Vorwort
Gérard de Nerval wurde am 22. Mai 1809 als Sohn eines Militärarztes in Paris geboren. Er wurde nicht ganz 46 Jahre alt, — er starb am 25. Januar 1855. Sein eigentlicher Name war Gérard Labrunie.
Da seine Mutter ihrem Gatten zum Heere folgte und sehr früh starb, was der Dichter in der hier übersetzten Novelle »Aurelia« auch erwähnt, wurde der Knabe im Valois bei einem seiner Oheime erzogen. Er besuchte das Gymnasium und obwohl er hie und da lieber in Wald und Feld herumstreifte, als auf der Schulbank zu sitzen, war er doch der Stolz der Schule und der Gegenstand der Bewunderung seiner Kameraden, denn er dichtete kaum achtzehn Jahre alt seine »Elégies nationales«. Auch seine Faust-Übersetzung, die heute noch zu den besten gezählt wird, erschien schon zu dieser Zeit, und Goethe hat dem jungen Nerval in einem eigenhändigen Schreiben dafür gedankt. Nerval hat diesen Brief aufbewahrt, und obwohl er sonst wegen seiner Bescheidenheit bekannt war, zeigte er ihn gern seinen Freunden und versicherte, daß die Anerkennung des großen deutschen Dichters ihn mit Stolz erfülle.
Zu diesen Freunden gehörten in erster Linie Théophile Gautier, Arsène Houssaye und viele andere. Nerval hatte das Glück, schon von seinen Zeitgenossen gewürdigt zu werden. Die Freunde ertrugen seine bizarren Launen geduldig und bemühten sich, ihm alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wie oft hielt er seine Verabredungen nicht! Wie häufig kam es vor, daß sein Vater, bei dem er regelmäßig Donnerstags und Sonntags speiste, ihn vergeblich erwartete! Erst nach längerer Zeit erfuhr man in solchen Fällen, daß der Dichter eine seiner großen Reisen angetreten hatte!
Nerval hat viel von der Welt gesehen. Er bereiste Deutschland, Ägypten, Syrien, die Türkei. Diese Reisen regten ihn zu seinen Hauptwerken an, vor allem zu dem großen Drama: »Die Königin von Saba«, das schon wegen seiner ungeheuren Dimensionen nicht auf das Theater gebracht werden konnte. Am meisten Interesse zeigte der Dichter für die Sitten und Gebräuche der Völkerschaften, die er auf seinen Reisen kennen lernte. Er neigte stark zur Mystik und als von seinem dreißigsten Lebensjahr an sein Geist anfing, gewissen krankhaften Anfällen zu unterliegen, verstärkte sich dieser Hang.
Das Werk, welches wir hier veröffentlichen, steht wohl in der Literatur einzigartig da, denn in »Aurelia« erzählt und beschreibt der Kranke selbst seine Zustände und Visionen. Er berichtet, daß er in der Irrenanstalt angefangen habe, die Geschichte seiner Krankheit zu schreiben, die ihn bis zu seinem Lebensende nur vorübergehend verließ. Die letzten, hier veröffentlichten Seiten fanden die Freunde in der Tasche des Toten; er hat sich noch bis in die letzten Tage, vielleicht Stunden, mit diesem Manuskript beschäftigt. Viele glauben, daß sein Tod kein natürlicher gewesen ist, sondern daß er seinem Leben gewaltsam ein Ende gemacht hat. Bei seinem Geisteszustand ist es nicht unwahrscheinlich, aber Gewißheit hat man darüber nicht.
Gérard de Nerval hat auch schon in seinen gesunden Tagen ein sonderbares Leben geführt. Nirgends blieb er lange und vor allem war es ihm zuwider in seiner Wohnung zu schlafen. Er streifte Tage und Nächte lang rastlos in den Straßen von Paris umher, machte sich Notizen über seine Beobachtungen und besuchte seine Freunde, wenn er gerade an ihren Haustüren vorüberkam. Er konnte es nicht ertragen, durch ein Versprechen an einen Besuch zu bestimmter Stunde gebunden zu sein.
Er war von Haus aus nicht unvermögend, auch fiel ihm einmal eine kleine Erbschaft zu. Da außerdem die Zeitungen und Zeitschriften über jede Zeile von seiner Hand froh waren, hätte er leicht ein behagliches Leben im Wohlstand führen können. Aber das widerstrebte seiner Natur. Hatte er Geld, so kaufte er oft auf Auktionen Kunstgegenstände, die er dann bisweilen bei irgendeinem Freund einstellte, um sie nach kurzer Zeit zu vergessen. Nur wenn er eine Auslandreise vorhatte, vermochte er zu sparen.
Gérard de Nerval war als Schriftsteller nicht gerade fleißig. Er hat sich oft wiederholt und unter seinen dramatischen Versuchen ist nicht viel Wertvolles zu finden. Die Gestalt des »Faust«, dessen Einführung in Frankreich ihm so frühen Ruhm verschaffte, soll seinen Geist so ausgefüllt haben, daß eigene Gestaltungsversuche stets Züge des großen Vorbildes annahmen.
Lesenswert sind noch einige seiner Novellen, besonders aber die anschaulich geschriebene, sehr eigenartige Erlebnisse schildernde »Orientreise«.
HEDWIG KUBIN.
Erster Teil
I.
Der Traum ist ein zweites Leben. Ich habe nie ohne zu schaudern durch die Elfenbein- oder Horntore dringen können, die uns von der unsichtbaren Welt scheiden. Die ersten Augenblicke des Schlafes sind das Bild des Todes. Eine nebelhafte Erstarrung ergreift unsern Gedanken, und wir können den genauen Augenblick nicht feststellen, wo das Ich in einer andern Form die Tätigkeit des Daseins fortsetzt. Ein ungewisses unterirdisches Gewölbe erhellt sich allmählich und aus dem Schatten der Nacht lösen sich in ernster Unbeweglichkeit die bleichen Figuren, welche den Vorhof der Ewigkeit bewohnen. Dann nimmt das Bild Form an, eine neue Helligkeit erleuchtet diese Erscheinungen in wunderlichem Spiel: es öffnet sich uns die Welt der Geister.
Swedenborg nannte diese Visionen »Memorabilia«; er verdankte sie öfter der Träumerei als dem Schlaf; der »goldene Esel« des Apulejus, die »göttliche Komödie« Dantes, sind die dichterischen Vorbilder dieser Studien über die menschliche Seele. Ich will nach ihrem Beispiel versuchen, die Eindrücke einer langen Krankheit niederzuschreiben, die sich ganz in den Mysterien meines Geistes abgespielt hat; — und ich weiß nicht, warum ich mich des Ausdrucks »Krankheit« bediene, denn niemals habe ich mich, was mich selbst betrifft, wohler gefühlt. Mitunter hielt ich meine Kraft und meine Fähigkeit für verdoppelt. Es schien mir, als wüßte und verstände ich alles, die Einbildungskraft brachte mir unendliche Wonnen. Soll man bedauern sie verloren zu haben, wenn man das, was die Menschen Vernunft nennen, wiedererlangt hat?
Jene »vita nuova« hat für mich zwei Phasen gehabt. Diese Aufzeichnungen beziehen sich auf die erste. — Eine Dame, die ich lange geliebt hatte, und die ich Aurelia nennen werde, war für mich verloren. Die Umstände dieses Ereignisses, das einen so großen Einfluß auf mein Leben haben sollte, sind unwichtig. Jeder kann aus seinen Erinnerungen die herzzerreißendste Gemütsbewegung, den fürchterlichsten Schicksalsschlag der Seele hervorsuchen; man muß sich da entschließen zu sterben oder zu leben; — ich werde später sagen, warum ich nicht den Tod gewählt habe. Die ich liebte, hatte mich verurteilt, ich war eines Vergehens schuldig, für das ich keine Verzeihung mehr erhoffen konnte; so blieb mir nichts übrig, als mich den niedrigen Betäubungen zu ergeben; ich heuchelte Freude und Sorglosigkeit, ich durchkreuzte die Welt und jagte unsinnig hinter Wechsel und Laune her; vor allem gefielen mir die Trachten und absonderlichen Sitten entfernter Völkerschaften. Es war mir, als ob ich so die Vorbedingungen von Gut und Böse verschob, die Ausdrücke sozusagen für das was wir Franzosen »Gefühl« nennen.
»Welche Verrücktheit,« sagte ich mir, »eine Frau, die dich nicht mehr liebt, so platonisch zu lieben! Daran ist meine Lektüre schuld; ich habe die Erfindungen der Dichter ernst genommen, und ich habe mir aus einer gewöhnlichen Persönlichkeit unseres Jahrhunderts eine Laura oder Beatrice gemacht . . . . . . Auf zu andern Abenteuern und dieses wird bald vergessen sein!« — Der Taumel eines fröhlichen Karnevals in einer Stadt Italiens verjagte all meine melancholischen Gedanken. Ich war so glücklich über die Erleichterung, die ich empfand, daß ich all meinen Freunden meine Freude mitteilte, und in meinen Briefen gab ich das als beständigen Geisteszustand aus, was nur fieberhafte Überreizung war.
