Bruno Alfred Döblin ( 1878 - 1957 ) war ein deutscher Psychiater und Schriftsteller.
1933 musste der Jude und Sozialist Döblin aus Deutschland flüchten, kehrte nach Ende des Zweiten Weltkrieges zurück, um Deutschland erneut 1953 resigniert zu verlassen. 1941 konvertierte Döblin zum katholischen Glauben, bereits 1936 hatte er die französische Staatsbürgerschaft angenommen.
Sein episches Werk umfasst mehrere Romane, Novellen und Erzählungen, daneben verfasste er unter dem Pseudonym Linke Poot satirische Essays und Polemiken. Als führender Expressionist und Wegbereiter der literarischen Moderne in Deutschland integrierte Döblin früh das Hörspiel und Drehbuch in seinem Werk. 1920 veröffentlichte er den expressionistischen Roman Wallenstein. Weiterhin setzte Döblin als avantgardistischer Romantheoretiker mit den Schriften An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, Bemerkungen zum Roman und Der Bau des epischen Werks zahlreiche Impulse in der erzählenden Prosa frei
Sein weitaus am stärksten rezipierter Roman ist Berlin Alexanderplatz.
Gemälde von Christopher Zhang
Sie wurde mit elf Jahren zur Tänzerin bestimmt.
Bei ihrer Neigung zu Gliederverrenkungen,
Grimassen und bei ihrem sonderbaren
Temperament schien sie für diesen Beruf
geeignet. Läppisch bis dahin in jedem Schritt,
lernte sie jetzt ihre federnden Bänder, ihre zu
glatten Gelenke zwingen, sie schlich sich behutsam
und geduldig in die Zehen, die Knöchel,
die Kniee ein und immer wieder ein, überfiel
habgierig die schmalen Schultern und die Biegung
der schlanken Arme, wachte lauernd über
dem Spiel des straffen Leibes. Es gelang ihr, über
den üppigsten Tanz Kälte zu sprühen.
Mit achtzehn Jahren hatte sie eine kleine
seidenleichte Figur, übergroße schwarze Augen.
Ihr Gesicht fast knabenhaft lang und scharfgeschnitten.
Die Stimme hell, ohne Buhlerei und
Musik, abgehackt; ein rascher, ungeduldiger
Gang. Sie war lieblos, sah klar auf die unbefähigten
Kolleginnen und langweilte sich bei
ihren Klagen.
Mit neunzehn Jahren befiel sie ein bleiches
Siechtum, so daß ihr Gesicht abenteuerlich fahl
vor dem blauschwarzen Haarknoten schimmerte.
Ihre Glieder wurden schwer, aber sie spielte weiter.
Wenn sie allein war, stampfte sie mit dem
Fuße, drohte ihrem Leib und mühte sich mit
ihm ab. Keinem sprach sie von ihrer Schwäche.
Sie knirschte mit den Zähnen über das Dumme,
Kindische, das sie eben zu besiegen gelernt
hatte.
Als Ella sich in Schmerzen auf die Lippen
biß, warf sich die Mutter über das Sofa hin und
weinte stundenlang. Nach einer Woche faßte die
alte Frau einen Entschluß und sagte, während sie
auf den Boden sah, zu ihrer Tochter, sie sollte
ein Ende machen und ins Krankenhaus gehen.
Worauf Ella kein Wort antwortete, nur einen
gehässigen Blick auf das runzlige, hoffnungslose
Gesicht warf.
Sie fuhr schon am nächsten Tage ins Krankenhaus.
Im Wagen weinte sie unter ihrer Decke
vor Wut. Ihren leidenden Körper hätte sie anspeien
mögen, bitter höhnte sie ihn; es ekelte
sie vor dem schlechten Fleisch, an dessen Gesellschaft
sie gebunden war. In leiser Angst öffnete
sie die Augen, als sie die Glieder betrachtete,
die sich ihr entzogen. Wie machtlos sie war,
o wie machtlos sie war. Sie rasselten über das
Pflaster des Hofes. Die Tore des Krankenhauses
schlossen sich hinter ihr. Die Tänzerin sah mit
Abscheu Ärzte und Kranke. Die Schwestern
hoben sie weich ins Bett.
Nun verlernte die Tänzerin zu sprechen. Das
Befehlerische ihrer Stimme hörte sie nicht mehr.
