Alexei Michailowitsch Remisow ( 6. Juli 1877 - 26. November 1957 ) war ein russischer Schriftsteller.
Remisow wurde als Kaufmannssohn geboren. Er besuchte zunächst die Handelsschule und studierte anschließend Mathematik und Physik an der Moskauer Universität. 1897 wurde er aufgrund seiner Teilnahme an einer Studentendemonstration in die Verbannung nach Nordrussland (u. a. Wologda) geschickt. Dort suchte er einen Streik in Pensa zu organisieren, was ihm eine erneute Verurteilung eintrug. Nun beschäftigte er sich mit der russischen Sprache, mit russischen Sprichwörtern, schrieb und veröffentlichte seine ersten Erzählungen, und beteiligte sich zudem an Theateraufführungen. Etwa 1900 lernte er seine spätere Frau, die Übersetzerin Serafima Dowgello, kennen.
1905 kehrte er aus der Verbannung zurück und siedelte nach Sankt Petersburg über, wo er als Mitarbeiter der Zeitschrift Woprosy shisni arbeitete.
Remisow, der von seiner Umwelt als Sonderling bezeichnet wurde, versuchte sich zunächst als Schauspieler, Bühnen- und Maskenbildner, Sänger und Maler. Außerdem träumte er davon Pyrotechniker zu werden. Den größten Erfolg hatte er letztendlich als Schriftsteller.
Remisow gehörte dem russischen Symbolismus an, reicht zeitlich jedoch auch in den Surrealismus hinein. Er verkehrte unter anderem mit Alexander Blok, Anna Achmatowa, Iwan Bunin und Michail Kusmin.
1921 emigrierte Remisow nach Berlin und ließ sich 1923 in Paris nieder, wo er 1957 starb.
1.
Schon ganz zu Anfang des Semesters hatte man auf dem Newskij-Prospekt einen schwarzhaarigen Studenten bemerkt, der sich von den andern eleganten Studenten in ihren neuen Uniformen scharf unterschied. Die neu immatrikulierten Studiosi, die zum erstenmal nach Petersburg gekommen sind, pflegen scharenweise auf dem Newskij spazieren zu gehen, gucken neugierig nach allen Seiten und stehen lange vor den Schaufenstern.
Der Student, der allen auffiel, war auch ein Neuling und auch elegant gekleidet, aber sein Gesicht und seine Haltung unterschieden ihn von den andern.
Er hatte so feurige schwarze Augen und so schwarzes Haar — es gab keinen zweiten so schwarzen auf dem ganzen Newskij.
Seine Augen behielten, auch wenn er lächelte und sogar sehr schelmisch lächelte, immer denselben Ausdruck: ein alter Schmerz, eine Wehmut, die Jahrhunderte überdauert zu haben schien und immer wieder durch ein verborgenes nie verlöschendes Feuer genährt wurde, sprach aus diesen Augen. Und wenn er, ohne den Kopf zu wenden, nach einer vorübereilenden Dame schielte, dann sah man von den Augen nur das Weiße.
Sein Gang war sehr sicher und solide; er schritt gleichmäßig, ohne hin und her zu wackeln und ohne mit den Armen zu fuchteln. Und doch hatte man das Gefühl, als müßte er von allen Spaziergängern der tollste und phantastischeste sein.
„Abdul Achad,“ sagte der schwarze Student einmal, als er sich einem semmelblonden, ängstlich dreinschauenden Kommilitonen vorstellte.
„Ein Türke,“ zwinkerten die Kellner in den Kaffeehäusern und die Ladendiener einander zu, wenn sie Abdul Achad zu Gesichte bekamen.
Die Liebhaber arabischer Märchen mußten in große Erregung geraten, wenn sie zufällig mit Abdul Achad zusammen kamen, — dem Türken, wie er nur noch von den Kameraden genannt wurde.
Vom Newskij kam der Türke auf Wasili-Ostrow. In der zwölften Linie mietete er sich ein Zimmer. Und schon im November kannte der ganze Stadtteil den Türken.
