.
Einen Arzt zu holen, daran dachte niemand, denn die
Leute waren es gewohnt, allein zu sterben; auch war jede
Verbindung mit dem Festland unterbrochen.
Zwei Tage lang bewachten Gustav und Carlsson die Kammer und einander. Wenn der eine auf einem Stuhl oder dem Sofa einschlummerte, machte auch der Andere mit einem Auge ein Schläfchen. Sobald sich aber jemand rührte, fuhr der Andere wieder in die Höhe.
Zwei Tage lang bewachten Gustav und Carlsson die Kammer und einander. Wenn der eine auf einem Stuhl oder dem Sofa einschlummerte, machte auch der Andere mit einem Auge ein Schläfchen. Sobald sich aber jemand rührte, fuhr der Andere wieder in die Höhe.
Am Morgen vor Weihnachten war Frau Carlsson tot.
Gustav hatte ein Gefühl, als sei die Nabelschnur jetzt erst
durchschnitten; als sei er jetzt erst vom Mutterleib frei und
ein selbständiger Mann geworden. Nachdem er seiner Mutter
die Augen zugedrückt und ihr das Gesangbuch unter das
Kinn gelegt hatte, damit der Mund nicht klaffe, steckte er
in Carlssons Gegenwart ein Licht an, holte Petschaft und Lack
und versiegelte den Sekretär.
Die unterdrückten Leidenschaften erwachten; Carlsson trat
vor und stellte sich mit dem Rücken gegen den Sekretär.
– Hollah, was machst du da, Junge? fragte er.
– Ich bin jetzt kein Junge mehr, antwortete Gustav; ich
bin jetzt Herr auf Hemsö, und du bist Altsitzer.
– Dazu gehören wohl zwei! meinte Carlsson.
Gustav nahm die Flinte von der Wand, zog den Hahn auf,
daß das Zündhütchen zu sehen war; trommelte auf den Kolben
und brüllte zum ersten Male in seinem Leben:
– Hinaus! Sonst drücke ich los!
– Drohst du?
– Ja, da keine Zeugen da sind! antwortete Gustav, der
in letzter Zeit mit Leuten vom Gericht gesprochen zu haben
schien.
Das war Bescheid und den verstand Carlsson.
– Warte du nur, bis die Teilung stattfindet, sagte er und
ging in die Küche hinaus.
Der Weihnachtsabend war in diesem Jahre düster. Eine
Leiche im Hause und keine Möglichkeit, nach Sarg und Leichenkleid
zu schicken; denn der Schnee fiel unaufhörlich, daß
Strömungen und Meeresflächen weder trugen noch brachen.
Ein Boot in die See zu bringen, war unmöglich, denn das
Wasser war ein einziger Eisschlamm, der weder rudern noch
fahren noch gehen erlaubte.
Carlsson und Flod, wie Gustav sich jetzt nennen ließ,
gingen um einander herum; aßen zusammen zu Tisch, ohne
ein Wort mit einander zu wechseln. Das Haus war in Unordnung;
niemand setzte die Arbeit in Gang; jeder verließ
sich auf den Andern; so blieb die meiste Arbeit ungetan.
Der Weihnachtstag begann, grau, neblig; wieder
schneite es. Nach der Kirche zu kommen, war ebenso unmöglich,
wie irgend wohin zu kommen; darum las Carlsson die
Predigt in der Küche. Man wußte, daß man eine Leiche im
Hause hatte, und keine Weihnachtsfreude kam auf. Das
Essen war nachlässig zubereitet; nichts zur rechten Zeit fertig,
und alle waren mißvergnügt. Es lag etwas Dumpfes in der
Luft, sowohl draußen wie drinnen; und da die Leiche der Alten
in der Stube stand, weilten alle in der Küche. Es war
wie eine Einquartierung. Wenn man nicht aß oder trank,
schlief man, einer auf dem Sofa, einer auf dem Bett; zum
Kartenspiel zu greifen oder die Handharmonika vorzunehmen,
fiel niemandem ein.