Eines Tages kam in die Stadt eine Frau von großem Ruf, die mit mir Freundschaft schloß, und da sie gewohnt war zu gefallen und zu blenden, zog sie mich mühelos in den Kreis ihrer Bewunderer. Nach einer Abendgesellschaft, wo sie gleichzeitig natürlich und von einem Reiz erfüllt gewesen war, dessen Einwirkung alle spürten, fühlte ich mich in einer Weise in sie verliebt, daß ich keinen Augenblick zögern wollte an sie zu schreiben. Ich war so glücklich, mein Herz einer neuen Liebe fähig zu fühlen! . . . . . . Ich borgte in dieser künstlichen Begeisterung dieselben Ausdrücke, die so kurze Zeit vorher mir gedient hatten, um eine wahrhafte und lang empfundene Liebe zu schildern. Als der Brief abgesandt war, hätte ich ihn zurückhalten mögen, und ich begann in der Einsamkeit von dem zu träumen, was ich eine Entweihung meiner Erinnerungen nannte.
Der Abend gab meiner neuen Liebe den ganzen Zauber des vorhergehenden Tages wieder. Die Dame zeigte sich empfänglich für das, was ich ihr geschrieben hatte, wobei sie einiges Erstaunen über meine plötzliche Glut erkennen ließ. Ich hatte an einem Tage mehrere Grade der Gefühle übersprungen, die man für eine Frau mit dem Schein der Aufrichtigkeit fassen kann. Sie gestand mir, daß es sie erstaune und zugleich mit Stolz erfülle. Ich versuchte sie zu überzeugen; aber was ich ihr auch immer sagen wollte, ich konnte in der Folge in unsern Unterhaltungen den rechten Ton meines Briefstils nicht mehr wiederfinden, so daß ich gezwungen war ihr mit Tränen zu gestehen, daß ich mich geirrt hätte, indem ich sie täuschte. Meine rührenden Geständnisse hatten immerhin einigen Reiz, und eine in ihrer Milde viel stärkere Freundschaft folgte auf vergebliche Zärtlichkeitsversicherungen.
II.
Später begegnete ich ihr in einer anderen Stadt, wo sich die Dame befand, die ich immer noch ohne Hoffnung liebte. Ein Zufall machte sie miteinander bekannt, und die erste hatte zweifellos Gelegenheit, die, welche mich aus ihrem Herzen verbannt hatte, in Hinsicht auf mich zu rühren, so daß ich sie eines Tages, als ich mich in einer Gesellschaft befand, an der auch sie teilnahm, auf mich zukommen und mir die Hand entgegenstrecken sah. Wie soll ich diesen Schritt und den tiefen traurigen Blick beschreiben, mit dem sie ihren Gruß begleitete? Ich glaubte darin die Verzeihung für die Vergangenheit zu lesen. Der göttliche Ausdruck des Mitleids gab den einfachen Worten, die sie an mich richtete, einen unaussprechlichen Wert, wie wenn sich etwas Religiöses in die Süßigkeiten einer bis dahin profanen Liebe gemischt hätte und ihr den Stempel der Ewigkeit aufdrückte.
Eine gebieterische Pflicht zwang mich nach Paris zurückzukehren, aber ich faßte sogleich den Entschluß, nur wenige Tage dort zu bleiben und zu meinen beiden Freundinnen zurückzueilen. Die Freude und die Ungeduld versetzten mich in eine Art Betäubung, die sich mit der Sorge für die Geschäfte verwickelte, die ich zu beenden hatte. Eines Abends, gegen Mitternacht, ging ich wieder die Vorstadtstraße entlang, wo sich meine Wohnung befand. Als ich zufällig die Augen aufhob, erkannte ich die Nummer des Hauses, die durch einen Gasarm erleuchtet war. Diese Zahl war die meines Alters. Gleich darauf sah ich, als ich den Blick wieder senkte, vor mir eine Frau von fahler Gesichtsfarbe mit hohlen Augen, die mir die Züge von Aurelia zu haben schien. Ich sagte mir: »Ihr, oder mein Tod wird mir angekündigt!« Aber ich weiß nicht, warum ich bei der letzten Annahme stehen blieb und ich erschreckte mich mit der Idee, daß es am folgenden Tag um dieselbe Stunde sein würde.
In dieser Nacht hatte ich einen Traum, der diesen Gedanken in mir befestigte. Ich irrte in einem weitläufigen Gebäude, das aus mehreren Sälen bestand, von denen die einen dem Studium gewidmet waren, während die andern der Unterhaltung oder philosophischen Diskussionen dienten. Ich blieb voll Interesse in einem der ersten stehen, wo ich meine alten Lehrer und Mitschüler zu erkennen glaubte. Die Stunden über die lateinischen und griechischen Schriftsteller nahmen ihren Fortgang mit diesem eintönigen Gemurmel, das ein Gebet zur Göttin Mnemosyne zu sein scheint. Ich ging in einen andern Saal, wo philosophische Vorträge stattfanden. Ich nahm einige Zeit teil daran, dann ging ich hinaus, um mein Zimmer in einer Art Gasthaus mit ungeheuren Treppen zu suchen, das voll war von geschäftigen Reisenden.
Ich verirrte mich mehrere Male in den langen Gängen und als ich eine der Mittelgalerien kreuzte, wurde ich von einem seltsamen Schauspiel überrascht. Ein Wesen von unermeßlicher Größe , ob Mann oder Frau weiß ich nicht, hielt sich mühsam über dem Raum in der Schwebe und schien sich zwischen dem dichten Gewölk zu überschlagen. Da es ihm an Atem und Kraft gebrach, fiel es endlich mitten in den dunkeln Hof, wobei es mit seinen Flügeln am Dach und an den Balustraden bald hängen blieb und bald sich stieß.
Ich konnte es einen Augenblick betrachten. Es war in hochroten Tönen gefärbt und seine Flügel schillerten in tausendfach wechselndem Widerschein. In seinem langen Kleid mit antikem Faltenwurf glich es dem Engel der Melancholie von Albrecht Dürer. Ich konnte mich nicht enthalten, Schreie des Entsetzens auszustoßen, die mich plötzlich aufweckten.
Am folgenden Tag beeilte ich mich, alle meine Freunde aufzusuchen. Ich sagte ihnen in Gedanken Lebewohl und ohne ihnen etwas von dem zu verraten, was meinen Geist beschäftigte, erörterte ich mit Wärme mystische Gegenstände; ich erstaunte sie durch eine besondere Beredsamkeit; es kam mir vor, als wüßte ich alles und als enthüllten sich mir die Geheimnisse der Welt in diesen erhabenen Stunden.
Am Abend als die verhängnisvolle Stunde sich zu nähern schien, sprach ich mit zwei Freunden am Tisch eines Klubs über Malerei und Musik und erklärte von meinem Standpunkt aus die Entstehung der Farben und den Sinn der Zahlen. Einer von ihnen, namens Paul ***, wollte mich nach Hause begleiten, aber ich sagte ihm, daß ich nicht heim ginge. »Wo gehst du hin?« frug er mich. »NACH DEM ORIENT.« Und während er mich begleitete, suchte ich am Himmel nach einem Stern, den ich zu kennen glaubte, wie wenn er einigen Einfluß auf mein Geschick hätte. Nachdem ich ihn gefunden, setzte ich meinen Weg fort und folgte den Straßen, in deren Richtung er sichtbar war. Ich ging sozusagen meinem Geschick entgegen und wollte den Stern beobachten bis zu dem Augenblick, wo der Tod mich treffen würde. Als ich indessen an eine Kreuzung von drei Straßen gelangt war, wollte ich nicht mehr weiter gehen. Es schien mir, als wenn mein Freund eine übermenschliche Kraft entfalte, um mich zu veranlassen, den Platz zu wechseln; er wuchs vor meinen Augen und bekam die Züge eines Apostels. Ich glaubte zu sehen, wie der Ort, wo wir uns befanden, sich erhob und die Form seines städtischen Aussehens verlor. Die Szene verwandelte sich in einen Hügel, den ungeheure Einsamkeit umgab; sie zeigte den Kampf zweier Geister wie eine biblische Versuchung.
»Nein!« sagte ich, »ich gehöre nicht deinem Himmel an. Auf diesem Stern sind die, welche mich erwarten. Sie waren schon vor der Offenbarung, die du angekündigt hast. Laß mich zu ihnen, denn die ich liebe weilt an jenem Ort und dort sollen wir uns wiederfinden.«
III.
