Saturday, November 5, 2016

DIE GERMANIA DES CORNELIUS TACITUSS - Übersetzung von Paul Stefan (Zweite Teil)

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Der Erbe muß auch die Fehden des Vaters oder eines Blutsverwandten übernehmen, gleichwie die Freundschaften. Aber sie dauern nicht unversöhnlich fort: sühnt man doch selbst den Totschlag durch eine bestimmte Anzahl von Groß- und Kleinvieh, und das ganze Haus nimmt die Genugtuung an; das kommt dem Gemeinwesen zugute, denn bei solcher Ungebundenheit sind Einzelfehden besonders gefährlich.
Für Gelage und Bewirtungen zeigt kein anderes Volk so hemmungslose Neigung. Irgendeinen Menschen, wer es auch sei, vom Hause zu weisen, gilt als Frevel; je nach Vermögen rüstet jeder dem Fremden das Mahl. Wenn das Seine verzehrt ist, weist der Gastgeber den Weg zu einem anderen Gastfreund und gibt dahin das Geleit. So treten sie ungeladen ins nächste Haus. Da liegt nichts dran; mit gleicher Freundlichkeit werden sie aufgenommen. Bekannt oder unbekannt: im Gastrecht unterscheidet man nicht. Beim Abschied gehört es sich, dem Gaste zu bewilligen, was er sich etwa ausbittet, und eine Gegenbitte wird ebenso unbefangen gestellt. Die Geschenke machen ihnen Freude; aber was sie geben, rechnen sie nicht an, und was sie empfangen, schafft keine Verpflichtung. Wohlwollen nur kettet Gastfreund an Gastfreund.

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Gleich vom Schlaf weg (den sie meist bis in den Tag hinein ausdehnen) baden sie, öfters warm, weil es bei ihnen die längste Zeit Winter ist. Auf das Bad folgt ein Imbiß; jeder hat seinen besonderen Sitzplatz und seinen eigenen Tisch. Dann gehen sie an ihre Geschäfte oder auch, nicht minder häufig, zum Gelage, immer in Waffen. Tag und Nacht durchzuzechen, bringt keinem Schande. Häufig gibts, wenn sie da trunken sind, Streit, und der bleibt selten bei Worten, sondern endet recht oft mit Wunden und Totschlag. Aber auch die Versöhnung des Feindes mit dem Feind, neue Schwägerschaft, Anschluß an Fürsten und sogar Krieg und Frieden wird gewöhnlich beim Trinkgelage beraten, als ob zu keiner anderen Zeit der Sinn unbeeinflußter Überlegung besser zugänglich wäre oder leichter entflammt für große Gedanken. Ein Volk ohne Arg und Falsch, eröffnet es noch die Geheimnisse seiner Brust bei ungezwungenen Scherzen. Haben nun alle ihre Meinung ohne Rückhalt aufgedeckt, so wird sie am nächsten Tag noch einmal geprüft, und jeder Zeit widerfährt ihr Recht: sie beraten, wenn sie keiner Verstellung fähig sind, beschließen, wenn sie nicht irren können.

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Ihr Getränk ist ein Saft aus Gerste oder Weizen, zu einer Art von Wein vergoren. An der Ufergrenze erhandeln sie auch Wein. Die Kost ist einfach, wilde Früchte, frisches Wildbret, geronnene Milch. Ohne Aufwand, ohne Würzen stillen sie gerade ihren Hunger. Gegen den Durst haben sie nicht die gleiche Mäßigkeit. Wer hier ihrem Hang Vorschub leistete und ihnen zu trinken verschaffte, so viel sie begehren, der könnte sie einmal durch ihre Ausschweifung fast leichter als mit bewaffneter Hand überwinden.

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Es gibt nur eine Art von Schauspiel, und die ist bei jedem Feste gleich. Nackte Jünglinge, die es zum Vergnügen tun, schwingen sich im Tanz zwischen Schwertern und drohenden Framen. Übung hat sie gewandt gemacht, Gewandtheit anmutig; doch suchen sie nicht Erwerb und Lohn: ihres so verwegenen Spieles Preis ist die Freude der Zuschauer. Aber merkwürdig sind sie beim Würfeln, treiben es nüchtern, wie ein ernstes Geschäft, und mit so toller Leidenschaft bei Gewinn und Verlust, daß sie, wenn alles hin ist, im letzten entscheidenden Wurf Freiheit und Leben setzen. Und wer verliert, wird freiwillig Sklave; sei er auch jünger und stärker, er läßt sich geduldig binden und verkaufen. Das ist ihr Starrsinn noch am verkehrten Ende: sie aber nennen es Treue. Sklaven dieser Art übergeben sie dem Handel, um auch selbst der Beschämung über den Gewinn ledig zu werden.