Der zweite Weihnachtstag kam und verging, ebenso schwer,
ebenso langweilig. Jetzt aber verlor Flod die Geduld. Einsehend,
daß eine Zögerung schlimme Folgen haben könne, da
die Leiche sich zu verwandeln begann, nahm er Rundqvist
mit in den Arbeitsschuppen. Dort tischlerten die beiden einen
Sarg, der dann gelb gestrichen wurde. Was man im
Hause auftreiben konnte, in das wurde die Tote gehüllt.
So war der fünfte Tag gekommen.
Da das Wetter keine Zeichen gab, daß es sich bessern
werde, und man die Aussicht hatte, vierzehn Tage warten zu
müssen, mußte man um jeden Preis versuchen, die Leiche nach
der Kirche zu schaffen, um sie in die Erde zu bringen. Man
schob also das große Netzboot in die See, und alle Mannsleute
rüsteten sich zu einer Eisbootsfahrt mit Schlittenkufen,
Eispickeln, Beilen und Stricken.
Früh am sechsten Tage begaben sie sich auf die lebensgefährliche
Fahrt.
Bald war eine Strömung offen; dann ruderte man. Dann
kam man an eine Fläche, die unterm Eise lag; da mußte man
das Boot auf die Schlittenkufen schieben; wenn das gelungen
war, mußte man sich vorspannen und ziehen. Am schlimmsten
war es im Eisschlamm; da patschten die Ruder nur auf
und nieder, ohne daß das Boot mehr als einige Zoll weiter
kam. Oft mußte man vorausgehen und eine Rinne mit Eispickeln
und Beilen hauen; aber wehe dem, der sich verhieb
und aus der Rinne herauskam, wo eine Strömung die dünne
Kruste zerfressen hatte.
Es war Nachmittag geworden, und noch hatten sie sich nicht
die Zeit zum Essen und Trinken genommen; noch war die
letzte freie Meeresfläche zurückzulegen. So weit sie sehen
konnten, öffnete sich ein einziges großes Schneefeld, hier
und dort mit kleinen runden Erhöhungen; das waren eingeschneite
Kobben. Der Himmel war blauschwarz im Osten
und verkündete Schnee. Die Krähen kamen von draußen angeflattert
und zogen ins Land hinein, um ihren Nachtzweig
zu suchen. Zuweilen dröhnte das Eis, als sei Tauwetter im
Anzuge, und draußen auf dem offnen Meere brüllten die
Seehunde. Die Eisfläche lag östlich nach dem Meere zu offen,
aber es war keine Meerwake zu sehen. Verdächtig war aber,
daß sie die Eisente »alla« rufen zu hören glaubten. Da sie
vierzehn Tage lang keine Zeitung bekommen hatten, wußten
sie nicht, ob die Leuchttürme brannten; aber zwischen Weihnachten
und Neujahr brannten sie sicher nicht.
– So geht’s nicht weiter! äußerte Carlsson, der bisher
still gewesen war.
– Es muß gehen, sagte Flod und stemmte die Schulter
gegen den Schlitten; aber wir müssen auf der Möwenklippe
landen, um etwas Essen zu uns zu nehmen.
Und damit steuerte man auf die Klippe zu, die mitten in
der freien Meeresfläche lag.
Sie war indessen entfernter, als man geglaubt hatte; und
sie änderte ihr Aussehen, je näher man kam; schließlich aber
hatte man sie auf Kabellänge vor sich.
– Wuhne voraus! schrie Norman, der Ausguck hatte;
nach links halten!
Die Schlittenkufen machten eine Schwenkung nach links.
Immer weiter nach links; schließlich hatte man die Klippe
umgangen. Infolge der letzten Sonnenwärme oder der warmen
Grundströmung hatte die Klippe sich selber abgeschnitten
und schien von keiner Seite zu erreichen zu sein, wenigstens
nicht auf Schlittenkufen.
Die Dämmerung fiel, guter Rat war teuer; Flod, der
den Befehl hatte, entwarf sofort einen Angriffsplan: das
Boot sollte in die Wuhne geschoben werden, und im selben
Augenblick sollten sich alle Mann hineinwerfen und an die
Ruder setzen.
Gesagt, getan.
– Eins, zwei, drei! befahl Flod.
Das Boot schoß vor, ließ die Schlittenkufen zurück, kippte
– und der Sarg rutschte in die See.