Hier hat für mich das begonnen, was ich das Hineinwachsen des Traums in das wirkliche Leben nennen will. Von diesem Moment gewann alles mitunter ein doppeltes Aussehen und zwar ohne daß das Denken jeder Logik entbehrt und das Gedächtnis die geringsten Einzelheiten dessen, was mir widerfuhr, verloren hätte. Nur meine scheinbar sinnlosen Handlungen waren dem unterworfen, was man nach der menschlichen Vernunft »Illusion« nennt.
Der Gedanke ist mir sehr häufig gekommen, daß sich in gewissen ernsten Augenblicken des Lebens ein solcher Geist der äußern Welt plötzlich in der Gestalt einer alltäglichen Person verkörperte und auf uns wirkte oder zu wirken versuchte, ohne daß diese Person Kenntnis davon hatte oder eine Erinnerung daran bewahrte.
Mein Freund hatte mich verlassen als er sah, daß seine Anstrengungen nutzlos waren und hielt mich zweifellos für die Beute irgendeiner fixen Idee, die das Gehen beruhigen würde. Als ich allein war, erhob ich mich mit Anstrengung und machte mich wieder auf den Weg, wobei ich der Richtung des Sternes folgte, auf den ich den Blick unaufhörlich heftete. Ich sang im Gehen eine geheimnisvolle Hymne, deren ich mich aus einem früheren Leben zu entsinnen glaubte und die mich mit unsäglicher Freude erfüllte. Gleichzeitig legte ich meine irdischen Kleider ab und streute sie um mich aus. Der Weg schien stets anzusteigen und der Stern größer zu werden. Dann blieb ich mit ausgebreiteten Armen stehen und erwartete den Augenblick, wo die magnetisch in den Strahl des Sterns gezogene Seele sich vom Körper trennen würde. Da fühlte ich einen Schauer; die Sehnsucht nach der Erde und denen, die ich dort liebte, griff mir ans Herz; ich beschwor innerlich den GEIST, der mich anzog, so inbrünstig, daß es mir schien als sänke ich wieder zu den Menschen zurück; ich geriet unter Soldaten, die die Nachtrunde machten. Da hatte ich die Idee, daß ich sehr groß geworden sei, und daß ich durch eine Flut von elektrischen Kräften alles niederwerfen würde, was sich mir näherte. Es war etwas Komisches in der Sorgfalt, mit der ich meine Kräfte im Zaum hielt und das Leben der Soldaten, die mich aufgehoben hatten, verschonte.
Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß es die Aufgabe eines Schriftstellers ist, aufrichtig zu schildern, was er in den ernsten Lebensumständen empfindet, und wenn ich mir nicht ein Ziel steckte, das ich für nützlich halte, würde ich hier aufhören und nicht versuchen das zu beschreiben, was ich dann in einer Reihe von vielleicht sinnlosen oder gewöhnlichen, krankhaften Visionen empfand.
Ich lag ausgestreckt auf einem Feldbett und glaubte zu sehen, wie der Himmel sich entschleierte und sich in tausend Ausblicken von unerhörten Herrlichkeiten öffnete. Das Schicksal der befreiten Seele schien sich mir zu enthüllen, wie um mir Bedauern darüber einzuflößen, daß ich wieder mit allen Kräften meines Geistes auf der Erde Fuß fassen wollte, die ich zu verlassen im Begriff war. Ungeheure Kreise zeichneten sich in die Unendlichkeit ab wie die Ringe auf dem Wasser, das der Fall eines Körpers beunruhigt; jede Region war von strahlenden Gestalten bevölkert und färbte, bewegte und löste sich abwechselnd auf, und eine sich immer gleiche Gottheit warf lächelnd die heimlichen Masken ihrer verschiedenen Inkarnationen von sich ab und floh endlich unergreifbar in die mystische Helle des Himmels Asiens.
Dieses himmlische Gesicht machte mich durch eines jener Phänomene, die jedermann in gewissen Träumen gefühlt hat, nicht gleichgültig gegen das, was um mich herum vorging. Ich lag auf einem Feldbett und hörte, wie die Soldaten sich um mich herum von einem Unbekannten unterhielten, den man wie mich aufgegriffen hatte, und dessen Stimme in dem gleichen Saal widerhallte. Durch eine sonderbare Vibrationswirkung schien es mir, als ob diese Stimme in meiner Brust mitklänge, und daß meine Seele sich sozusagen verdoppelte, wobei sie sich deutlich zwischen der Vision und der Wirklichkeit teilte. Einen Augenblick hatte ich den Gedanken mich mit Anstrengung nach dem herumzudrehen, von dem die Rede war; dann zitterte ich bei der Erinnerung an eine in Deutschland wohlbekannte Überlieferung, wonach jeder Mensch einen DOPPELGÄNGER hat, und daß, wenn er ihn sieht, sein Tod nahe sei. Ich schloß die Augen und kam in einen verwirrten Geisteszustand, wo die eingebildeten oder wirklichen Gestalten, die mich umgaben, in tausend flüchtige Erscheinungen zerbarsten. Einen Augenblick sah ich nahe bei mir zwei meiner Freunde, die nach mir fragten. Die Soldaten wiesen auf mich; dann öffnete sich die Tür und jemand von meiner Gestalt, dessen Gesicht ich nicht sah, ging mit meinen Freunden hinaus, die ich vergeblich zurückrief: »Aber man irrt sich«! schrie ich, »sie sind gekommen, um mich zu holen und ein anderer geht mit ihnen fort!« — Ich lärmte so, daß man mich in Arrest brachte. Dort blieb ich mehrere Stunden in einer Art Stumpfheit; endlich kamen die beiden Freunde, die ich schon ZU SEHEN GEGLAUBT HATTE und holten mich mit einem Wagen ab. Ich erzählte ihnen alles, was sich ereignet hatte, aber sie leugneten, in der Nacht gekommen zu sein. Ich aß ziemlich ruhig mit ihnen zu Abend, aber je näher die Nacht herankam, desto deutlicher schien es mir, daß ich dieselbe Stunde zu fürchten hätte, die mir am Abend vorher fast verhängnisvoll geworden wäre. Ich verlangte von einem von ihnen einen orientalischen Ring, den er am Finger trug und den ich für einen alten Talisman hielt. Ich knüpfte ihn mit einem seidenen Tuch um den Hals und bemühte mich den Stein, einen Türkisen, auf den Punkt meines Nackens zu drehen, wo ich Schmerzen fühlte. Meiner Ansicht nach war es dieser Punkt, bei dem die Seele zu entfliehen in Gefahr war und zwar in dem Augenblick, wo ein gewisser Strahl des Sterns, den ich am Vorabend gesehen hatte, in Beziehung zu mir mit dem Zenith zusammentreffen würde. Sei es Zufall, sei es die Wirkung meiner starken Voreingenommenheit, ich stürzte zur selben Stunde wie am Vorabend wie vom Blitz getroffen nieder. Man legte mich auf ein Bett und während langer Zeit verlor ich den Sinn und den Zusammenhang der Bilder, die sich vor mir abrollten. Dieser Zustand dauerte mehrere Tage. Ich wurde in eine Heilanstalt verbracht. Viele Verwandte und Freunde besuchten mich, ohne daß ich Kenntnis davon gehabt hätte. Der einzige Unterschied, der für mich zwischen Wachen und Schlafen bestand, war, daß sich während des Wachens alles vor meinen Augen umformte; jede Person, die sich mir näherte, schien verändert, die materiellen Dinge hatten etwas wie einen Halbschatten, der ihre Form umgestaltete, und die Spiele des Lichts, die Verbindungen der Farben lösten sich auf, so daß sie mich in einer beharrlichen Folge von miteinander verbundenen Eindrücken hielten. Dadurch, daß ich träumte, waren sie mehr von den äußeren Elementen befreit und verloren nicht an Wahrscheinlichkeit.
IV.
