Paul Zech, Dichter, Bergmann, Bibliothekar, Literaturkritiker und Lyriker, wurde 1881 im westpreußischen Briesen geboren und starb 1946 verarmt im argentinischen Exil in Buenos Aires.
Nicht hoch genug würdigen kann man sein höchst produktives Schaffen von 30 Gedichtbänden, 14 Erzählsammlungen, acht Romanen und 28 Dramen, zahlreichen Essays und Übersetzungen aus dem Französischen. Trotzdem ist Zech heute weitgehend unbekannt, was er sicher seiner ebenso schillernden wie auch umstrittenen Persönlichkeit verdankt.
Aus seinem umfangreichen Werk seien einige Titel genannt: der Erzählband „Das rote Messer“, die Romane „Kinder von Paraná“ und „Die Vögel des Herrn Langfoot“, das Drama „Der letzte Inka“ und die nachgedichtete Indiolegende „Die schwarze Orchidee“.
Über seine eigene Biographie machte Paul Zech – mit Ausnahme seiner Geburtsdaten - des öfteren widersprüchliche Angaben. Er wuchs im Industriegebiet an der Wupper auf und arbeitete nach seinem Studium zwei Jahre als Bergmann und Heizer in Deutschland, Frankreich und Belgien.
In dieser Zeit schloss der aufstrebende Lyriker und Literaturkritiker innige Freundschaft mit der Dichterin Else Lasker-Schüler, die ihn ermunterte, ihr 1912 nach Berlin zu folgen. Mit 29 Jahren wurde Paul Zech Kommunalbeamter in der Reichshauptstadt und wirkte dort als Redakteur, Dramaturg, Bibliothekar und Mitherausgeber der expressionistischen Zeitschrift „Das neue Pathos“. Eine enge Freundschaft verband ihn u.a. mit Georg Heym und Stefan Zweig.
Das folgende Jahrzehnt, stark vom literarischen Expressionismus geprägt, bedeutete für Zech eine überaus schöpferische Zeit. Erste wirtschaftliche Erfolge und künstlerische Anerkennung brachten ihm seine umfangreichen Analysen der Werke Rilkes ein sowie etliche kürzere Prosadichtungen, in denen er eindringlich und mit kraftvoller Lyrik die Arbeits- und Lebensbedingungen des Bergarbeitermilieus schilderte, sicherlich auch geprägt von seinen eigenen Erfahrungen.
Auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Karriere bekam er 1918 für seinen Gedichtband „Das schwarze Revier“den Kleist-Preis durch Heinrich Mann zugesprochen und gehörte fortan zur Literaturprominenz Deutschlands.
1919 zog er mit seiner Frau Helene, die 1962 in Bestensee starb, und seiner Tochter nach Bestensee in die Kurstr. 10 (heute Puschkinstr.). An seinen Freund Richard Dehmel schrieb er dazu am 1. Dezember 1919: „Ich habe Berlin den Rücken gekehrt und bin, eine Stunde von dort, in einem Walddorf sesshaft geworden. ...kleines Landhaus, Garten, See, Wald... das ist die Erfüllung früher Träume.“
Ende 1933 floh Paul Zech vor dem NS-Regime aus Deutschland. Sein Weg führte ihn über Prag und Paris ins argentinische Exil, wo er fortan in ärmlichen Verhältnissen lebte. Er begann seine freie Mitarbeit bei einer deutschsprachigen argentinischen Emigrantenzeitung und wurde auch dort bald durch seinen sozialkritischen Blick auf die Verhältnisse des Gastlandes bekannt.
Eigentlich wollte Paul Zech in sein deutsches Zuhause zurückkehren und dort die letzten Jahre seines Lebens verbringen, doch der Rückweg in das zerstörte Nachkriegsdeutschland blieb bis zu seinem Tod unmöglich.
Der heutige Besitzer des Zechschen Anwesens ist der gebürtige Bestenseer Karl-Heinz Schostag, der nach eigenen Plänen und Ideen und in liebevoller Kleinarbeit das idyllische Dichterdomizil restauriert hat.
Die Verandamauer ziert übrigens das Bild eines röhrenden Hirsches, das laut Herrn Schostag von Paul Zechs Vater, einem Hobbymaler, selbst entworfen wurde.