Der Türke war reich und freigebig. Der Türke fiel allen auf. Und es gab kaum ein junges Mädel im ganzen Stadtteil, in das der Türke sich nicht verliebt hätte; es gab kein einziges, das nicht für den Türken geschwärmt hätte.
Es gingen die unglaublichsten und lächerlichsten Geschichten über den Türken um.
Allerdings liebte er selbst sehr von sich zu sprechen und allerlei unglaubliche, lächerliche Geschichten zu erzählen, von Reisen und Abenteuern jeder Art, — und immer wollte er alles selbst gesehen und selbst erlebt haben.
Die Liebhaber arabischer Märchen mußten in große Erregung geraten, wenn sie zufällig eine Geschichte des Abdul Achad zu hören bekamen.
Und der semmelblonde ängstliche Studiosus, zu dem der Türke sich besonders hingezogen fühlte und den er protegierte, der semmelblonde ängstliche Studiosus, der stete Begleiter des Türken, berichtete einmal voll herausfordernden Stolzes von seinem Beschützer, dieser sei schon als Quintaner Vater gewesen und hätte sich in dieser Rolle keineswegs wohl gefühlt.
Übrigens hatte auch der Türke selber in einem Augenblick besonderer Offenherzigkeit etwas Ähnliches von sich erzählt, und sogar geschildert, wie peinlich es ihm war, als Vater eines kräftigen Jungen vom Lehrer in den Winkel gestellt zu werden.
Man schenkte der Geschichte nicht eben viel Glauben, aber man amüsierte sich köstlich.
„Nun freilich,“ sagte man, „ein Türke!“
„Der Türke ist da!“ rief man mit frohem, freundlichem Lachen, wenn Abdul Achad in der Kneipe erschien.
Der Türke lebte sich in Petersburg ein, wie die andern Türken, die „Schopftürken“ —so nannte Abdul Achads Zimmerwirtin die Sphinxe an der Nikolaibrücke — sich an die kalte Newa, an den bleichen Himmel, an den Rauhreif und an den Petersburger Wind gewöhnt hatten.
Der Türke fand es immer heiß und knöpfte seinen kostbaren Pelz nie zu.
„Natürlich,“ hieß es, „ein Türke.“
„Der Türke, der Türke!“ wurde Abdul Achad mit frohem, freundlichem Lachen auf der Straße begrüßt.
Aber der Türke war launisch: heute konnte er lustig sein, und tags darauf war er traurig; heute erzählt er die tollsten Geschichten und macht die abenteuerlichsten Pläne, und morgen sieht man nur das Weiße seiner Augen.
Und alle kennen das — sie kennen sein Lachen und seine Tränen und sie liebkosen den Türken, wenn er weint.
„Lieber Türke, laß doch!“ — Und sie streicheln ihn wie eine Katze.
Zu Weihnachten tanzte der Türke auf Maskenbällen und nach Weihnachten setzte er sich an die Kolleghefte.
Aber was ist das Kolleg für den Türken? Und was ist der Türke dem Polizeiwachtmeister?
Ganz unerwarteterweise kam der Türke eines schönen Tages nicht mehr nach seiner zwölften Linie und nicht zu den Schopftürken, den Sphinxen, an denen er sonst so oft vorübergegangen war, sondern an das Arsenal-Ufer in das Gefängnis von Kresty.
2.
Man gelangt auf sehr einfache Weise nach Kresty.
Auf dem Newskij gab es eine Straßendemonstration. Unter den Demonstranten befand sich auch der Türke. Wie wäre eine Demonstration ohne den Türken möglich gewesen? Bei Demonstrationen trifft man eine Unmenge Bekannte und es ist sehr lustig, wie auf keinem Ball, keiner Maskerade.
„Der Türke! Der Türkei“ riefen die Kameraden freudig, als sie Abdul Achad zu Gesicht bekamen.
Und anfangs ging alles sehr nett und lustig her, aber vor dem Rathause hatte die Polizei den Demonstranten eine Falle gestellt, und nun gab es Knuten- und Säbelhiebe.