Aus Schreck vergaßen Flod und Carlsson, die hinten waren,
ins Boot zu springen und blieben auf dem Rand des
Eises stehen, während Rundqvist und Norman sich retteten.
Der Sarg war schlecht gefügt, füllte sich mit Wasser und
sank, ehe jemand soweit zur Besinnung kam, um an etwas
Anderes als sich selbst zu denken.
– Jetzt gehen wir sogleich nach der Pfarre! befahl Flod,
der heute mehr handelte als überlegte.
Carlsson machte Einwendungen; aber auf Gustavs Frage,
ob er lieber die ganze Nacht hier stehen wolle, konnte er
nichts erwidern, zumal er sah, daß keine Aussicht war, die
Kobbe zu erreichen.
Rundqvist und Norman arbeiteten sich inzwischen ans
Land und schrien den Kameraden zu, nachzukommen. Flod
aber antwortete nur, indem er mit der Hand Abschied winkte
und nach Süden zeigte, wo die Pfarre lag.
Eine lange Weile wanderten Carlsson und Flod still dahin;
Gustav voran mit dem Eispickel, um zu prüfen, ob das Eis
hielt; Carlsson hinterdrein, den Rockkragen in die Höhe
geschlagen. Ihm war schauerlich zu Mut, da seine Frau ein
so schnelles und klägliches Ende gefunden; die Schuld dafür
würde man sicher auf ihn schieben.
Als sie eine halbe Stunde gegangen waren, blieb Gustav
stehen, um zu verschnaufen. Dann blickte er nach Riffen und
Ufern, um zu sehen, wo er sich befand.
– Zum Teufel, wir sind verkehrt gegangen! brummte er;
das war ja gar nicht die Möwenklippe; die liegt ja dort!
Und er zeigte nach Osten. Und dort haben wir die Kiefer von
Gillöga.
Auf einer langgestreckten Insel nach der Landseite zu stand
eine einsame Kiefer, die von einer abgeholzten Waldhöhe
übrig geblieben war und mit ihren beiden einzigen Ästen
einem optischen Telegraphen glich; sie war als Seezeichen
oder Landmarke bekannt.
– Und dort haben wir die Trälschäre.
Er sprach zu sich selbst und schüttelte den Kopf.
Carlsson wurde bange, denn er war in diesem Inselmeer
nicht zu Hause und hatte zu Gustavs Wissen unbegrenztes
Vertrauen gehabt.
Flod hatte inzwischen Besteck genommen, änderte den Kurs
und setzte sich mehr nach Süden in Bewegung.
Die Dämmerung war gekommen, aber der Schnee leuchtete
etwas, daß sie Landmarke halten konnten. Sie sprachen
kein Wort, aber Carlsson hielt sich dicht hinter seinem Führer.
Plötzlich blieb dieser stehen und lauschte. Carlssons ungewohntes
Ohr hörte nichts, aber Gustav vernahm ein schwaches
Rauschen von der Ostseite, wo eine Wolkenwand, dichter
und schwärzer als der Nebelschleier, der den Gesichtskreis
verhüllte, aufgestiegen war.
Sie standen eine Weile still, bis Carlsson ein schwaches
Brausen und Rauschen hören konnte, das sich näherte.
– Das ist die See! antwortete der. In einer halben
Stunde ist der Ostwind hier mit einem Schneesturm, und
wenns schlimm kommt, bricht das Eis auf. Dann weiß der
Teufel, was aus uns wird. Nur schleunigst weiter!
Er fing an zu laufen; Carlsson hinter ihm drein; der
Schnee wirbelte ihnen um die Füße und das Brausen schien
ihnen zu folgen.
– Jetzt ist es aus mit uns! schrie Gustav und blieb stehen,
auf ein Licht zeigend, das in Südost hinter einer Kobbe
blitzte. Der Leuchtturm brennt! Die See geht offen!
Carlsson verstand die Gefahr nicht, aber er sah ein, daß
es schlimm stand, wenn Gustav zitterte.