Eines Abends glaubte ich ganz bestimmt, an die Ufer des Rheins versetzt zu sein. Gegenüber von mir befanden sich finstere Felsen, deren Perspektive sich im Schatten andeutete. Ich trat in ein freundliches Haus, durch dessen weinumwachsene grüne Läden ein Strahl der untergehenden Sonne fiel. Es schien mir, als kehrte ich in eine bekannte Wohnung zurück, nämlich in die eines Onkels mütterlicherseits, eines flämischen Malers, der seit mehr als einem Jahrhundert tot war. Entwürfe zu Bildern waren hie und da aufgehängt, einer davon stellte die berühmte Fee dieses Gestades dar. Eine alte Magd, die ich Margarete nannte und die ich seit der Kindheit zu kennen wähnte, sagte zu mir: »Wollen Sie sich nicht auf das Bett legen? Denn Sie kommen von weit her, und Ihr Onkel wird spät zurückkommen; man wird Sie zum Abendessen wecken.« Ich streckte mich auf einem Bett mit Säulen aus, das mit blauem, groß und rotgeblumtem Tuch drapiert war. Gegenüber von mir hing an der Wand eine bäurische Uhr und darauf saß ein Vogel, der mit mir wie ein Mensch zu reden anhub. Und ich hatte den Gedanken, daß die Seele meines Ahnen in diesem Vogel sei; aber ich war ebensowenig erstaunt über seine Sprache und seine Gestalt als darüber, daß ich mich ein Jahrhundert zurückversetzt sah. Der Vogel sprach zu mir von lebenden oder zu verschiedenen Zeiten verstorbenen Familienmitgliedern, wie wenn sie gleichzeitig existierten und sagte zu mir: »Sie sehen, Ihr Onkel hat Sorge getragen, SEIN Bildnis im voraus zu machen . . . jetzt lebt SIE mit uns.« Ich richtete die Augen auf eine Leinwand, die eine Frau in altdeutscher Tracht darstellte, die sich über das Flußufer beugte und den Blick auf einen Busch Vergißmeinnicht heftete.
Indessen wurde die Nacht immer dichter, und das Aussehen, die Laute und die Stimmung der Orte verwischten sich in meinem schläfrigen Geist; ich glaubte in einen Abgrund zu stürzen, der die Erdkugel durchschnitt. Ich fühlte mich schmerzlos von einem Strom geschmolzenen Metalls fortgetrieben und tausend ähnliche Flüsse, deren Färbungen die chemischen Verschiedenheiten anzeigten, durchfurchten den Schoß der Erde wie die Gefäße und Adern, die sich zwischen den Gehirnlappen schlängeln. Alle strömten, kreisten und zitterten so, und ich hatte das Gefühl, daß diese Flüsse aus lebenden Seelen im Molekularzustand beständen, und daß die Geschwindigkeit dieser Reise allein mich verhinderte ihn zu erkennen. Eine bleiche Helligkeit zog allmählich in diese Kanäle ein und ich sah endlich einen neuen Horizont sich wie eine gewaltige Kuppel erweitern, wo sich Inseln abzeichneten, die von leuchtenden Fluten umgeben waren. Ich befand mich auf einer von diesem sonnelosen Tag erleuchteten Küste, und sah einen Greis, der das Land bestellte. Ich erkannte in ihm denselben, der mit der Stimme des Vogels zu mir geredet hatte, und sei es, daß er mit mir sprach, sei es, daß ich ihn in meinem Innern verstand, es wurde mir klar, daß die Vorfahren die Gestalt gewisser Tiere annehmen, um uns auf der Erde zu besuchen, und daß sie so als stumme Beobachter den Phasen unserer Existenz beiwohnen.
Der Greis verließ seine Arbeit und begleitete mich bis zu seinem Haus, das sich in der Nähe erhob. Die Landschaft, die uns umgab, erinnerte mich an einen Teil von Französisch-Flandern, wo meine Eltern gelebt haben und wo sich ihre Gräber befinden; das von Gebüschen umgebene Feld am Waldrand, der benachbarte See, der Fluß und der Waschplatz, das Dorf mit seiner ansteigenden Straße, der Hügel aus dunkelm Sandstein und die Büschel aus Ginster und Heidekraut, alles das war ein verjüngtes Bild der Orte, die ich geliebt habe. Nur das Haus, in das ich trat, war mir unbekannt. Ich begriff, daß es in ich weiß nicht welcher Zeit bestanden hat und daß in der Welt, die ich eben besuchte, das Gespenst der Dinge das des Körpers begleitete.
Ich trat in einen geräumigen Saal, wo viele Menschen versammelt waren. Überall entdeckte ich bekannte Gesichter. Die Züge der toten Verwandten, die ich beweint hatte, fanden sich in anderen wieder, die mir, in altmodischen Kleidern, denselben väterlichen Empfang bereiteten. Sie schienen zu einer Familientafel vereinigt zu sein. Einer dieser Verwandten kam auf mich zu und umarmte mich zärtlich. Er trug ein altertümliches Gewand, dessen Farben verblichen schienen, und sein lächelndes Antlitz unter den gepuderten Haaren hatte einige Ähnlichkeit mit dem meinen. Er schien mir ausgesprochener lebendig zu sein als die andern und sozusagen in freiwilligerem Rapport mit meinem Geist. Es war mein Onkel. Er hieß mich neben sich sitzen, und eine Art Verbindung stellte sich zwischen uns her; denn ich kann nicht sagen, daß ich seine Stimme gehört hätte; nur in dem Maße, als ich meine Gedanken auf einen Punkt richtete, wurde mir sogleich seine Bedeutung klar, und die Bilder wurden vor meinen Augen so bestimmt wie belebte Gemälde.
»Es ist also wahr,« sagte ich mit Entzücken, »wir sind unsterblich und behalten hier die Bilder der Welt, die wir bewohnt haben. Welch ein Glück zu denken, daß alles was wir geliebt haben, immer um uns herum bestehen wird! Ich war des Lebens recht müde!« . . .
»Freue dich nicht zu früh,« sagte er, »denn du gehörst noch der oberen Welt an, und du hast noch rauhe Prüfungsjahre zu bestehen. Der Aufenthalt, der dich entzückt, hat selbst seine Schmerzen, Kämpfe und Gefahren! Die Erde, die wir bewohnt haben, ist stets der Schauplatz, wo sich unsere Geschicke knüpfen und lösen; wir sind die Strahlen des zentralen Feuers, das sie belebt und das sich schon abgeschwächt hat« . . . . — »Ach was!« sagte ich, »die Erde könnte sterben und wir würden von dem Nichts verschlungen?« — »Das Nichts«, sagte er, »besteht nicht in dem Sinn wie man es meint; aber die Erde ist selbst ein materieller Körper, dessen geistiger Extrakt die Seele ist. Die Materie kann nicht mehr zugrund gehen als der Geist, aber sie kann sich verändern nach dem Guten und nach dem Bösen. Unsre Vergangenheit und unsre Zukunft sind eins. Wir leben in unsrer Rasse und unsre Rasse lebt in uns.«
Dieser Gedanke leuchtete mir sogleich ein, und wie wenn sich die Mauern des Saales auf unendliche Perspektiven geöffnet hätten, schien es mir als sähe ich eine ununterbrochene Kette von Männern und Frauen, in denen ich enthalten war und die ich selbst waren. Die Trachten aller Völker, die Bilder aller Länder erschienen gleichzeitig deutlich, wie wenn sich meine Beobachtungsfähigkeiten vervielfacht hätten, ohne sich zu verwirren; dies geschah durch ein Wunder des Raums gleich dem der Zeit, das ein Jahrhundert voll Taten in eine Traumminute zusammenpreßt. Mein Befremden wuchs als ich sah, daß diese ungeheure Menge nur aus Personen bestand, die sich im Saal befanden und deren Bilder sich vor meinen Augen in tausend flüchtigen Erscheinungen getrennt und verbunden hatten.
»Wir sind sieben«, sagte ich zu meinem Onkel.
»Das ist tatsächlich«, sagte er, »die typische Zahl jeder menschlichen Familie und im Falle der Ausdehnung sieben mal sieben oder mehr.«
Ich kann nicht hoffen, diese Antwort verständlich zu machen, die für mich selbst sehr dunkel geblieben ist. Die Metaphysik versorgte mich nicht mit Ausdrücken für die Beobachtung, die von den Beziehungen dieser Personenzahl zur allgemeinen Harmonie herrührte. Man begreift wohl im Vater und der Mutter die Analogie der elektrischen Naturkräfte, aber wie soll man die individuellen Zentren feststellen, die sie ausströmen, wovon sie ausströmen wie eine animische Gesamtfigur, deren Zusammensetzung gleichzeitig mannigfaltig und begrenzt wäre? Geradesogut könnte man von der Blume Rechenschaft fordern für die Zahl ihrer Blütenblätter oder für die Einteilung ihrer Krone, . . . . von der Erde für die Formen, die sie bildet, von der Sonne für die Farben, die sie schafft.
V.