Der Türke ist alles, was ihr wollt; er ist nicht erst in der Quinta, sondern schon in der Sexta Familienvater gewesen; das ist alles wahr. In China war er allerdings nicht, wenn er auch sehr schön von lebendig gebratenen Fischen zu erzählen weiß, die ihm irgendein vornehmer Chinese vorgesetzt haben soll. Aber der Türke ist ein Ritter, der Türke kann es nicht zulassen, daß ein hübsches Mädel, noch dazu eins, das er sehr gut kennt, von einem Soldaten mit dem flachen Säbel geschlagen wird.
Drei junge Studentinnen stürzten auf die Treppe des Rathauses, legten die Hände vors Gesicht und knieten nieder, den Soldaten den Rücken zukehrend. Ein Soldat stieg ihnen nach und begann sie der Reihe nach mit seinem schweren, harten Säbel zu schlagen.
Der Türke geriet in Raserei.
In der Menge lachte jemand laut auf und sagte etwas Kränkendes über die unglücklichen, geduldig unter den Säbelhieben knienden Mädchen. Und von allen Seiten tönte Geschrei und Gewinsel. Man stieß sich, rannte, stolperte, fiel.
Der schwarze Türke mit den schwarzen brennenden Augen lief nicht, wie die andern, er schrie nicht, wie die andern, er rollte nur seine großen brennenden Augen.
Und seine Raserei erreichte den Höhepunkt.
Und das Weiße seiner Augen schimmerte so schauerlich, daß dem Schutzmann, der aus seinem zufälligen Opfer die letzten Lebensgeister herausprügeln wollte, plötzlich der Gedanke kam:
„Ist das nicht der Teufel selber, der nicht umzubringen ist?“
Die Lebensgeister ließ der Türke sich nicht herausprügeln, aber nach Kresty kam er doch.
3.
Mit dem Türken hatte man von der Demonstration noch viele Studenten nach Kresty gebracht, und bald zeigte es sich, daß von allen der Ungebärdigste, der Schwierigste Abdul Achad, der Türke, war.
Als alle Beulen, Quetschungen, Risse, Schrammen geheilt waren, wurde auch der Türke wieder lebendig. Und er war wie ein kleines Kind . . . Was konnte man auch von einem Türken anders erwarten?
Der Türke bekam Besuch von zwei Bräuten. Der Türke war in die eine ebenso verliebt, wie in die andre, und er wußte selbst nicht mehr genau, welche von beiden die schönere war und welche er lieber hatte.
Die Bräute brachten ihm Blumen, Schokolade, Kuchen ins Gefängnis. Die Zusammenkünfte dauerten immer sehr lange. Aber der Türke war immer noch unzufrieden. Er bat, daß ihn noch eine dritte Braut besuchen dürfe. Und so erhielten drei Bräute die Erlaubnis, den Türken zu besuchen, jede zu ihrer bestimmten Stunde.
Aber auch das war ihm noch nicht genug. Der Türke gab keine Ruhe.
Wie wäre das auch möglich gewesen, da er in Wahrheit doch nicht drei, sondern dreiunddreißig Bräute hatte.
Die Zelle des Türken befand sich im Hintergebäude im vierten Stock. Das Fenster war hoch. Vom Fußboden aus konnte man nicht durchsehen. Der Türke stellte seinen Stuhl auf den Tisch, kletterte hinauf und schaute abends aus dem Fenster.
Dort am Ufer, von den Schopftürken, den Sphinxen, bis zum Arsenal gingen seine Bräute spazieren, alle dreiunddreißig.
Der Türke dachte nur an sie, erwartete ihren Besuch und träumte nachts von ihnen.
Und dann kam der Frühling. Es ward streng verboten, aus dem Fenster zu sehn. Aber wie konnte der Türke nicht aus dem Fenster sehn, wenn der Frühling gekommen war?
Der Türke kümmerte sich um die Vorschriften nicht.