Eine weitere Erinnerung an Paul Zech ist auch der von Hecken umwachsene kleine Rasenplatz, der damals „Dichterhain“ getauft wurde. „Da soll er oft gesessen und gedichtet haben,“ erzählte Herr Schostag der Zeitung KW-Kurier, „mit dem Blick auf den Seechensee, das Haus im Rücken und somit geschützt vor dem Lärm der Eisenbahn.“
Karl-Heinz Schostag, der Kultur und Literatur sehr zugetan, ist auch ein wenig stolz, das Refugium eines deutschen Dichters aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts bewohnen und pflegen zu können. Den Gedenkstein auf der Wiese hatte die Tochter von Paul Zech, die heute in der Schweiz lebt, damals anfertigen lassen und ihm bei ihrem Auszug geschenkt.
„Warum soll ich den mitnehmen,“ soll sie gesagt haben, „der gehört doch zu diesem Haus.“
Paul Zechs einstiger Wohnsitz in Bestensee ist keine öffentliche Gedenkstätte, doch ihr Besitzer freut sich über jeden ehrlich interessierten Besucher, dem dieser Ort mehr wert ist als nur einen flüchtigen Blick über den Gartenzaun.
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Oh, das Unglück! Oh, das Unglück!
Wie ein dichtes Schneegestöber fuhr dieses flockige Rufen über das Dorf, immer wenn der schwarze Baal die roten Fangarme durch den Schacht gestoßen hatte und von jenen Männern, die ihr Bündel heiler Knochen Tag für Tag auf die blutrostigen Böden der Förderschale legen mußten, sich irgend einen, oder ein Dutzend oder Hundert auswählte zum Fraß und den Rest wieder von sich gab wie einen ausgedörrten Kothaufen.
Oh, das Unglück! Oh, das Unglück!
Und die Witwen im schwarzverlogenen Gewand der Trauer, die diesen Ruf gleichgültig hinausmurmelten wie den Perlenfall des Rosenkranzes, zerdrückten in der Linken das Taschentuch und wogen in der Rechten den Goldklumpen der Unfallprämie. Sie wogen und prahlten, bis das Gleißende zum Glück wurde für den neuen Schuft aus der Reihe der Schlafburschen.
Und dann schickten die wiederum Mütter Gewordenen ihre Söhne in den Schacht hinunter. Und es dünkte ihnen eine große, unverdiente Gnade, wenn der Grubendirektor Brot gab für die hungrigen Mäuler. Denn der Schatten des Hungers lag wuchtender auf den paar aussätzigen Hütten am Fluß, als der hagelwolkige Vorübergang einer Katastrophe, die eigentlich nur die Fenster zum Klirren brachte und ein paar Gänge zum Kirchhof mehr.
Niemand im Dorf glaubte an die Brandopfergier des Baals. Kein Gatte, Sohn, Bräutigam, Kostgänger war ihnen ein dem Baal Geweihter. Vorbestimmt war diesen nur jenes sanfte Hinüberschlummern zwischen den Kissen des Ehebettes. Aller Tod, der anders kam, war ein Unglück. Oder ein Zufall, wie die Aufgeklärten meinten.
Und die, die auf das Kreuz des Alltags genagelt, hinunterfuhren in die verfluchten Bezirke der Fron und Station an Station durchwanderten, da einen Arm, dort ein Bein ließen, fürchteten den Hunger maßloser als die fünf Bretter des Sarges. Nicht einen Augenblick dachten sie bei dem zerfetzten Kadaver eines Kameraden an die Möglichkeit, an gleicher Stelle zu liegen. Heute oder morgen. — Oh ein Unglück! Ein Unglück! Nichts weiter.
Und das Opfer in den hakigen Klauen des Baals, reißt es nicht das Maul auf zum Schrei: „Oh ihr Brüder: das Unglück! Das Unglück!“
Und die diesen Schrei hören, sind sie nicht ein furchtbares Echo, das das Bersten und Krachen der Planken übertönt wie ein Orkan?
Aber alle, die es auffangen dort oben im weißen Dunst des Tages, blasen es weiter in die stumpfe Melodie des Trauermarsches: Oh das Unglück! Das Unglück!
Das schnurrt der Pfaffe am Massengrab nach. Die Mütter und Witwen und Töchter verdrehen die Augen, die nicht weinen wollen und krümmen die Rücken ein paar Tage lang. Dann entklafft ihrem Schoß ein Neues und wird Unglück, das sie nicht wissen wollen.