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Ihre andern Sklaven stellen sie, anders als wir, nicht zu genau verteiltem Gesindedienst an; sondern jeder schaltet auf eigenem Anwesen, am eigenen Herd. Der Herr legt ihm nur eine bestimmte Leistung an Getreide, Vieh oder Zeug auf, wie wir unseren Pächtern, und nur so weit geht die Pflicht des Hörigen. Sonst besorgen die Geschäfte des Herrenhauses die Frau und die Kinder. Daß der Sklave gepeitscht, gefesselt und mit Zwangsarbeit gestraft wird, ist selten. Eher noch schlägt der Herr einen tot, nicht zur Strafe oder aus Strenge, sondern im aufwallenden Jähzorn: wie einen Feind, nur daß es hier ungesühnt bleibt. Die Freigelassenen stehen nicht viel höher als Sklaven. Selten haben sie einigen Einfluß im Haus, nie in der Gemeinde, ausgenommen bei den Stämmen, die Königen botmäßig sind. Dort nämlich steigen sie wohl über die Freigeborenen und selbst über Adelige empor. Bei den anderen zeugt die Unebenbürtigkeit der Freigelassenen für die Freiheit des Volkes.

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Geld auf Zins zu verleihen und Wucher zu treiben, ist ihnen unbekannt und darum besser verhütet, als wenn es verboten wäre.
Ackerland wird, entsprechend der Zahl derer, die es anbauen wollen, von der Gesamtheit, immer in neuem Ausmaß besetzt und dann jedesmal unter die einzelnen nach ihrem Range aufgeteilt. Die Größe der Gefilde macht solche Teilung leicht. Mit der Anbaufläche wechseln sie Jahr für Jahr, und noch immer bleibt Ackerland brach. Denn ihre Arbeit wetteifert nicht mit der Fruchtbarkeit und der Ausdehnung ihres Bodens, so etwa, daß sie Obstgärten anlegen, Wiesen ausscheiden, Gärten bewässern würden; einzig Getreide fordern sie der Erde ab. Und so teilen sie auch das Jahr nicht in unsere vier Zeiten; nur für Winter, Frühling und Sommer haben sie den Begriff und die Worte; vom Herbst kennen sie weder Namen noch Gaben.

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Leichenbegängnisse wollen nicht prunken: nur darauf wird geachtet, daß man die Reste bedeutender Männer mit Holz von bestimmten Arten verbrenne. Auf den Holzstoß häufen sie nicht Teppiche noch Räucherwerk; immer werden die Waffen, zuweilen auch das Streitroß ins Feuer mitgegeben. Ein Rasenhügel bildet das Grab. Ragender Denkmäler kunstreiche Pracht verschmähen sie, als drückend für die Verstorbenen. Von Klagen und Tränen lassen sie bald, von Schmerz und Wehmut lange nicht. Frauen ziemt Trauer, Männern Erinnerung.
So viel habe ich allgemein über Herkunft und Sitten des ganzen Germanenvolkes erfahren. Nun will ich die Unterschiede in den Einrichtungen und Bräuchen der einzelnen Stämme und die Einwanderungen aus Germanien ins gallische Land erörtern.

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Daß Galliens Macht vorzeiten größer war, meldet der beste Gewährsmann, der erlauchte Julius [Cäsar]; und so darf man wohl glauben, daß auch Gallier nach Germanien hinübergedrungen sind. Denn welch geringes Hindernis bot nicht ein Strom, wenn eines der Völker, eben im Gefühl seiner Macht, her- und hinüber zog und da blieb, wo das Land noch frei und zu keinem Bereich abgegrenzt war? So haben denn in dem Land zwischen Herzynischem Wald und Rhein- und Mainstrom die Helvetier, weiter hinaus die Bojer gewohnt, beides gallische Stämme. Noch lebt der Name Boihaemum und gemahnt an die Vorgeschichte des Landes, obschon seine Siedler gewechselt haben.
Ob aber die Aravisker nach Pannonien von den Osen her, aus germanischem Gebiet, oder die Osen aus dem Land der Aravisker nach Germanien eingewandert sind, das ist nicht zu entscheiden (beide haben noch heute gleiche Sprache, gleiche Satzung und Bräuche): denn die nämliche Armut und Freiheit bot einst an beiden Ufern des Grenzstromes genau so viel Vorteil wie Nachteil.
Treverer und Nervier behaupten sogar mit eifersüchtigem Stolz ihre germanische Abkunft, als würde solcher Adel des Blutes eine Ähnlichkeit mit den erschlafften Galliern aufheben. Am Rheinufer selbst wohnen unzweifelhaft germanische Völker, Vangionen, Triboker, Nemeter. Ja selbst die Ubier, die doch für ihre Verdienste das Recht der römischen Kolonien erhielten und sich lieber nach ihrer Stifterin Agrippiner nennen hören, schämen sich ihres germanischen Ursprungs nicht. Sie waren schon vorzeiten herübergekommen und wurden dann zum Lohn bewährter Treue gerade am Rheinufer angesiedelt, aber als Grenzwächter, nicht als Bewachte.