Man drohte ihm mit Karzerhaft — er ließ sich nicht bange machen. Man sperrte ihn in den Karzer — es half nichts. Da ließ man ihn in Frieden. Was sollte man auch mit ihm anfangen? Früher, als er noch frei war, hatte er die ganze Welt in drei Gruppen geteilt: hübsche Mädel, junge Mädel und Weiber überhaupt. In die ersten verliebte er sich, in die zweiten war er nicht abgeneigt, sich zu verlieben, und den dritten war er stets bereit, den Hof zu machen.
Und nun, da der Frühling gekommen war, da liebte er sie alle, alle gleich und machte keinen Unterschied mehr zwischen hübschen und jungen und Weibern überhaupt.
Und am Ufer gingen abends nicht mehr dreiunddreißig, sondern mindestens dreihundertdreiunddreißig Bräute spazieren, er sah sie mit seinen eigenen Augen.
Alle Frauen waren seine Bräute.
Zu Ostern weinte der Türke sogar. Er weinte, weil man ihn nicht auch in die Kirche gehen ließ, wie alle seine Mitgefangenen, und auch weil er abends, als er aus dem Fenster seine am Ufer spazierenden Bräute sah, ein so großes Mitleid mit ihnen empfand.
Es kam der Mai und die hellen Nächte.
Aus dem Fenster sah der Türke den Mai, die hellen Nächte.
Einmal, als die Kontrolle eben vorüber war, und der Türke auf den Stuhl geklettert war, um nach den Bräuten Ausschau zu halten, bemerkte er einen schwarzen Bart, der aus dem Gitterfenster nebenan heraushing. Der Nachbar hatte den Türken auch bemerkt und suchte ihm durch Zeichen zu verstehen zu geben, daß er nicht reden solle.
Aber wann hätte der Türke je guten Rat angenommen?
Er war so erfreut über den schwarzen Bart.
„Sitzen Sie schon lange hier?“
„Zwei Jahre.“
„Woher?“ „Aus Wilejki.“
„Wofür?“
„Denunziation. Ich weiß selbst nichts Genaues.“
„Besucht Sie jemand?“
„Nein. Ich habe daheim eine Frau und ein kleines Mädel.“
„Was war Ihr Beruf?“
„Melamed. Lehrer.“
„Langweilen Sie sich nicht?“
„Ich klebe Schachteln.“
„Sehnen Sie sich nicht nach Ihrer Frau?“
Aber der Nachbar antwortete nicht. Der schwarze Bart verschwand hinter dem Gitter. Und da klopfte auch der Wächter an die Tür. Der Türke mußte von seinem Stuhl herunter.
Als der Wächter vorübergegangen war, kletterte der Türke wieder hinauf und rief wieder den Nachbar an, aber der schwarze Bart zeigte sich nicht mehr, man sah durch das Gitter nur einen gekrümmten müden Rücken. Dann vergaß der Türke den Bart, und endlich wurde der Türke freigelassen. Es war doch nichts mit ihm anzufangen.
4.
Aus Kresty begab der Türke sich geradewegs auf den Newskij. Er wußte gar nicht, was er mit sich anfangen, wo er sich lassen sollte. Seine Bekannten aufsuchen? Dazu war auch morgen noch Zeit genug. Drei Tage war ihm Frist gegeben, drei Tage durfte er sich in Petersburg aufhalten, und in drei Tagen konnte er alles erledigen, alle besuchen.
Der Türke ging auf dem Newskij und lächelte, alle lächelte er an, die Alten und die Jungen.
„Türke, lieber Türke, wie geht es dir?“ lächelten die Leute ihm entgegen, oder zum mindesten schien es ihm so.
Er ging in ein Kaffeehaus nach dem andern, trank Kaffee, aß Kuchen, guckte in ein paar Kinos hinein, aber nirgends hielt er’s lange aus.
„Türke, lieber Türke! Wie schön, wie herrlich ist die Freiheit!“ summten, brummten, flüsterten die Passanten — zum mindesten schien es ihm so.
In einer Schaubude am Newskij gab es wilde Menschenfresser zu sehen. Aus Neu-Guinea hatte man sie nach Petersburg gebracht.