Und doch war einer in dieses Dorf gekommen, den man alsogleich zum Opfer bestimmte. Obwohl er das Schandmal des Unglücks an der Stirn trug wie eine aufgebrochene Schwäre, bekam er seinen Tod zugewiesen. Und die, die ihn hielt, war nicht untertänig wie Abraham, da er Isaak opfern ging. Das brachte ihn nun in eine allzuschiefe Stellung zu den wichtigsten Dingen dieses Lebens, wiewohl seine Mutter dagegen ankämpfte mit den Instinkten eines Raubtiers.
Schon daß Fredrik als eine Frühgeburt just in dem Augenblick zur Welt kam, da man seinen Erzeuger ins Haus brachte: schwarz, entstellt und rotgeschunden, gab ihm eine Sonderstellung inmitten des großen Haufens.
Und dieser unabgestempelte Vater hinterließ ihm nicht einmal seinen Namen. Denn die Hochzeit, die jene zwei, die sich erkannt hatten, zusammenkoppeln sollte nach dem Gesetz, stand erst vier Wochen nach dem Unglücksfall an. Einen Toten aber mit einer Lebenden zu verbinden, war derzeit noch nicht gestattet.
Das zerstach der jungen Mutter das Herz, und sie haßte hinfort den Mann, der solches heraufbeschworen hatte. Sie haßte diesen Mann über das Grab hinaus und sie haßte seine Hantierung.
Sie gab dem Jungen die Brust und harte Pellkartoffeln, die sie dem Amtmann stahl, bei dem sie bedienstet war, und sie übertrug auf den Bastard alle Zärtlichkeiten, die sie Israel, dem Geliebten, schuldig geblieben war.
Fredrik wuchs auf wie die anderen Würmchen, trotzdem die hohe Obrigkeit allerhand Schwierigkeiten machte, ihm die Türchen ins Dasein aufzusperren.
Tags war er im Spital bei der Muhme. Und die alten Klatschmühlen, die mit auf der Stube waren, rissen ihn dutzendmal aus der Wiege und betasteten den Körper, um irgend etwas Besonderes zu entdecken. Denn daß Fredrik dem Vater nachmußte, stand sicherlich irgendwo auf der Haut geschrieben. Und sie fanden auch nach langem Suchen einen dunklen Fleck auf dem rechten Oberarm, der sah aus wie zwei gekreuzte Schlägel.
Die junge Mutter war verzweifelt, wenn sie solches gewahrte, und entriß das Kind den Triefaugen der Hexen, um sich mit ihm in eine dunkle Ecke zu verkriechen.
Und wenn dann Fredrik aufkrähte unter dem warmen Strom der Sättigung, hob sie ihn empor und ging in der Stube herum wie eine Siegerin: „Seht, was für ein gesundes Jungchen! Mein Jungchen hat gerade Arme und gerade Beinchen. O, was für ein gesundes Jungchen. Aber in die Grube soll mein Jungchen doch nicht!“
Die Spitalweiber ließen sich aber nicht bereden.
„Der Vater wird ihn schon holen kommen, Antje. Du mußt ihn doch einen Bergmann werden lassen. Ja, ja, der Vater wird ihn schon holen.“
Sie sagten das mit einem furchtbaren Ernst und verdrehten mystisch die Nasen.
In den Worten der runzligen Hexen lag ihr Schicksal. Das fühlte Antje. Die Worte schnitten wie zwei scharfe Messer gleichzeitig in ihr Herz. Aber sie kämpfte dagegen an und verstopfte die Wunde immer wieder mit einem kleberigen Trotz.
Als Fredrik vier Jahre alt wurde, kaufte Antje sich von dem Ersparten ein Häuschen und tat einen Handel auf. Das Jungchen lag in der Tür und beschnupperte jeden einzelnen Eintretenden. Manchmal ging er auch mit den Jungens auf die Gasse zum Spiel. Auf die Schlackenhalde, oder nach dem großen Kohlenlager. Da spielten sie Verstecken und balgten sich wie junge Katzentiere.
Einmal waren sie ihrer vier die Halde emporgeklettert. Es war so schön warm dort oben, und die dünnen Rauchschlangen, die aus den Ritzen züngelten, fingen sie mit den Händen auf, oder hielten den offenen Mund darüber, bis die Wangen ganz blaß wurden und eine Übelkeit die Köpfe in heftige Umdrehungen brachte. Dann rollten sie den Abhang hinunter wie Murmeltiere und lagen lange in dem dürftigen Gras der Böschung. Starr und mit dünnen Atemzügen.