Jetzt hatte der Ostwind sie gefaßt; aus der Entfernung
eines Steinwurfs konnten sie die Schneewand kommen sehen,
wie einen dunkeln Schirm; und gleich darauf waren sie von
Schnee umgeben, der dicht, dicht fiel, und schwarz wie Ruß
war. Es wurde ganz dunkel um sie und das Licht des Leuchtturms,
das noch einen Augenblick bleich und undeutlich wie
eine Nebelsonne ihnen den Weg gezeigt hatte, erlosch schließlich.
Gustav lief in starkem Trab weiter. Carlsson folgte, so gut
er konnte; aber er war ziemlich fett und konnte nicht gleichen
Schritt halten, kam außer Atem; bat Gustav, langsamer zu
laufen: der aber hatte keine Lust, sich zu opfern, sondern lief,
lief ums Leben. Carlsson packte ihn am Rockschoß, bettelte
und flehte, er möge ihm nicht fortlaufen; versprach Gold
und grüne Wälder, beschwor ihn bei seiner Seligkeit und
Pein, aber nichts half.
– Jeder für sich und Gott für uns alle! antwortete Gustav
und bat Carlsson, sich einige Schritte von ihm entfernt
zu halten, sonst könne das Eis brechen.
Das schien es auch zu tun, denn hinter ihnen krachte es
immer mehr und mehr. Was schlimmer war, das Brausen
näherte sich jetzt so deutlich, daß man hörte, wie die Wellen
gegen Riffe und Eisrand schlugen; auch waren die Möwen
erwacht und schrien nach unerwarteter Beute.
Carlsson keuchte und schnaubte; der Abstand zwischen ihm
und Gustav vergrößerte sich; schließlich befand er sich allein
in der Finsternis. Da blieb er stehen, suchte nach den Spuren,
fand keine; rief, aber bekam keine Antwort. Das war die
Einsamkeit, die Finsternis, die Kälte, das Wasser, das den
Tod brachte.
Von Furcht aufgejagt, setzte er sich noch ein Mal in Bewegung;
lief so, daß die Schneeflocken zurückblieben, obwohl
sie dieselbe Richtung wie er hatten; dann rief er wieder.
– Dem Wind folgen, dann kommt Ihr westlich ans Land!
hörte er eine fliehende Stimme aus der Finsternis; dann
ward es wieder still.
Bald aber hatte Carlsson keine Kräfte mehr, um laufen zu
können. Mutlos verlangsamte er seinen Lauf, ging Schritt
vor Schritt, ohne Widerstand leisten zu können, während er
die See hinter sich kommen hörte, brausend, prustend, ächzend,
als sei sie eigens auf nächtlichen Raub ausgezogen.
Pastor Nordström hatte sich um acht Uhr ins Bett gelegt, um seine Zeitung zu lesen; dann war er in einen schweren Schlaf gesunken. Aber gegen elf Uhr fühlte er den Ellbogen seiner Alten in der Seite und hörte sie rufen.
Pastor Nordström hatte sich um acht Uhr ins Bett gelegt, um seine Zeitung zu lesen; dann war er in einen schweren Schlaf gesunken. Aber gegen elf Uhr fühlte er den Ellbogen seiner Alten in der Seite und hörte sie rufen.
– Erich! Erich! hörte er im Schlaf.
– Ruhig? Bin ich etwa nicht ruhig!
Langatmige Erklärungen fürchtend, beeilte sich der Pastor
zu beteuern, er sei von ihrer Ruhe überzeugt, machte mit einem
Streichhölzchen Feuer und fragte, was los sei.
– Es ruft jemand im Garten! Hörst du nicht?
Der Pastor lauschte und setzte die Brille auf, um besser
hören zu können.
– Ja, wahrhaftig! Wer ... kann das sein?
– Geh doch und sieh nach! antwortete seine Frau und
gab dem Alten einen neuen Stoß.
Der Pastor zog Unterhosen und Pelz an, schob die Füße
in seine Überschuhe, nahm die Flinte von der Wand und
setzte ein Zündhütchen darauf, schüttelte das Zündpulver
hinein und ging hinaus.
– Wer da? rief er.
– Flod! antwortete eine dumpfe Stimme hinter der Fliederhecke.
– Was ist denn los, daß du so spät kommst? Liegt die
Alte in den letzten Zügen?
– Noch schlimmer! klang Gustavs mitgenommene Stimme.
Wir haben sie verloren.