„Das allerwildeste Volk auf dem Erdball!“ verkündete das Plakat. Der Türke ging hinein, sich die wilden Menschenfresser anzusehen. Die Menschenfresser sahen ganz wie Theaterteufel aus und lächelten, wie der Türke selbst. Und der Türke konnte nicht anders — er kletterte zu ihnen auf das Podium hinauf. Die Wilden verstanden nicht, was der Türke zu ihnen sagte, und auch die andern, die zahmen Zuschauer, ja der Türke selbst, verstanden kaum etwas, aber die Wirkung war eine ganz unerwartete: die Wilden hielten ihn wohl für einen Gott, sie spannten ihre Bogen, schossen ihre Pfeile ab, reckten sich lang aus, wie Peter der Große, und machten so wüste Kängurusprünge, daß dem Publikum angst und bange wurde und alles in größter Hast zum Ausgang drängte.
Im Gedränge kam auch der Türke hinaus.
„Türke, lieber Türke, wie lustig ist es, wie lustig!“ rief man ihm nach — oder zum mindesten schien es ihm so.
Die Newa hatte das Eis vom Ladogasee schon ins Meer hinaus befördert. Es war warm. Übrigens hätte der Türke es auch warm gefunden, wenn das Eis noch nicht abgegangen wäre.
Die weiße, durchsichtige Nacht lockte mit fernen silbernen Sternen.
Es war Kaisers Geburtstag. Auf dem Newskij flammten längs dem Bürgersteig bunte elektrische Laternchen auf, an den Häusern leuchtende Monogramme und Wappen. Das Gedränge der Spaziergänger wurde immer größer.
Der Türke sah nach allen Seiten und lächelte. Alles schien ihm so reich geputzt, so jung und rein, er hätte alle ohne Unterschied küssen können.
An der Ecke beim Katharinenkanal blieb der Türke stehen.
Von der Kasankathedrale her kamen Gardekürassiere.
Riesengroß, auf prächtigen Pferden, in silbernen Harnischen, bewegten sich die schimmernden Reiter wie Gespenster vorwärts.
Der Türke sah auf die Kürassiere und lächelte. Und lange noch schimmerten die silbernen Harnische durch die weiße Nacht, die bunten grünen Laternchen und die dunkeln, wie Bärte herabhängenden Fahnen. Als die Kürassiere vorüber waren, ging der Türke mit der Menge weiter.
Auf der Brücke fiel ihm ein Mädel auf — schwarzhaarig, schlank, fast wie ein Backfisch, nicht geschminkt, mit Augen, die glänzten, wie die Harnische der Kürassiere. Er lächelte sie an und sie lächelte auch. Er faßte sie unter den Arm. Sie ließ ihn lächelnd gewähren. Und sie gingen weiter.
Sie gingen und lachten, wie alte Bekannte.
Warum auch nicht? Sie war ja seine Braut! Alle waren sie seine Bräute.
Die weiße durchsichtige Nacht lockte mit fernen silbernen Sternen.
„Wohnen Sie weit von hier?“
Sie nannte ein Hotel.
Ihre Antwort belehrte den Türken, daß sie erst seit kurzem auf der Straße war: sie empfing noch keinen Besuch in ihrer Wohnung.
Sie gingen nach dem Gasthaus. Ließen sich ein Zimmer anweisen.
Und noch deutlicher ward es dem Türken, daß sie erst seit kurzem auf dem Newskij war: sie wollte kein Bier trinken.
Der Kellner brachte Limonade. Sie tranken die Limonade. Dann kleideten sie sich aus.
Sie war eine Jüdin und hieß Rosa.
„Sind Sie auch Jude?“
„Nein.“
„Grieche?“
„Nein!“
Sie sah ihn mit großen erstaunten Augen an und zählte alle Völker auf, die sie kannte. Sie kam schließlich bis auf die Chinesen und die menschenfressenden Papuas, die sie sich ebenso angesehen hatte wie der Türke.