Die schwarzen Männer, die oben die Wagen entleerten, warfen ihnen böse Flüche nach und drohten furchtbar mit den Armen.
Lächelnd erzählte Fredrik der Mutter von dem großen Berg, der immer so schön rauchte und ganz warm war.
Da wurde Antje sehr zornig und verbot Fredrik dort hinzugeben. Sie schärfte ihren Willen an dem ewigen Wahrsagenwollen der Spitalweiber. Und diesen Willen bläute sie dem Jungen ein.
Ein paar Tage lang ließ sie Fredrik nicht aus den Augen. Als dann aber der Öljude kam und ihre ganze Aufmerksamkeit wegfeilschte, schlich Fredrik sich flugs auf die Gasse und fand ein paar Gefährten, die mit ihm zum Schlackenberg gingen.
Sie hatten aber kaum die Hälfte der Anhöhe erstiegen, da gab es ein ohrenbetäubendes Donnern. Der Berg öffnete sich, eine Rauchwolke wirbelte hervor, und die drei Spielgefährten Fredriks polterten in den Spalt.
Fredrik schoß den Abhang hinunter und lag, mit versengten Haaren und ein paar Brandwunden im Gesicht, zappelnd in einer Pfütze.
Die Männer, die ihn der Mutter ins Haus brachten, grinsten, als diese sich wie eine Irrsinnige über den Jungen stürzte. Einer von den verrußten Männern sagte: „Antje, daß du’s weißt, der Israel hat das Söhnchen holen wollen, aber der Bengel war zu langsam. Na, ein andermal wird er ihn schon sicherer fassen bei der Gurgel.“
Da stellte Antje sich wie eine angeschossene Bärin und trieb die Lästerer mit Ruten aus dem Hause.
Und die Kinder wichen dem kleinen Fredrik aus, wenn er zur Schule ging. Und die Spitalweiber murmelten: „Antje hat ihn verhext. Sie hat Stutenmilch getrunken, als sie den Bengel säugte. Das feit gegen das Unglück. Aber wenn ihm die Milchzähne ausgegangen sind, wird es doch mit ihm kommen!“
Antje nahm den Buben nun jeden Morgen bei der Hand und brachte ihn zur Schule. Um zwölf stand sie wieder vor dem gebrechlichen alten Hause mit den vielen Fenstern und holte ihn ab. Dann mußte er das Pensum erledigen und sich auf die Salzkiste setzen bis zum Abend. Sie gab ihm Maiskolben und getrocknete Pflaumen zum Spielen. Und nach dem Essen brachte sie ihn zu Bett und atmete auf.
„Er wird nie mehr auf die Straße kommen zu den anderen Jungens, und wenn er zwölf Jahre alt ist, bringe ich ihn zum Oheim nach Karna. Dort kann er auf der Mühle helfen und ein Müller werden!“
Sonntags ging Antje auch mit dem Söhnchen durch die mageren Kartoffelfelder und zeigte ihm die bunten Schmetterlinge und den Grashüpfer mit dem gelben Schopf.
Einmal sagte Fredrik: „Mutter, wo ist mein Vater? Alle Jungens haben einen Vater. Nur ich nicht und der Schorch. Aber Schorchens Vater ist doch auf dem Kirchhof. Mutter, sag, ist mein Vater auch auf dem Kirchhof?“
Antje preßte den Zipfel des Kopftuches heftig gegen die Lippen, damit der Junge nicht das leise Stöhnen hörte.
So gingen sie eine weile schweigend. Jedes ein Schicksal, und ihre Schicksale stöhnten in der herben Luft.
Schwarz fielen die Schatten von den Pappelbäumen.
Und Fredrik schaute noch immer fragend zur Mutter hinauf. Er betrachtete ihre Hände, die welk und rissig waren, und liebkoste sie.
Ganz schüchtern öffnete er dann wieder den Mund:
„Mutter, sag . . .“
Und da bemerkte sie sein schmales, entstelltes Gesichtchen. Die spitze Falte zwischen den Augenbrauen und den verquollenen Mund, den die obere Zahnreihe gewaltsam aufstieß.