Es geschah alles ohne ihren Willen. Man achtete
aber auf jede Äußerung ihres Leibes, behandelte
ihn mit einem maßlosen Ernst. Täglich, fast
stündlich fragten sie die Tänzerin nach seinen
Dingen, schrieben es sorgfältig in Akten auf, so
daß sie erst darüber unwillig wurde, dann sich
immer tiefer verwunderte. Sie trieb bald in eine
dunkle Angst und Haltlosigkeit hinein; ein
Grauen überkam sie vor diesem Leib. Sie wagte
gar nicht, ihn zu berühren, an ihm zu wischen,
starrte auf ihre Arme, ihre Brüste, erschauerte,
als sie sich lange im Spiegel besah. Ihr Mund
schluckte Medizin, die sie ihm zu trinken gab;
sie begleitete die bitteren Tropfen, wie sie hinunterrannen
und sann darüber nach, was er daraus
machte, er der Leib, der kindische, o der
herrische, der finstere. Klein wie eine Fliege
wurde sie; und nachts stand die Todesangst
hinter ihrem Bett. Ihre Augen, die in Unheimliches
sahen, wurden steif. Die Spöttische mit
dem Knabengesicht war nun fromm und betete
vor Anbruch der Nacht mit den Schwestern.
Die Mutter erschrak, als sie die Tochter besuchte.
So kleinmütig, hilfsbedürftig war ihr
Kind nie gewesen. „Wir stehen alle in Gottes
Hand,” tröstete die Mutter die Verfallene, die
sich an ihr festhielt. „Ja,” flüsterte die Tänzerin, „wir stehen alle in Gottes Hand.”
Das gleichmäßige Treiben um sie beruhigte
sie wieder, schnell schwand das Entsetzen, wie
es hereingebrochen war. Der Widerwillen gegen
die Kranken im Saal flackerte auf. Und die Empörung
lungerte in den scharfen Zügen, daß man
ihm Ehrfurcht zolle, dem Verderbten, Verderbenden,
und über sie fortsähe, als wäre sie tot. Das
beleidigte die Herrische. Sie sperrte den Leib
ein, legte ihn in Ketten. Es war nun ihr Leib,
ihr Eigentum, über das sie zu verfügen hatte.
Sie wohnte in diesem Haus; man sollte ihr Haus
zufrieden lassen. Jeden Tag schlugen sie mit
Hämmern gegen ihre Brust und belauschten das
Gespräch ihres Herzens. Sie malten ihr Herz auf
die Brust, so daß es alle sehen konnten; rissen
an das Licht, das sich drin versteckt hatte. O
man beraubte sie. Mit jeder Frage trugen sie
ein Stück von ihr weg. Man drang mit Giften
auf sie ein, die feiner waren als Nadeln und
Sonde; kamen ihr auf alle Schliche, trieben sie
ganz in ihren Fuchsbau zurück. Alles nahmen
ihr die Diebe, und so wunderte sie sich nicht,
daß sie täglich schwächer wurde und totblaß
dalag. Jetzt wurde sie erbittert und wehrte sich.
Sie belog die Ärzte, beantwortete ihre Fragen
nicht, ihren Schmerz verheimlichte sie. Und als
man sie wieder befragen wollte, machte sie sich
im Bette steif, stieß die Schwestern zurück, ja
lachte in plötzlich aufloderndem Hasse den
Ärzten, die den Kopf schüttelten, ins Gesicht
und schnitt ihnen eine höhnische Fratze.
Aber so krampfhaft tapfer konnte sie sich nicht
lange halten. Täglich gingen ohne Unterlaß die
weißen Mäntel durch die Säle, klopften an den
Kranken, schrieben alles auf. Täglich und stündlich
kamen die Schwestern, brachten ihr Nahrung
und Heiltränke: daran erlahmte die Tänzerin.
Sie warf das Spielzeug wieder hin; dumpf verachtend
ließ sie mit sich geschehen. Es ging sie
nichts an, was geschah. Ein kindisches Wesen
lag da, das sie elend machte; was sollte sie um
ihn kämpfen, was sollte sie ihn um seine Ehre
beneiden? Schlaff ruhte sie in ihrem Bett. Der
Leib lag wieder, ein Stück Aas, unter ihr; um
seine Schmerzen kümmerte sie sich nicht. Wenn
es sie nachts stach und quälte, sagte sie zu ihm:
»Sei ruhig bis morgen zur Visite; sag es den
Ärzten, deinen Ärzten, laß mich zufrieden.« Sie
führten getrennte Wirtschaft; der Leib konnte
sehen, wie er sich mit den Doktoren abfand.