„Ein Papua?“
„Nein.“
„Ein Türke?“
Der Türke konnte sich nicht mehr beherrschen und fing laut zu lachen an.
„Ein Türke! Ein Türke!“ rief Rosa erfreut, wie Kinder sich freuen, wenn sie einen Spielgefährten endlich in seinem gar nicht mal besonders schlau gewählten Versteck aufgestöbert haben, und immer wiederholte sie mit gutmütigem Lachen, wie die Kameraden, wenn sie den Abdul Achad irgendwo trafen, wo sie ihn am allerwenigsten erwartet hatten: „Ein Türke! Ein Türke!“
Rosa hatte nur noch das Korsett abzunehmen.
Der Türke schwatzte allerlei tolles Zeug, behauptete, er sei kein Türke, sondern ein ganz richtiger Kannibale und er werde sie gleich mit Haut und Haar auffressen, und dabei lachte er so, daß er ganz außer Atem kam.
Aus Rosas Korsett fiel plötzlich etwas auf den Boden. Der Türke bemerkte es. Aber Rosa bückte sich in größter Hast und verbarg den Gegenstand in ihrer hohlen Hand.
Was mochte das sein? Und warum wurde sie so rot?
„Was ist das?“
„Nein, nein, das dürfen Sie nicht . . .“ Rosa trat zurück.
„Warum nicht?“ widersprach der Türke, umarmte Rosa und setzte sie auf seinen Schoß. „Sag mir doch, was es ist!“
„Es geht nicht,“ wiederholte sie. „Bitte, fragen Sie mich nicht. Ich will das nicht.“
Aber wann hätte der Türke je guten Rat angenommen! Er bestand auf seinem Stück: du mußt es mir sagen! Er schwur, daß er ihr Geheimnis keinem verraten und auch nicht lachen werde: auf ihn, den Türken, könne man sich verlassen.
„Alles geht,“ sagte er, „und das nicht? Warum denn nicht? Warum nur?“
Aber sie preßte den geheimnisvollen Gegenstand nur noch fester in ihrer Faust zusammen und schwieg. Es schien, als könnte keine Gewalt auf Erden ihr das Geheimnis entreißen, selbst wenn alle Schutzleute vom Newskij sich mit ihren kräftigen Fäusten auf sie gestürzt hätten. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort zu sagen.
Dieser kindische Trotz ärgerte den Türken. Er gab keine Ruhe. Er mußte Rosas Geheimnis wissen. Er rollte die schwarzen, brennenden Augen. Er packte Rosas Hand. Und sie öffnete die Faust.
Anfangs verstand der Türke nichts. Er traute seinen Augen nicht.
„Eine Krawatte?!“
Sie hielt eine ganz gewöhnliche, genähte, schwarze Krawatte in der Hand — das Mittelstück, das wie ein schwarzer Schmetterling aussah.
Und Rosa fing an, ganz schnell, stotternd, einzelne Worte bald verschluckend, bald wiederholend, zu reden. So flüstern Kinder, wenn sie sehr froh sind, der Mutter ins Ohr:
„Weißt du, Mama —“ oder, wenn sie sich schuldig fühlen, ängstlich und bitter: „Ich will es nie mehr tun!“
Es war eine Krawatte. Eine Krawatte ihres Mannes. Rosa wollte dem Türken nicht von ihrem Manne sprechen. Sie hat auch ein Kind. Ein dreijähriges Mädel. Sie kommt aus Wilejki.
Ihren Mann hat man in einer schwarzen Kutsche nach Petersburg gebracht. Schon vor zwei Jahren. Ein Arbeiter aus der Nachbarschaft hatte ihn angeschwärzt. Ihr Mann war Melamed im Cheder.
„Ein Melamed — ein Lehrer,“ wiederholte Rosa.
„Ich hab ihn gesehen, deinen Mann, er hat einen schwarzen Bart und einen krummen Rücken. Er ist sehr mager. Ein richtiges schwarzbärtiges Skelett,“ sagte der Türke ganz erfreut, und deutlich sah er wieder seine Zelle im vierten Stock vor sich und den Abendhimmel und sich selbst auf den Stuhl stehen.