Alles um mich herum wechselte seine Gestalt. Der Geist, mit dem ich mich unterhielt, hatte nicht mehr dasselbe Aussehen. Es war ein junger Mann, der von nun an mehr von mir die Gedanken erhielt, als daß er sie mir mitteilte . . . War ich zu weit in jene Höhen gestiegen, wo einen der Schwindel erfaßt ? Ich glaubte zu verstehen, daß solche Fragen dunkel oder gefährlich seien selbst für die Geister der Welt, die ich damals wahrnahm. Vielleicht untersagte mir auch eine höhere Macht die Nachforschungen. Ich sah mich in den Straßen einer stark bevölkerten, unbekannten Stadt umherirren. Ich bemerkte, daß sie von hügeligen Rücken durchzogen und von einem ganz mit Wohnstätten bedeckten Berg beherrscht war. Zwischen dem Volk dieser Hauptstadt unterschied ich gewisse Menschen, die einer besonderen Nation anzugehören schienen; ihre lebhaften, entschlossenen Mienen, der energische Ausdruck ihrer Züge veranlaßten mich, an die unabhängigen und kriegerischen Gebirgs- oder Inselvölker zu denken, die wenig von Fremden besucht werden; indessen war es mitten in einer großen Stadt, mit einer gemischten und gewöhnlichen Bevölkerung, wo sie ihre wilde Eigenart aufrecht zu erhalten wußten. Wer waren denn diese Menschen? Mein Führer ließ mich abschüssige und lärmvolle Straßen erklimmen, die von den verschiedenartigen Geräuschen der Tätigkeit widerhallten. Wir stiegen noch lange Reihen von Treppen empor, hinter welchen sich die Aussicht erschloß.
Hie und da sah man mit Gitterwerk bekleidete Terrassen, kleine, in geebneten Zwischenräumen angelegte Gärtchen, Dächer, leicht gebaute Pavillons, die mit launiger Geduld bemalt und ausgehauen waren; Fernsichten, die durch lange Streifen von kletterndem Grün miteinander verbunden waren, verführten das Auge und erfreuten den Geist wie der Anblick einer köstlichen Oase einer unbekannten Einsamkeit oberhalb der Wirrnis jener von unten kommenden Geräusche, die hier nur mehr ein Gemurmel waren. Man hat oft von geächteten Völkern gesprochen, die im Schatten der Totenstädte und der Grüfte leben. Hier war zweifellos das Gegenteil der Fall. Ein glückliches Geschlecht hatte sich diesen Zufluchtsort geschaffen, den Vögel, Blumen, reine Luft und Helle liebten. »Das sind«, sagte mir mein Führer, »die alten Bewohner dieser Berge, die die Stadt beherrschen, in der wir eben weilen. Lange haben sie hier gelebt, hatten einfache Sitten, liebten sich und waren gerecht und behielten die natürlichen Tugenden der ersten Erdentage. Das benachbarte Volk ehrte sie und richtete sich nach ihnen.«
Von dem Punkt, wo ich mich eben befand, stieg ich meinem Führer folgend hinunter und gelangte in eine dieser hohen Behausungen, deren vereinte Dächer einen so sonderbaren Anblick boten. Es schien mir, als ob meine Füße sich in die aufeinanderfolgenden Schichten der Gebäude verschiedener Zeitalter eingrüben. Diese Gespenster der Bauten deckten immer wieder andere auf, wo sich der eigentümliche Geschmack jedes Jahrhunderts zeigte und das war wie der Anblick von Nachgrabungen, die man in den antiken Städten vornimmt, außer daß alles luftig, lebendig und von tausend Lichtern durchspielt war.
Endlich befand ich mich in einem geräumigen Zimmer, wo ich einen Greis vor einem Tisch mit ich weiß nicht was für einem Handwerk beschäftigt sah. Im Augenblick, als ich die Tür durchschritt, bedrohte mich ein weißgekleideter Mann, dessen Gesicht ich schlecht unterschied, mit einer Waffe, die er in der Hand hielt; aber der, welcher mich geleitete, machte ihm ein Zeichen sich zu entfernen. Es schien, als wolle man mich verhindern, das Geheimnis dieser Abgeschiedenheit zu durchdringen. Ohne meinen Führer zu fragen, begriff ich intuitiv, daß diese Höhen und gleichzeitig diese Tiefen der Zufluchtsort der primitiven Bergbewohner waren. Sie trotzten stets der überschwemmenden Flut der Rassenanhäufung und lebten hier einfach von Sitten, liebend und gerecht, geschickt, stark und erfinderisch, — und als friedfertige Besieger der blinden Massen, die so oft ihr Erbteil überfallen hatten.
Wie? weder verderbt, noch vernichtet, noch Sklaven, rein, obwohl sie die Unwissenheit besiegt haben, im Wohlstand von den Tugenden der Armut erfüllt! — Ein Kind ergötzte sich am Boden mit Kristallen, Muscheln und gravierten Steinen und machte zweifellos aus dem Studium ein Spiel. Eine bejahrte aber noch schöne Frau beschäftigte sich mit den Sorgen des Haushalts. In diesem Augenblick traten mehrere junge Leute lärmend ein, als ob sie von ihren Arbeiten heimkehrten. Ich war erstaunt, sie alle in Weiß gekleidet zu sehen; aber das war, wie es scheint, nur eine Täuschung meiner Augen. Um mir das klar zu machen, begann mein Führer ihre Kleidung als lebhaft farbig zu beschreiben, wobei er mir zu verstehen gab, daß sie in Wirklichkeit so wäre. Das Weiß, das mich befremdete, kam vielleicht von einem besonderen Glanz, von einem Lichterspiel, wobei sich die gewöhnlichen Farben des Prismas vermischten.
Ich ging aus dem Zimmer und befand mich auf einer in einen Ziergarten verwandelten Terrasse. Hier gingen junge Mädchen und Kinder spazieren und spielten. Ihre Kleider erschienen mir weiß wie die andern, aber sie waren mit rosa Stickereien verziert. Diese Geschöpfe waren so schön, ihre Züge so lieblich und der Glanz ihrer Seele leuchtete so lebhaft durch ihre zarten Formen, daß sie alle eine Art Liebe ohne Bevorzugung und ohne Begierde einflößten, die den ganzen Taumel der grenzenlosen Jugendleidenschaften zusammenfaßte.
Ich kann das Gefühl nicht wiedergeben, das ich inmitten dieser entzückenden Wesen empfand, die mir teuer waren, ohne daß ich sie kannte. Es war wie eine primitive und himmlische Familie, deren lächelnde Augen die meinen mit sanfter Teilnahme suchten; ich fing an heiße Tränen zu weinen, wie in Erinnerung an ein verlorenes Paradies. Da fühlte ich bitter, daß ich nur Reisender in dieser zugleich fremden und geliebten Welt war, und ich zitterte bei dem Gedanken, daß ich ins Leben zurückkehren müsse. Umsonst drängten sich die Frauen und Kinder um mich wie um mich zurückzuhalten. Schon verschmolzen ihre hinreißenden Formen in wirren Nebeln; diese schönen Gesichter erbleichten, diese bestimmten Züge, diese schimmernden Augen verloren sich in einem Schatten, wo noch der letzte Strahl des Lächelns leuchtete . . . . . .
So war diese Vision oder so waren wenigstens die Haupteinzelheiten, die ich in Erinnerung behalten habe. Der kataleptische Zustand, in dem ich mich mehrere Tage lang befunden hatte, wurde mir wissenschaftlich erklärt und die Berichte derer, die mich so gesehen hatten, versetzten mich in eine Art Gereiztheit als ich sah, daß man der Geistesverirrung die Bewegungen und Worte zuschrieb, die für mich mit den verschiedenen Phasen einer logischen Kette von Ereignissen zusammenfielen. Ich liebte mehr die meiner Freunde, die aus geduldiger Gefälligkeit oder in Folge ähnlicher Gedanken mich zu langen Erzählungen der Dinge veranlaßten, die ich im Geist gesehen hatte. Einer von ihnen sagte weinend zu mir: »Nicht wahr, es gibt einen Gott?« — »Ja«, sagte ich voll Begeisterung zu ihm. Und wir umarmten uns wie zwei Brüder dieses mystischen Vaterlandes, das ich geschaut hatte. Welches Glück fand ich zuerst in dieser Überzeugung! So war der ewige Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele, der die besten Geister angreift, für mich entschieden. Kein Tod mehr, keine Traurigkeit, keine Unruhe! Die, welche ich liebte, Eltern, Freunde gaben mir sichere Zeichen ihres ewigen Lebens, und ich war von ihnen nur noch durch die Stunden des Tages getrennt. Die der Nacht erwartete ich in einer sanften Schwermut.
VI.