»Es wird schon protokolliert werden.« Damit
schnitt sie der Belästigung das Wort ab.
Oft empfand sie ein lächelndes Mitleid mit
diesem dummen kranken Kindchen, das in ihrem
Bette lag. Sie teilte ruhig und gewissenhaft mit,
was ihn drückte. Gleichgültig und leicht ironisch
beobachtete sie die Ärzte und konstatierte ironisch
die Erfolglosigkeit ihrer Anstrengungen. Eine
Spannung und Lustigkeit kam wieder über sie
und eine wild sich schüttelnde Schadenfreude
über das Mißgeschick der Ärzte und den Verderb
des Leibes. Wie sie unter Gelächter ihren
Mund in das Kissen drückte, hatte sie ihren alten
Hohn und ihre Kälte wieder.
Als am Mittag Soldaten mit klingender Marschmusik
an dem Krankenhause vorbeizogen, saß
die Tänzerin jach in ihrem Bette auf, mit glühenden
Augen, gepreßten Lippen, ganz über sich
gebückt. Nach einer Weile rief eine scharfe, wenn
auch leise Stimme die Schwester an das Bett.
Die Tänzerin wollte sticken und begehrte Seide
und Leinewand. Mit einem Bleistift warf sie
rasch auf das weiße Tuch ein sonderbares Bild.
Drei Figuren standen da: ein runder unförmiger
Leib auf zwei Beinen, ohne Arm und Kopf,
nichts als eine zweibeinige, dicke Kugel. Neben
ihm ragte ein sanftmütiger großer Mann mit
einer Riesenbrille, der den Leib mit einem Thermometer
streichelte. Aber während er sich ernst
mit dem Leib beschäftigte, machte ihm auf der
andern Seite ein kleines Mädchen, das auf nackten
Füßen hüpfte, eine lange Nase mit der linken
Hand und stieß mit der rechten eine spitze Schere
von unten in den Leib, so daß der Leib wie eine
Tonne auslief in dickem Strahl.
Mit roten Fäden stickte die Tänzerin das
Bild roh aus und lachte lustig zwischendurch
für sich.
Sie wollte wieder tanzen, tanzen.
Wie einstmals, als sie Kälte über jede Üppigkeit
des Tanzens sprühte, als ihr straffer Leib
wie eine Flamme geweht hatte, wollte sie ihren
Willen wieder fühlen. Sie wollte einen Walzer,
einen wundersüßen, mit ihm tanzen, der ihr
Herr geworden war, mit dem Leib. Mit einer
Bewegung ihres Willens konnte sie ihn noch
einmal bei den Händen fassen, den Leib, das
träge Tier, ihn hinwerfen, herumwerfen, und er
war nicht mehr der Herr über sie. Ein triumphierender
Haß wühlte sie von innen auf, nicht er
ging zur Rechten und sie zur Linken, sondern
sie, — sie sprangen mitsamt. Sie wollte ihn auf
den Boden kollern, die Tonne das hinkende
Männlein, Hals über Kopf es hintrudeln, ihm
Sand ins Maul stecken.
Sie rief mit einer Stimme, die urplötzlich heiser
geworden war, nach dem Doktor. Über sich gebeugt,
sah sie ihm von unten ins Gesicht, wie
er erstaunt die Stickerei betrachtete, sagte dann
mit ruhiger Stimme zu ihm auf: „Du, — Du
Affe, — Du Affe, Du Schlappschwanz”.
Und stieß sich, die Decke abwerfend, die Nähschere in die linke Brust. Ein geller Schrei stand irgendwo in der Ecke des Saales.
Noch im Tode hatte die Tänzerin den kalten verächtlichen Zug um den Mund.
Und stieß sich, die Decke abwerfend, die Nähschere in die linke Brust. Ein geller Schrei stand irgendwo in der Ecke des Saales.
Noch im Tode hatte die Tänzerin den kalten verächtlichen Zug um den Mund.
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