„Ich selbst komme eben aus Kresty, und er ist auch dort, in Kresty. Das Gefängnis Kresty auf der Wiborger Seite, Arsenalufer 5.“
Aber Rosa saß nicht mehr auf seinem Schoß, Rosa lag auf dem Boden zu Füßen des Türken und schrie so, als würde sie geschlagen, als wollte sie ihre ganze Seele sich aus dem Leibe schreien.
Der Türke griff nach der Karaffe und goß ihr Wasser ein. Was hatte er denn getan, daß sie sich wie in Krämpfen auf dem Boden wälzte und schrie? Aber Rosa rührte das Wasserglas nicht an, sie stand nicht auf, sie blieb liegen, in Hemd und Strümpfen, sie winselte und schluchzte und preßte die schwarze Schleife, die wie ein Schmetterling aussah, fest in ihrer Hand zusammen.
Der Türke erkannte Rosa nicht wieder. Das war nicht mehr der bleiche, schüchtern-schlaue Backfisch, sondern ein rasendes Weib, das von einem wilden Weh gepeinigt wurde. Und der Schmerz machte ihr Gesicht alt und häßlich.
An die Tür wurde geklopft. Man forderte Einlaß.
Der Türke ging um Rosa herum und wußte nicht, was er anfangen sollte.
„Beruhige dich doch,“ sagte er und streichelte sie, „was liegt denn an einem Schlips? Bei Gott, ich habe nichts Böses gesagt!“
An die Tür wurde geklopft. Und es war, als klopfte man nicht nur an die Tür, sondern an alle Wände und an die Decke, nicht mit der Faust, sondern mit einem Hammer.
Der Türke mußte öffnen: man hätte sonst die Tür aufgebrochen.
Ein Polizeiwachtmeister, ein Schutzmann, der Zimmerkellner, ein Droschkenkutscher und ein Frauenzimmer, wohl aus der Stube nebenan, traten ein.
„Was geht hier vor?“ fragte der Wachtmeister und betrachtete den entkleideten Türken und die auf dem Boden liegende Rosa mit strengen Blicken.
„Nichts,“ erwiderte der Türke, „ich habe gar nichts getan!“ Und er stürzte sich auf Rosa, hob sie auf und setzte sie, so gut es ging, auf das Sofa.
Rosa beachtete die Leute gar nicht, sie sah und hörte nichts, sondern winselte nur und schluchzte.
Der Wachtmeister befahl Abdul Achad sich anzukleiden. Der Türke sollte ihm auf die Polizeiwache folgen, wo man die Sache zu Protokoll bringen werde.
Was hatte er denn getan? Hatte er sie denn geschlagen? Hatte er ihr etwas Kränkendes gesagt? Nichts, rein gar nichts! Nichts Böses hatte er ihr getan, ja nicht einmal gedacht.
Der Türke zog sich hastig an, wie einer der sich schuldig fühlt. Aber die Hände wollten ihm nicht gehorchen. Kein Knopf ging zu. Rund herum aber standen die Leute und gafften ihn an wie einen ertappten Taschendieb, und schienen ihm zuzuzwinkern: „Was sagst du nun? Haben wir dich doch?“
Er hatte Gold in der Tasche. Er legte alles in Rosas offene Hand und folgte dem Wachtmeister nach dem Polizeiamt.
Hinter dem Wachtmeister gingen auch die andern hinaus: das Frauenzimmer von nebenan, der Kutscher und der Zimmerkellner — sie hatten ihre Schuldigkeit getan, mehr konnte man nicht von ihnen verlangen.
Rosa blieb allein zurück. Sie saß immer noch in Hemd und Strümpfen auf dem Sofa und weinte und winselte und preßte in der einen Hand die Krawatte zusammen, die wie ein schwarzer Schmetterling aussah, und in der andern das Gold des Türken. Sie war allein in dem Zimmer geblieben, und vor ihr stand der stumpfnasige Schutzmann vom Newskij-Prospekt . . .
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