„Ja, ja, Jungchen. Ich werde dir den Vater zeigen, wenn wir wieder zu Hause sind. Wenn die Sterne scheinen. Dein Vater ist ein Stern. Ein ganz heller Stern.“
Fredrik reckte den Hals, und der Atem pfiff hindurch wie das Gekreisch einer Ratte, die im Eisen sitzt. Er mahlte mit den Zähnen irgendein Wort, aber eine fröstelnde Scheu fraß es ungeboren wieder weg.
„Ja, ja, Jungchen, dein Vater ist ein Stern.“
Fredrik gab sich einen Ruck und sagte weinerlich: „Wenn du mir den Stern zeigst, werde ich auch nie mehr fortlaufen.“
Am Abend, als sie daheim am offenen Kammerfenster standen, zeigte Antje dem Buben einen runden Stern, der flimmernd über dem Kirchturm stand.
„Das ist dein Vater, Jungchen, sieh nur!“
Fredrik reckte die Hand und versuchte den Stern zu pflücken wie eine Blume. Und er träumte die ganze Nacht von dem schönen, blanken Stern.
Und jeden Abend, wenn ihn die Mutter entkleidet hatte, sprang er ans Fenster und griff mit dem hageren Ärmchen den Stern. Er verschloß ihn mit der kleinen Faust und trug ihn in den Traum hinüber. Dort schien er die ganze Nacht so hell, so hell.
Da machten die Kinder mit dem Lehrer einen Spaziergang. Fredrik ging anfangs ganz still zur Seite des Magisters und suchte den Boden ab. Bis ihn zwei größere Buben beim Arm nahmen und mit fortrissen.
Er kam bald in Feuer und war der schnellste Junge. Er sprang wie ein abgekoppeltes Fohlen querfeldein: Greift mich! Greift mich!
Doch als die Buben einen Graben übersprangen, gab die Erde plötzlich nach und klaffte breit auf.
Unten war die Hauptsohle des Schachtes.
Der Lehrer drehte sich ein paar mal im Kreise. Irr. Dann war er mit einem Satz zur Stelle und sah ganz unten den Jungen auf einem Gesteinsblock liegen.
Die Rettungsmannschaft von der Grube kam und holte den zerschundenen Körper herauf. Das Haar war mit Blut verklebt, und die Beine hingen schlaff herunter wie an Zwirnfäden.
„Diesmal wird es sein Tod sein,“ sagte der alte Doktor.
Und die Spitalweiber grinsten und hoben die dürren Finger: „Ja, sein Tod wird es sein.“
Und: „Siehste Antje, der Israel hat ihn doch geholt. Haha, haha, haha.“
Vier Monate lang lag das Jungchen in Gips, und die Mutter legte derweilen ihr Haar in den Rauhfrost hinaus.
Sie hatte auch ihrem Verstorbenen endlich ein Denkmal gesetzt und ging immer in der Früh, wenn das Jungchen schlief, auf den Kirchhof hinaus. Die Weiber versuchten ein Gespräch mit ihr anzubändeln, aber ihre Augen waren weit und weiß wie zwei gleißende Schlünde. Nur ihre Hände konnte, sie noch ballen, immer, wenn sie an der Unfallstelle vorüberging, die jetzt in einem großen Umkreis abgezäunt war. Und die Männer von der Direktion waren da und fremde Herren, die maßen, klopften und bohrten.
Und dann hörte sie, daß das Dorf niedergerissen werden sollte, der Unsicherheit des Gesteins wegen.
Sie sah das alles kommen wie eine Märzahnung. Denn die Wege hier dünkten ihr jetzt öde und verworfen. Und Fredrik lag im Bett und fieberte.
Diese verfluchten Spitalweiber mit dem Blutgeruch . . . O, daß die Erde sich noch einmal auftäte, diese Henker zu verschlingen!
Als Fredrik wieder den Oberkörper heben konnte aus den rotgewürfelten Kissen, holte die Mutter allerlei Spielwerk zusammen, damit der Junge wieder lachen könnte. Und aus einem alten Legendenbuch las sie ihm vor von den frommen Einsiedlern und dem großen Propheten in der Löwengrube.
Und da Fredrik einmal mit beiden Händen nach dem Büchlein griff, um die Bilder anzuschaun, fiel eine verblichene Photographie aus dem Buch.
Fredrik faßte danach und betrachtete lange das fremde Gesicht.