EIN Traum, den ich außerdem hatte, bestärkte mich in diesem Gedanken. Ich befand mich plötzlich in einem Saal, der zu der Wohnung meines Ahnen gehörte. Der Raum schien sich nur vergrößert zu haben. Die alten Möbel strahlten in wunderbarem Glanz, die Teppiche und die Vorhänge waren wie neu hergestellt, ein Tageslicht, dreimal leuchtender als der natürliche Tag, drang durch Fenster und Tür und in der Luft lag eine Frische und ein Duft wie an einem ersten lauen Frühlingsmorgen. Drei Frauen arbeiteten in diesem Zimmer und stellten ohne ihnen genau zu gleichen Verwandte und Freundinnen meiner Jugend vor. Es schien mir, als wenn jede von ihnen die Züge von mehreren dieser Personen in sich vereinte. Die Umrisse ihrer Gestalten wechselten wie die Flamme einer Lampe und jeden Augenblick ging etwas von der einen in die andere über; das Lächeln, die Stimme, die Farbe der Augen, des Haars, die Gestalt, die vertrauten Bewegungen vertauschten sich wie wenn sie dasselbe Leben gelebt hätten, und jede war so eine Zusammensetzung von allen, gleich jenen Typen, die die Maler nach mehreren Modellen bilden, um eine vollendete Schönheit darzustellen.
Die älteste sprach zu mir mit zitternder, melodischer Stimme, die mir aus meiner Jugend bekannt vorkam, und ich weiß nicht, was sie zu mir sagte, was mich durch seine tiefe Richtigkeit verblüffte. Aber sie lenkte meine Gedanken auf mich selbst, und ich sah mich in einen kleinen, braunen Anzug von altertümlichem Schnitt gekleidet, der ganz mit der Nadel gewirkt war und dessen Fäden so fein waren wie Spinneweben. Er war gefällig, zierlich und mit süßen Düften getränkt. Ich fühlte mich ganz verjüngt und ganz geputzt in diesem Kleidungsstück, das aus ihren Feenhänden hervorging und ich dankte ihnen errötend, wie wenn ich noch ein kleines Kind gewesen wäre, das vor großen, schönen Damen steht. Da stand eine von ihnen auf und wand sich nach dem Garten.
Jeder weiß, daß man in Träumen nie die Sonne sieht, obwohl man oft die Überzeugung einer viel intensiveren Helligkeit hat. Die Gegenstände und die Körper leuchten aus sich selbst. Ich sah mich in einem kleinen Park, wo sich die Spaliere zu Bogenlauben formten, die mit schweren schwarzen und weißen Weintrauben behängt waren; in dem Maße, als die Dame, welche mich führte, unter diesem Laubengang vorwärts ging, veränderte der Schatten der gekreuzten Gitter für meine Augen seine Formen und seine Umhüllung. Sie kam endlich darunter hervor und wir befanden uns in einem offenen Raum. Darin bemerkte man kaum noch die Spur alter Wandelgänge, die ihn früher kreuzweise durchschnitten hatten. Die Pflege war seit langen Jahren vernachlässigt und verstreute Setzlinge von Klematis, Hopfen, Geißblatt, Jasmin, Efeu und Osterluzei verbreiteten zwischen den kräftig gewachsenen Bäumen ihre langen lianenartigen Schlingen. Zweige neigten sich mit Früchten beladen bis zur Erde und zwischen schmarotzerhaft wuchernden Grasbündeln waren einige Gartenblumen aufgeblüht, die in den Zustand der Verwilderung zurückgefallen waren. Hie und da erhoben sich dichte Gruppen von Pappeln, Akazien und Fichten, aus deren Innern man altersgeschwärzte Statuen hervorschauen sah. Ich bemerkte vor mir eine Anhäufung von Felsen, die mit Efeu bewachsen waren, aus denen ein lebhafter Quell entsprang, dessen harmonisches Geplätscher in einem Bassin von stehendem Wasser widerhallte, das mit breiten Seerosenblättern halb verschleiert war.
Die Dame, der ich folgte, enthüllte ihre schlanke Gestalt mit einer Bewegung, welche die Falten ihres schillernden Taftkleides schimmern ließ, und umfaßte graziös mit ihrem nackten Arm den langen Stengel einer Stockrose; dann fing sie unter einem klaren Lichtschein zu wachsen an, so daß nach und nach der Garten ihre Gestalt annahm, und die Blumenbeete und Bäume, die Rosetten und Girlanden ihre Kleider wurden, während ihre Gestalt und ihre Arme ihre Umrisse den purpurnen Himmelswolken ausprägten. So verlor ich sie in dem Maß, wie sie sich verwandelte, aus den Augen, denn sie schien sich in ihrer eigenen Größe zu verflüchtigen. »O, fliehe nicht,« rief ich aus, »denn die Natur stirbt mit dir!«
Als ich diese Worte sprach, schritt ich mühselig zwischen den Dornen, wie um den vergrößerten Schatten, der mir entschlüpft war, zu ergreifen; aber ich stieß an eine beschädigte Mauerecke, an deren Fuß die Büste einer Frau lag; als ich sie aufhob, hatte ich die Überzeugung, daß es die ihre sei . . . Ich erkannte die geliebten Züge wieder und als ich die Augen herumschweifen ließ, merkte ich, daß der Garten jetzt wie ein Friedhof aussah. Stimmen sagten: »Das Weltall ist in der Nacht!«
VII.
Nach diesem Traum, der anfangs so glücklich war, bemächtigte sich meiner eine große Bestürzung. Was bedeutete er? Ich wußte es erst später, Aurelia war tot.
Zuerst bekam ich nur die Nachricht von ihrer Krankheit. Als Folge meines Geisteszustands empfand ich nur einen unbestimmten, mit Hoffnung gemischten Kummer. Ich glaubte, daß ich selbst nur noch kurze Zeit zu leben hätte und war von nun an des Vorhandenseins einer Welt sicher, wo die liebenden Herzen sich wiederfinden. Übrigens gehörte sie mir im Tode viel mehr als im Leben . . . ein selbstsüchtiger Gedanke, den mein Verstand später mit bitterer Reue bezahlen mußte.
Ich möchte nicht zu sehr auf Ahnungen bauen; der Zufall macht sonderbare Sachen; aber ich war damals stark von einer Erinnerung an unsre so rasche Vereinigung beschäftigt. Ich hatte ihr einen Ring von alter Arbeit gegeben, dessen Stein ein herzförmig geschnittener Opal bildete. Da dieser Ring für ihren Finger zu groß war, hatte ich die verhängnisvolle Idee gehabt, ihn durchschneiden zu lassen, um den Reif zu verkleinern. Ich verstand meinen Fehler erst, als ich das Geräusch der Säge hörte. Es schien mir, als sähe ich Blut fließen . . . . .
Sorgfalt und Kunst hatten mir die Gesundheit wiedergegeben, ohne noch in meinen Geist den regelmäßigen Gang der menschlichen Vernunft zurückgeführt zu haben. Das Haus, in dem ich mich befand, lag auf einer Anhöhe und hatte einen weitläufigen mit kostbaren Bäumen bepflanzten Garten. Die reine Luft des Hügels, auf dem es lag, der erste Hauch des Frühlings, die Annehmlichkeit einer durchaus sympathischen Gesellschaft verschafften mir lange Tage der Ruhe.
Die ersten Blätter der Sykomoren entzückten mich durch die Lebhaftigkeit ihrer Farben, die dem Federbusch eines Pharaohahns glichen. Die Aussicht, die sich über die Ebene erstreckte, zeigte vom Morgen bis zum Abend entzückende Horizonte, deren abgestufte Farbentöne meine Einbildungskraft erfreuten. Ich bevölkerte die Abhänge und die Wolken mit göttlichen Gestalten, deren Umrisse ich deutlich zu sehen meinte. Ich wollte meine Lieblingsgedanken besser festhalten und bedeckte bald mit Hilfe von Kohle- und Ziegelstückchen, die ich auflas, die Mauern mit einer Serie von Fresken, wo sich meine Eindrücke verwirklichten. Eine Gestalt herrschte immer vor: die Aurelias, die mit den Zügen einer Göttlichkeit gemalt war, so wie sie mir im Traum erschienen war. Unter ihren Füßen drehte sich ein Rad und die Götter bildeten ihren Zug. Es gelang mir, diese Gruppe zu kolorieren, indem ich den Saft der Gräser und Blumen auspreßte. Wie oft habe ich vor diesem geliebten Idol geträumt. Ich tat noch mehr; ich versuchte den Körper derer, die ich liebte, aus Erde nachzubilden; jeden Morgen mußte ich meine Arbeit wieder machen, denn die Verrückten, die eifersüchtig auf mein Glück waren, gefielen sich darin, sein Bild zu zerstören.
Man gab mir Papier und lange Zeit hindurch befleißigte ich mich durch tausend Figuren, die von Erzählungen, von Versen und Inschriften in allen bekannten Sprachen begleitet waren, eine Art Weltgeschichte darzustellen, die mit Erinnerungen an Studien und mit Bruchstücken von Träumen vermischt war, die durch meinen Geisteszustand intensiver oder verlängert erschienen. Ich blieb nicht bei den modernen Überlieferungen der Schöpfung stehen. Mein Gedanke stieg darüber hinaus. Ich sah wie in einer Erinnerung den ersten Bund, der von Genien mit Hilfe von Talismanen geschlossen wurde. Ich hatte versucht, die Steine der heiligen Tafelrunde zusammenzustellen, und um sie herum die sieben ersten Elohim darzustellen, die sich in die Welt geteilt haben.