– Verloren?
– Ja, auf der See haben wir sie verloren.
– Aber komm doch in aller Welt herein und steh nicht
da in der Kälte!
Gustav sah beim Lichtschein wie ein ausgeblasenes Ei aus,
da er den ganzen Tag weder gegessen noch getrunken und außerdem
wie ein Hund mit dem Ostwind hatte um die Wette
laufen müssen.
Nachdem er dem Pastor in einem Atem den ganzen Verlauf
erzählt hatte, ging dieser zu seiner Alten hinein; nach
einem kleinen Sturm, der einige Minuten dauerte, erhielt
er den Schlüssel zu einem gewissen Schrank in der Küche, in
die er den Schiffbrüchigen führte.
Bald saß Gustav an dem großen Küchentisch, während der
Pastor Branntwein, Schmalz, Preßsülze, Brot hervorholte
und dem Ausgehungerten vorsetzte.
Darauf beriet man, was man für die Gestrandeten tun
könne. Jetzt in der Nacht Leute aufzubieten und hinauf zu
fahren, war verlorene Mühe; Feuer am Strande anzuzünden,
war gefährlich, weil das Fahrzeuge irreführen konnte,
wenn der Schein überhaupt durch den Schneesturm drang.
Um Rundqvist und Norman auf der Kobbe stand es nicht
so gefährlich, aber schlimmer war es um Carlsson bestellt.
Gustav glaubte nämlich zu wissen, das Meer sei aufgebrochen
und Carlsson verloren.
– Es sieht gerade so aus, als müsse er für seine Taten
büßen, meinte er.
– Hör mal, Gustav, wandte Pastor Nordström ein, ich
finde, du bist ungerecht gegen Carlsson; und ich weiß nicht,
was du mit bösen Taten meinst. Wie sah der Hof aus, als
er kam? Hat er ihn dir nicht in die Höhe gebracht? Hat er
dir nicht Sommergäste verschafft und dir eine neue Stuga
gebaut? Und daß er sich mit der Witwe verheiratet hat? Sie
wollte ihn ja haben. Daß er sie bat, das Testament zu machen,
war noch kein Unrecht von ihm; daß sie es aber tat, war von
ihr nicht wohl überlegt. Carlsson war ein flinker Kerl und
hat alles getan, was du tun wolltest, aber nicht konntest!
Was? Willst du vielleicht nicht, daß ich für dich um die
Witwe von Owassa mit ihren achttausend Reichstalern
freien soll? Nein, hör mal, Gustav, du mußt nicht so streng
sein! Man kann die Menschen von verschiedenen Gesichtspunkten
betrachten!
– Mag sein; aber der Mutter hat er jedenfalls das Leben
genommen; und das vergesse ich ihm nie.
– Ach was, das hast du vergessen, wenn du zu deiner
Frau ins Bett kriechst! Und es ist noch gar nicht einmal sicher,
ob Carlsson ihr wirklich das Leben genommen hat.
Hätte die Alte sich zum Beispiel etwas angezogen, als sie an
jenem Abend hinauslief, so hätte sie sich nicht erkältet. Daß
er, der junge Kerl, mit dem Mädchen schäkerte, wäre allein
ihr wohl nicht so nahe gegangen. So, damit wären wir jetzt
im Reinen; nun wollen wir morgen früh sehen, was zu
machen ist. Wir haben Sonntag und die Leute kommen in
die Kirche, dann brauchen wir sie nicht erst aufzubieten! Geh
jetzt schlafen und denke daran: des einen Tod ist des andern
Brot.
Am folgenden Morgen, als die Leute vor der Kirche erschienen, kam Pastor Nordström in Begleitung Flods. Statt in die Kirche zu gehen, blieb er in der Menge stehen, die bereits zu wissen schien, was geschehen war. Nachdem er mitgeteilt hatte, daß der Gottesdienst ausfalle, forderte er alle Mannsleute auf, sich mit ihren Booten, so schnell sie könnten, an der Pfarrbrücke zu versammeln, um die Schiffbrüchigen zu bergen.