„Mutter, was ist das für ein böser Mann? Sieh, er hat genau solch einen schwarzen Kittel an wie die Männer, die immer hinter den Särgen gehn!“
Antje rieb sich ein paar Mal die Augen und ihre Lippen sprangen scharf von den Zähnen. Die leeren Augen des Jungen irrten um sie wie feuchtrauchende Phosphorkugeln. Dann sagte sie ganz ernst: „Das ist dein Vater, Jungchen, dein Vater, ehe er ein Stern ward.“
Und sie stand vor dem zerwalkten Bett und wartete auf ihn mitten in dem gelben Zwielicht, das so peinvoll war.
Fredrik hob den Kopf etwas. Die Augen quollen auf, und entgeisterte Blicke schossen heraus wie ein böser Schreck. Und die Lippen raschelten Worte, die sie nicht verstand.
Dann zerschlug den armen Körper ein tonloses Wimmern. Stoßweises Meckern und Sägen und Kratzen.
Und er wehrte sich nicht, daß sie sich über ihn beugte in sanfter Sinnlichkeit, wie einst über den Israel, als er noch nicht wild gewesen war in ihres Leibes Rosenbeet.
Sie küßte den Buben, trocknete ihm das Gesicht, strich ihm das Haar glatt und die tiefen Kummerfalten. Sorgsam, mädchenhaft und ganz sinnlich. Immerzu und stetiger, heftiger.
Antje wagte auch nicht, dem Jungen das Bild wieder abzufordern. Etwas Feindliches lag schattenhaft auf seinem Gesicht. Er fragte nie mehr nach dem schönen blanken Stern. Aber sie wollte nichts wissen. Nichts wissen, nichts wissen.
Da Fredrik wieder aufstand, vergrub er das Bildchen schnell in der Lehmgrube unter dem Ofen. Denn er hatte Angst, daß ihm die Mutter das schöne Ding wieder abnehmen könnte.
Fredrik hatte jetzt eine verkrüppelte Schulter und mußte sich auf einen Stock stützen.
Aber der Steiger Verweno, der ein Bruder der Antje war, meinte: „Och, och, ich werde den Bengel schon mitnehmen. Er kann in meinem Revier Pferdejunge werden. Da verdient er seine vier Gulden die Woche.“
Antje fuhr wild auf und verbat sich solche Reden.
„Jungchen soll nie und nimmer zur Grube. Er wird überhaupt nicht arbeiten gehn!“
Das sagte sie auch dem Pfarrer, als Fredrik zur Kommunion ging.
Die Spitalweiber, die auch in der Kirche waren, sahen den Jungen fremd wie einen Toten an und bekreuzten sich.
Im Spätsommer kam der große Auszug. Der Staat hatte das Dorf geschlossen. Am jenseitigen Ufer war unterdessen eine neue Kolonie errichtet. Da war die Erde noch nicht angebohrt. Und die Bäume standen grün und saftig in den Blättern.
Das alte Dorf sollte niedergesprengt werden. Von der Genietruppe hatte man zwanzig Mann gesandt, die legten überall Sprengschüsse, um die elenden Hütten dem Boden gleichzumachen. Und auf den abgesperrten Gassen standen Posten mit geladenem Gewehr, damit niemand mehr in das Dorf zurückkehre.
Antje hatte ein schönes, weißgekalktes Häuschen bekommen. Fredrik half wacker beim Einräumen der Sachen. Plötzlich vermißte Antje zwei Speckseiten. Da fiel ihr ein, daß sie die im Schornstein hatte hängen lassen.
Und Fredrik hatte sein Bildchen unter dem Ofen vergessen. Er gab sich das aber nicht bloß. Antje jammerte um den schönen Speck.
„Mutter,“ sagte Fredrik ganz heftig, „heut abend, wenn die Soldaten in der Schenke sind, holen wir den Speck!“
Antje wollte nichts davon wissen, wie sehr auch der Verlust des Speckes schmerzte.
„Die Erde kann sich auftun und dann haben wir wieder das Unglück. Nein, nein! Laß man den Speck.“ Das sagte sie Fredrik.
Aber Fredrik, der das Bild nicht missen wollte, quälte die Mutter immerzu.
Sie fröstelte und fluchte, die Hände schlaff im Schoß. Sie dachte das wieder aus, das Furchtbare, das dem jähen Unglück vorausging. Josef, Maria! Das Unglück! Nein, nein!
Doch Fredrik ließ nicht nach, bis die harten Linien des Zornes in ihrem Gesicht verschmolzen.