Dieses System der Geschichte, die ich den orientalischen Überlieferungen entnahm, fing mit der glücklichen Einigung der »Naturmächte« an, die das Weltall gestalteten und organisierten. Während der Nacht, die meiner Arbeit voranging, glaubte ich mich auf einen dunkeln Planeten versetzt, wo die ersten Keime der Schöpfung umherschwirrten. Aus dem Schoß des noch weichen Tons erhoben sich riesenhafte Palmbäume, giftige Euphorbien und um Kakteen gewundene Akanthusstauden; die ausgetrockneten Formen der Felsen stürzten hervor wie Skelette dieses Schöpfungsentwurfs und scheußliche Reptilien schlängelten sich, machten sich breit oder rundeten sich mitten in diesem unentwirrbaren Netz einer wilden Vegetation. Das bleiche Sternenlicht erhellte allein die bläulichen Perspektiven dieses seltsamen Horizonts; in dem Maß jedoch, als diese Schöpfungen Form gewannen, zog ein hellerer Stern aus ihnen die Keime des Lichts.
VIII.
Dann veränderten die Ungeheuer ihre Gestalt, streiften ihre erste Haut ab und richteten sich mit ihren riesenhaften Tatzen mächtiger auf; die ungeheure Masse ihrer Körper zerbrach die Zweige und zerstörte das Gras und in der Unordnung der Natur lieferten sie Schlachten, an denen ich selbst teilnahm, denn ich hatte einen ebenso sonderbaren Körper wie sie selbst. Plötzlich tönte eine seltsame Harmonie in unsere Einsamkeit und es schien als ob das verwirrte Schreien, Heulen und Pfeifen der primitiven Wesen hinfort in diese göttliche Weise überginge. Die Variationen folgten einander ins Unendliche, der Planet erhellte sich allmählich, göttliche Formen zeichneten sich auf dem Grün und in den Tiefen der Gebüsche ab, und die nun zahmen Ungeheuer, die ich gesehen hatte, warfen ihre sonderbaren Formen von sich und wurden Männer und Frauen; andere bekleideten sich in ihren Verwandlungen wieder mit den Gestalten von wilden Tieren, Fischen und Vögeln.
Wer hatte wohl dieses Wunder vollbracht? Eine strahlende Göttin führte in diese neuen »Avatars« die rasche Entwicklung der Menschheit. Es wurde jetzt eine Unterscheidung der Rassen eingeführt, die von der Ordnung der Vögel ausging und auch die Vierfüßler, die Fische und die Reptilien mitinbegriff: das waren die Devas, die Peris, die Undinen und die Salamander; jedesmal wenn eines dieser Wesen starb erstand es sogleich wieder unter schönerer Form und sang den Ruhm der Götter. Indessen hatte einer der Elohim den Gedanken, ein fünftes Geschlecht zu gründen, das sich aus den Elementen der Erde zusammensetzen sollte, das man Afriten nannte. Das war das Zeichen zu einer vollständigen Umwälzung unter den Geistern, die die neuen Weltbesitzer nicht anerkennen wollten. Ich weiß nicht, wieviel tausend Jahre diese Kämpfe dauerten, die den Erdball mit Blut überschwemmten. Drei der Elohim wurden schließlich mit den Geistern ihrer Geschlechter nach dem Süden der Erde verbannt, wo sie ungeheure Reiche gründeten. Sie hatten die Geheimnisse der göttlichen Kabbala, die die Welten verbindet, mit sich genommen und nahmen ihre Kraft aus der Anbetung gewisser Gestirne, mit denen sie stets in Verbindung stehen. Diese Nekromanten, die an die äußersten Grenzen der Erde verbannt wurden, hatten sich verständigt, um einander die Macht zu übertragen. Jeder ihrer Herrscher war von Frauen und Sklaven umgeben und hatte sich der Macht versichert, unter der Gestalt seiner Kinder wiedergeboren zu werden. Ihr Leben währte tausend Jahre. Mächtige Kabbalisten schlossen sie beim Herannahen ihres Todes in wohlbewachte Grabstätten ein, wo sie mit Elixieren und lebenerhaltenden Stoffen ernährt wurden. Lange noch behielten sie den Anschein des Lebens, dann schliefen sie vierzig Tage wie die Schmetterlingspuppe, die ihren Kokon spinnt, und dann erstanden sie wieder unter der Gestalt eines kleinen Kindes, das später in das Reich berufen wurde. Indessen erschöpften sich die lebenspendenden Kräfte der Erde beim Ernähren dieser Familien, deren immer gleiches Blut neue Nachkommen gebar. In weiten unterirdischen Gewölben, die unter Totengrüften und Pyramiden ausgehöhlt waren, hatten sie alle Schätze der vergangenen Geschlechter aufgehäuft und gewisse Talismane, die sie gegen den Zorn der Götter schützten, versteckt.
Im Innern Afrikas, jenseits des Mondgebirges und des alten Äthiopien fanden diese seltsamen Mysterien statt. Lange hatte ich mit einem Teil des Menschengeschlechts in der Gefangenschaft geseufzt. Die Gesträuche, die ich so grün gesehen, trugen nur mehr bleiche Blüten und welke Blätter. Eine unerbittliche Sonne fraß diese Gegenden, und die schwächlichen Kinder dieser ewigen Dynastien schienen von der Bürde des Lebens niedergedrückt zu sein. Diese erhabene und einförmige Größe, die durch die Etikette und hieratische Gebräuche geregelt war, drückte alle, ohne daß jemand gewagt hätte, sich ihr zu entziehen. Die Greise schmachteten unter dem Gewicht ihrer Kronen und ihrer kaiserlichen Schmuckstücke zwischen Ärzten und Priestern, deren Willen ihnen die Unsterblichkeit sicherte. Was das Volk betrifft, das für immer in Kasten eingezwängt war, so konnte es weder auf das Leben noch auf die Freiheit zählen. Am Fuße der vom Tod getroffenen, unfruchtbaren Bäume, an den versiegten Quellen, sah man auf dem verbrannten Gras Kinder und junge, entnervte und farblose Frauen dahinsiechen. Die Pracht der königlichen Gemächer, die Majestät der Säulenhallen, der Glanz der Kleider und des Schmucks waren nur ein schwacher Trost für die ewige Langweile dieser Einsamkeit. Bald wurden die Völker durch Krankheiten dezimiert, die Tiere und Pflanzen starben, und die Unsterblichen selbst verfielen unter ihren prächtigen Gewändern. Eine Geißel, die größer war als alle andern, kam plötzlich und verjüngte und rettete die Welt. Das Sternbild des Orion eröffnete am Himmel die Katarakte der Gewässer; die Erde, die vom Eise des entgegengesetzten Pols zu stark belastet war, machte eine halbe Drehung um sich selbst, und die Meere, die die Gestade überstiegen, überfluteten die Hochebenen Afrikas und Asiens; die Überschwemmung durchdrang den Sand, erfüllte die Gräber und die Pyramiden und vierzig Tage lang schwamm eine geheimnisvolle Arche auf den Meeren und trug die Hoffnung einer neuen Schöpfung.
Drei der Elohim hatten sich auf den höchsten Gipfel der afrikanischen Berge geflüchtet. Unter ihnen wurde ein Kampf ausgefochten. Hier verwirrt sich mein Gedächtnis und ich weiß nicht, was das Ergebnis dieses erhabenen Streites war. Nur sehe ich noch aufrecht auf einem von Wasser umspülten Gipfel ein von ihnen verlassenes Weib, das mit aufgelöstem Haar schreit und sich gegen den Tod wehrt. Ihre Klagerufe übertönten den Lärm der Wasser . . . . Wurde sie gerettet? Ich weiß es nicht. Die Götter, ihre Brüder, hatten sie verdammt, aber über ihrem Haupt glänzte der Abendstern, der seine Flammenstrahlen über ihre Stirn ergoß.
Die unterbrochene Hymne der Erde und der Himmel hallte harmonisch wieder, um die Eintracht der neuen Geschlechter zu weihen. Und während die Söhne Noahs mühsam unter den Strahlen einer neuen Sonne arbeiteten, bewachten die in ihren unterirdischen Gewölben kauernden Nekromanten immer noch ihre Schätze und gefielen sich in dem Schweigen der Nacht. Hie und da kamen sie schüchtern aus ihren Zufluchtsstätten und erschreckten die Lebenden oder verbreiteten unter den Bösen die verderblichen Lehren ihres Wissens.