Am folgenden Morgen, als die Leute vor der Kirche erschienen, kam Pastor Nordström in Begleitung Flods. Statt in die Kirche zu gehen, blieb er in der Menge stehen, die bereits zu wissen schien, was geschehen war. Nachdem er mitgeteilt hatte, daß der Gottesdienst ausfalle, forderte er alle Mannsleute auf, sich mit ihren Booten, so schnell sie könnten, an der Pfarrbrücke zu versammeln, um die Schiffbrüchigen zu bergen.
In der Menge mußte der Fremdling Carlsson Feinde haben,
wohl infolge von Gemeindesachen, denn im Hintergrunde
murrte man und behauptete, das Gotteswort nicht
entbehren zu können.
– Ach was, wandte der Pastor ein; so viel liegt euch nicht
daran, meine Schelte anzuhören, wenn ich euch recht kenne. Was? Was sagst du, Owassaer, du bist ja solch ein Schriftgelehrter,
daß du gleich hörst, wenn ich mit meinen Predigten
wieder von vorne anfange.
Ein leises Lächeln ging durch den Haufen, und die Bedenken
waren zur Hälfte gehoben.
– Wir haben übrigens in acht Tagen wieder Sonntag;
dann kommt und bringt eure Weiber mit; ich verspreche, euch
dann die Köpfe zu waschen, daß es für ein Vierteljahr vorhält.
Seid ihr nun einverstanden, daß wir den Esel aus dem
Brunnen ziehen?
– Ja, murmelte die Menge, als habe sie Absolution für
Entweihung des Sabbaths erhalten.
Dann trennte man sich, um nach Haus zu gehen und sich
umzuziehen.
Das Schneegestöber hatte aufgehört, der Wind war nach
Norden herum gegangen, und es herrschte kaltes, klares Wetter.
Das Meer ging offen, wallte blauschwarz um die blendendweißen
Kobben.
Zehn Netzboote stießen von der Pfarrbrücke ab. Die Männer
hatten Pelzröcke an und Seehundsmützen auf, brachten
Beile und Dregganker mit. An Segeln war nicht zu denken;
man hatte die Ruder bemannt. Der Pastor saß mit Gustav
im ersten Boot, das von vier der steifsten Kerle gerudert
wurde, und hatte den Bootsmann Rapp als Ausguck und
vordersten Ruderer mitgenommen.
Man war ernst gestimmt, aber nicht übermäßig traurig;
ein Menschenleben mehr oder weniger zählt auf See nicht.
Die See ging ziemlich hoch; das Wasser, das ins Boot
kam, fror sofort, mußte aufgehauen und hinaus geworfen
werden. Zuweilen kam eine Eisscholle angeschwommen,
schrapte gegen den Bootsbord, tauchte unter und kam wieder
in die Höhe; oft mit eingefrorenem Schilf, Laub, Holz, das
von den Ufern losgerissen war.
Der Pastor spähte mit seinem Fernglas nach der Trälschäre,
auf der Rundqvist und Norman gefangen saßen. Bald
warf er einen hoffnungslosen Blick aufs Meer hinaus, in
dem Carlsson wahrscheinlich ertrunken war; bald forschte er
nach einer Spur auf den treibenden Eisschollen, nach einem
Fuß, einem Kleidungsstück oder der Leiche selbst. Aber vergebens.
Nachdem man einige Stunden gerudert hatte, näherte man
sich der Schäre. Rundqvist und Norman hatten schon von
weitem die Entsatzflotte entdeckt und Freudenfeuer am Ufer
angezündet. Als die Boote anlegten, zeigten sie mehr Neugier
als Erregung, denn in eigentlicher Lebensgefahr waren sie
nicht gewesen.
– Nicht, solange man Land unter sich hat! meinte Rundqvist.
Da der Tag kurz war, begann man sofort das Boot zu
heben und nach dem Sarg zu dreggen.
Rundqvist konnte genau auf den Fleck zeigen, wo der Sarg
lag, denn er hatte Meerleuchten im Wasser gesehen. Man zog
Mal auf Mal, aber ohne etwas anderes in die Höhe zu bringen
als lange Tangranken mit Muscheln und anderm Getier;
man dreggte den ganzen Vormittag, aber ohne Erfolg.
Die Leute fingen an, müde und verdrießlich zu werden.