Und als es Abend wurde, nahm Antje den Jungen und sie gingen miteinander hinaus.
Sie holperten schweigend den Weg hinunter, weiter und nach dem Fluß hin. Die Brücke schwankte und stöhnte laut wie eine Vergewaltigte. Und der Stern, den Antje suchte, kam nicht. Schauer rieselten dahin.
Durch den dicken, trägen Dunst schaukelte das Dorf heran. Ein armseliges Ausgestoßenes hinter den Schachttürmen und Erzmühlen. Der Schein der Hochöfen lag darüber wie aufgelöstes Blondhaar von Millionen Frauen.
Da flammte das hohe weiße Kreuz, das sie dem Israel hatte setzen lassen, auf und überschwemmte alle Gräber.
Sie riß den Jungen zurück, wollte ihn hinbetten an die offene Brust, daraus sieben Schwerter starrten. Sie riß den Jungen zurück. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Ein Blutschrei, der hinaus wollte.
Und sie fühlte des Knaben Abwehr wie eine gemeine Schändung und konnte doch nicht die magern, abwehrenden Hände halten.
Als Fredrik seine Arme locker fühlte, wandte er sich jäh ab und hopste wie ein Heupferdchen davon.
Da war Antje wach gerufen und sah nur den stachligen Zaun vor sich.
Fredrik zwängte sich hindurch, schlenkerte das lahme Bein hinunter und stand steif in dem Abgezäunten.
Antje sah noch sein starres, verstörtes Gesicht aus dem roten Nebel wie einen Totenschädel.
Sie konnte nicht weiter und beschloß zu warten.
Rief da nicht jemand: „Fredrik? — — Fredrik . . .?“
Eine Eule huschte laut vorüber.
Fredrik ging nicht zuerst in die Räucherkammer, um nach dem Speck zu fingern. Er tastete sich durch den Flur in das Hinterstübchen und stolperte über einen schweren Balken, den die fremden Soldaten wohl dort hingeworfen hatten.
Fredrik erhob sich ächzend.
Blut rann über sein Gesicht, und der Totenvogel schrie stärker. Mit beiden Händen grub er wie ein Maulwurf den Lehm vor dem Ofen auf. Das Bildchen kam noch immer nicht.
Plötzlich fühlte er einen harten runden Gegenstand, der an einer Schnur hing. Dieses fremde Ding machte ihn neugierig zittern. Er mußte das Feuerzeug schlagen. Das Feuerzeug an der Sprengpatrone.
Schwer rollte der Donner über das tote Dorf und die Erde spaltete klafterweit.
Knirschen und Krachen von Gebälk übertönte das Brausen der Hochöfen. Und Wände und Estrich und Dach knarrten, polterten, wälzten sich in den Abgrund hinein. Rauch und Staub jagten wie ein Wetter davon, und die Nacht flatterte auf mit blutigen Tüchern.
Die aber, die auf dem Stein an der Umzäunung saß, sah alles mit aufgerissenen Augen und schlug hintenüber, als die Explosion über die Erde fuhr und das Dunkel zerfetzte.
Und unten aus dem grausen Spalt lachte und wieherte gellwahnsinnig der Tanz zweier Stimmen, die sich verschwisterten. Lachten, posaunten, rollten weiter und immer ferner scholl das Gelach: Huhu — huhu — huhu — huhu — hu — huhu.
Huhu — huhu sprang Antje aus der Betäubung auf und rannte querfeldein. Blutrote Fragen vorauf. Sie breitete die Arme aus. Die Schatten überschlugen sich, verwirrten sich in der gräßlichen Lache, oh das Unglück! oh das Unglück!
Das war wie eine Beschwörung. Wie eine Erlösung.
Und es war kein hohles Echo, das tausendstimmig zurückdonnerte aus der zerklüfteten Nacht. In dichten Scharen kam es von der Grube und von der neuen Siedlung.
Und sie wußten alle, daß einer fort mußte von der Welt. Einer, dessen Tag nun gekommen war, wie sie es vorausgesagt hatten mit lästerlichen, kalten, trostlosen Worten.
Sie suchten triumphierend Antje. Ihre Blicke glühten wie in der Extase des Rausches. Es war ein Blutrausch. Der Rausch nach dem Opfer.
Antje aber fand sich wieder in einem anderen fernen Grubendorf. Dort verdingte sie sich auf der Erzmühle. Suchte dort den Tod und suchte ihn vergebens.
(1911)
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