Das sind die Erinnerungen, die ich in einer Art unklarer Intuition der Vergangenheit schilderte: ich schauderte, indem ich die scheußlichen Züge dieser verfluchten Geschlechter darstellte. Überall starb, weinte oder seufzte das Leidensbild der »Ewigen Mutter«. Quer durch die wirren Zivilisationen Asiens und Afrikas sah man eine blutige Szene von Orgien und Gemetzel sich stets wiederholen, die von denselben Geistern in immer neuen Formen hervorgebracht wurden.
Die letzte fand in Granada statt, wo der geheiligte Talisman unter den feindlichen Körpern der Christen und der Mauren zertrümmert wurde. Wieviel Jahre wird die Welt noch zu leiden haben, denn die Rache dieser ewigen Feinde muß sich unter andern Himmeln erneuern! Das sind die abgeteilten Stücke der Schlange, die den Erdkreis umgibt . . . . . Das Eisen hat sie getrennt und sie vereinigen sich in einem scheußlichen, mit Menschenblut verklebten Kuß.
IX.
So waren die Bilder, die sich der Reihe nach vor meinen Augen zeigten. Nach und nach war wieder Ruhe über meinen Geist gekommen und ich verließ diese Wohnstätte, die für mich ein Paradies war; verhängnisvolle Umstände bereiteten lange nachher einen Rückfall vor, der an die unterbrochene Reihenfolge dieser seltsamen Träume wieder anknüpfte.
Ich ging auf dem Land spazieren mit einer Arbeit beschäftigt, die sich auf religiöse Gedanken bezog. Als ich an einem Haus vorüberging, hörte ich einen Vogel, der einige Worte nachsprach, die man ihn gelehrt hatte, aber sein verwirrtes Geschwätz schien mir einen Sinn zu haben; er erinnerte mich an den Vogel der Vision, die ich weiter oben erzählt habe, und ich fühlte einen Schauder von übler Vorbedeutung. Einige Schritte weiter begegnete ich einem Freund, den ich lange nicht gesehen hatte, und der in einem Nachbarhause wohnte. Er wollte mich sein Besitztum sehen lassen und bei diesem Besuch führte er mich auf eine erhöhte Terrasse, von wo aus sich ein weiter Ausblick eröffnete. Es war bei Sonnenuntergang. Als ich eine ländliche Treppe hinunterstieg, machte ich einen Fehltritt und stieß mit der Brust an die Kante eines Möbels. Ich hatte Kraft genug aufzustehen und bis in die Mitte des Gartens zu stürzen; ich glaubte ich sei zu Tode getroffen und wollte vor dem Sterben einen letzten Blick auf die untergehende Sonne werfen. Mitten in dem Bedauern, das ein solcher Augenblick mit sich bringt, fühlte ich mich glücklich so zu sterben, zu dieser Stunde, inmitten der Bäume, der Traubengeländer und der Herbstblumen. Es war indessen nur eine Ohnmacht, nach welcher ich noch die Kraft fand meine Wohnung zu erreichen und zu Bett zu gehen. Fieber ergriff mich; als ich mich besonnen hatte, von welcher Stelle ich gefallen war, erinnerte ich mich, daß die Aussicht, die ich bewundert hatte, auf einen Friedhof ging und zwar auf denselben, auf dem sich das Grab Aurelias befand. Ich dachte wirklich erst jetzt daran, sonst könnte ich meinen Fall dem Eindruck zuschreiben, den dieser Anblick in mir hätte hervorrufen können. Gerade das brachte mich auf den Gedanken an ein bestimmteres Verhängnis. Um so mehr bedauerte ich, daß der Tod mich nicht mit ihr vereint hatte. Dann, als ich darüber nachdachte, sagte ich mir, daß ich dessen nicht würdig sei. Ich stellte mir verbittert das Leben vor, das ich seit ihrem Tod geführt hatte, und warf mir vor, nicht etwa sie vergessen zu haben, was nicht geschehen war, sondern daß ich durch leichte Liebschaften ihr Andenken geschändet hatte. Mir kam der Gedanke, den Schlaf zu befragen. Aber IHR Bild, das mir oft erschienen war, kehrte in meinen Träumen nicht wieder. Ich hatte zuerst nur verwirrte, mit blutigen Szenen vermischte Träume. Es schien als ob ein ganzes unglückseliges Geschlecht inmitten der idealen Welt entfesselt wäre, die ich früher erblickt hatte und deren Königin sie war.
Derselbe Geist, der mich bedroht hatte, als ich in die Wohnung dieser reinen Familie trat, die die Höhen der »geheimnisvollen Stadt« bewohnten, glitt vor mir her und zwar nicht mehr in dem weißen Gewand, das er ehemals so wie die andern seiner Rasse trug, sondern gekleidet wie ein orientalischer Prinz. Ich stürzte auf ihn zu und bedrohte ihn, aber er wand sich ruhig zu mir. Welches Entsetzen! Welche Wut! es war MEIN Gesicht, es war meine ganze idealisierte und vergrößerte Gestalt . . . Da erinnerte ich mich des Menschen, der in derselben Nacht wie ich arretiert worden war und den man wie ich dachte unter meinem Namen von der Wache fortgeführt hatte, als meine zwei Freunde gekommen waren, um mich zu holen. Er trug in der Hand eine Waffe, deren Form ich schlecht unterschied, und einer von denen, die ihn begleiteten, sagte: »Damit hat er ihn getroffen!«
Ich weiß nicht, wie ich auseinandersetzen soll, daß in meinen Gedanken die irdischen Ereignisse mit denen der übernatürlichen Welt zusammenfallen konnten; das ist leichter zu fühlen als klar auszudrücken.* Aber wer war wohl dieser Geist, der ICH war und der auch AUSSER MIR war? War er der Doppelgänger der Legenden oder der mystische Bruder, den die Orientalen »Ferwer« nennen?
War ich nicht überrascht gewesen von der Geschichte jenes Ritters, der eine ganze Nacht in einem Wald gegen einen Unbekannten kämpfte, der er selbst war? Wie dem auch sei, ich glaube, daß die menschliche Einbildungskraft nichts erfunden hat, was nicht in dieser oder einer andern Welt wahr ist, und ich konnte nicht an dem zweifeln, was ich deutlich gesehen hatte.
Ein schrecklicher Gedanke überkam mich: »der Mensch ist doppelt«, sagte ich mir. »Ich fühle zwei Menschen in mir«, hat ein Kirchenvater geschrieben. Das Zusammentreffen zweier Seelen hat diesen gemischten Keim in einen Körper gelegt, der selbst dem Blick zwei ähnliche Teile darbietet, die in allen Organen seines Aufbaues wiederkehren. In jedem Menschen steckt ein Beobachter und ein Handelnder, der, welcher spricht und der, welcher antwortet. Die Orientalen haben darin zwei Feinde gesehen: den guten und den bösen Geist. »Bin ich der gute, bin ich der böse?« sagte ich mir. Auf jeden Fall ist der »ANDERE« mir feindlich . . . Wer weiß, ob es nicht Umstände oder irgendein Alter gibt, wo diese beiden Geister sich trennen. Beide sind durch eine mütterliche Verwandtschaft an denselben Körper gefesselt, vielleicht ist einer zu Ruhm und Glück, der andere zu Vernichtung und ewigem Leiden bestimmt ?« Ein verhängnisvoller Blitz durchschnitt plötzlich diese Dunkelheit . . . Aurelia gehörte mir nicht mehr! . . . Ich glaubte von einer Zeremonie, die sich irgendwo anders vollzog, sprechen zu hören und von den Zurüstungen zu einer mystischen Hochzeit, welche die MEINE war, und wo der ANDERE im Begriff war, den Irrtum meiner Freunde und Aurelias selbst zu benutzen. Die teuersten Personen, die mich besuchten und trösteten, schienen mir eine Beute der Ungewißheit, das heißt, die beiden Teile ihrer Seele trennten sich auch in bezug auf mich; die eine war liebevoll und vertrauend, die andere wie zu Tod erschrocken über mich. In dem, was diese Leute zu mir sagten, lebte ein doppelter Sinn, wenn sie sich auch oft davon keine Rechenschaft ablegten, da sie ja nicht so »im Geist« waren wie ich. Einen Augenblick kam mir dieser Gedanke sogar komisch vor, wenn ich an Amphitrion und an Sofias dachte. Wenn aber dieses groteske Symbol auch etwas anderes war, wenn es wie in andern Sagen des Altertums die unglückselige Wahrheit unter der Maske der Tollheit war? »Wohlan«, sagte ich mir, »kämpfen wir gegen den verhängnisvollen Geist, kämpfen wir gegen den Gott selbst mit den Waffen der Überlieferung und der Wissenschaft. Was er auch im Schatten der Nacht tun mag, ich existiere und ich habe um ihn zu besiegen die ganze Zeit, die mir zum Leben auf der Erde noch gegeben ist.
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