Einige waren an Land gegangen, um einen Schnaps zu
trinken, ein Butterbrot zu essen, Kaffee zu kochen.
Schließlich erklärte Gustav, er glaube, es sei nichts weiter
zu machen, da die Strömung den Sarg wahrscheinlich in
die Tiefe gezogen habe.
Da niemandem viel daran lag, die Leiche zu heben, und
die Sache, streng genommen, keinen persönlich anging, empfand
man eine gewisse Erleichterung, daß man sich nicht gefühllos
gegen fremden Kummer zu zeigen brauchte.
Um indessen dieses klägliche Ende einigermaßen abzurunden,
trat Pastor Nordström an Flod heran und fragte, ob er
eine Andacht für die Alte halten solle. Das Buch habe er mit,
und ein Kirchenlied könnten die Leute wohl auswendig.
Gustav nahm den Vorschlag mit Dankbarkeit an und teilte
ihn den Andern mit.
Die Sonne war dabei, ihre kurze Bahn zu beenden, und
die Kobben lagen in rosenroter Beleuchtung da, als sich die
Leute am Strande versammelten, um der den Umständen angepaßten
Beerdigung beizuwohnen. Der Pastor stieg, von
Gustav begleitet, in ein Boot, ging in den Achtersteven, nahm
sein Buch, steckte sein Taschentuch zwischen die Finger der
linken Hand und entblößte seinen Kopf, während alle Männer
am Strande die Mützen abnahmen.
– Wollen wir »Ich bin ein Gast auf Erden« nehmen?
Könnt ihr das auswendig? fragte der Pastor.
– Ja! wurde vom Strande geantwortet.
Und dann stieg der Gesang empor, zuerst vor Kälte zitternd,
dann vor Bewegung über das Ungewöhnliche in der
Feier und über die ergreifenden Töne in dem alten Lied, das
so viele zur letzten Ruhe begleitet hatte.
Die letzten Worte waren verklungen und hallten wider
über das Wasser, gegen die Schären, durch die klare Luft.
Eine Pause entstand, während der man nur hörte, wie der
Wind in den Nadeln der Meerkiefern rauschte, wie die Wogen
an den Steinen plätscherten, die Möwen schrien, die Boote
gegen den Boden stießen. Der Pastor wandte sein greises,
gefurchtes Gesicht nach dem Meer hinaus; die Sonne beleuchtete
seinen kahlen Kopf, dessen graue Haarsträhnen vom
Winde wie die Hängeflechten einer alten Fichte gezaust wurden.
– Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder
werden! Jesus Christus unser Erlöser wird dich auferwecken
am jüngsten Tage! Laßt uns beten! begann er mit seiner tiefen
Stimme, die gegen Wind und Welle kämpfte, um gehört
zu werden.
In ein Vaterunser klang die Beerdigung aus. Nach dem
Segen streckte der Pastor die Hand über das Wasser zu einem
letzten Lebewohl.
Man setzte die Mützen wieder auf. Gustav drückte dem
Pastor die Hand und dankte ihm, schien aber noch etwas auf
dem Herzen zu haben.
– Herr Pastor, ich finde doch ... Carlsson müßte auch
einige Worte haben!
– Es war für beide, mein Junge! Es ist jedenfalls schön
von dir, an ihn zu denken, antwortete der Alte, der gerührter
zu sein schien, als er wahr haben wollte.
Die Sonne ging unter; man mußte sich trennen, um nach
Hause zu fahren, so schnell man konnte.
Aber man wollte dem Flod noch eine letzte Aufmerksamkeit
erweisen; nachdem man Abschied genommen hatte und alle
in ihren Booten waren, folgte man ihm ein Stück Weges,
formierte dann die Boote in einer Linie, wie beim Netzlegen,
grüßte mit den Rudern und rief:
– Lebwohl!
Es war eine Huldigung für die Trauer, aber auch für den
jungen Mann, der jetzt in die Reihe der reifen Männer aufgenommen
war.
Und sein eigenes Boot steuernd, ließ sich der neue Herr
des Hofes von seinen Knechten nach Hause rudern, um von
nun an sein eignes Fahrzeug über die windigen Flächen und
grünen Sunde des launenhaften Lebens zu lenken.
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