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An Tapferkeit überragen die Bataver alle diese Stämme. Sie bewohnen nur einen kleinen Strich am Ufer, aber das ganze Inselland des Rheins und waren einst ein Teil des Chattenvolkes, der sich bei einem Zwist von der Heimat löste und in diese Gegenden hinüberzog; dort sollten sie dem Römerreiche einverleibt werden. Die Ehre und die Auszeichnung alter Bundesfreundschaft ist ihnen geblieben: kein Tribut entwürdigt sie, kein Steuerpächter saugt sie aus; frei von Lasten und Abgaben, nur dem Dienst im Kriege vorbehalten, werden sie wie Wehr und Waffen für den Kampf aufgespart. In gleicher Abhängigkeit steht auch das Volk der Mattiaker; hat doch das mächtige Römertum über den Rhein und über die alten Grenzen hinaus sein Weltreich Ehrfurcht gebietend erweitert. So sitzen sie, in eigener Gemarkung, auf ihrem Uferland; Gesinnung und Neigung hält sie bei uns. Sonst ganz wie die Bataver; nur daß ihnen noch der Boden und Himmel der Heimat helleren Mut weckt.
Nicht unter die germanischen Völker möchte ich, wiewohl sie jenseits von Rhein und Donau ansässig sind, jene zählen, die das Zehntland bebauen: gallisches Lumpenpack, aus Not verwegen, hat sich sein Stück von dem Boden ungewisser Besitzer genommen. Dann ist der Grenzwall angelegt, sind Festungen vorgeschoben worden, und so bildet das Gebiet ein Vorland des Reichs und einen Teil der Provinz.


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Weiter hinaus wohnen die Chatten. Ihr Reich beginnt am Herzynischen Wald, nicht so eben und sumpfig wie die anderen Gebiete im weiten germanischen Flachland; immer wieder erheben sich Hügel und werden nur mählich spärlicher: so geleitet der Herzynische Wald seine Chatten und setzt sie dann ab zu Tal. Es ist ein harter Volksschlag von gedrungenem Gliederbau, trotzigen Mienen und besonders lebhaftem Geist. Für Germanen zeigen sie viel Verstand und Gewandtheit. Sie wissen ihre Führer zu wählen, auf das Wort der Obern zu hören, Reih und Glied zu wahren, den Augenblick zu erspähen, mit dem Angriff zurückzuhalten, ihren Tag einzuteilen und sich für die Nacht zu sichern; und haben gelernt, nicht dem ungewissen Glück, sondern erprobter Tapferkeit zu vertrauen. Und, was sonst sehr selten und nur einer strengen Zucht eigen ist: die Führung gilt ihnen mehr als die Truppe. Ihre ganze Stärke liegt im Fußvolk, dem sie außer den Waffen auch Schanzzeug und Vorräte mitgeben. Andere Völker ziehen in die Schlacht, die Chatten in einen vorbereiteten Krieg; selten kommt es zu Streifzügen und planlosem Gefecht. Und wirklich taugt es mehr für Reiterkräfte, rasch einen Sieg zu gewinnen, rasch zu entweichen. Aber Hast steht der Furcht gar nah, Bedachtsamkeit dem besonnenen Mute.

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Was sich auch bei anderen germanischen Völkern als Ausdruck vereinzelten Wagemuts findet, ist bei den Chatten allgemeiner Gebrauch geworden; sobald sie mannbar sind, lassen sie Bart und Haupthaar frei wachsen und tragen sich nicht anders, solange sie nicht einen Feind getötet haben; das ist ihr Gelübde, gleichsam ein Pfand ihrer Tapferkeit. Erst an der blutigen Beute enthüllen sie wieder die Stirn; dann erst glauben sie den Preis für ihr Dasein gezahlt und ihr Vaterland und ihre Väter verdient zu haben. Feigen und Kriegsscheuen bleibt der entstellende Haarwust. Ein rechter Held trägt obendrein noch einen eisernen Ring (diesem Volk sonst ein Zeichen der Schmach) wie eine Fessel und löst sie sich erst, wenn er einen Feind erschlagen hat. Sehr viel Chatten gefallen sich in solchem Aufzug und sind darin grau geworden, berühmt und Feinden wie Freunden bekannt. Diese sinds, die jeden Kampf eröffnen; sie bilden die erste Reihe, ein überwältigender Anblick; denn auch im Frieden ist ihr Aussehen nicht milder geworden. Keiner von ihnen hat Haus oder Land oder sonst eine Arbeit; wo er auch einkehrt, findet er Unterhalt und schwelgt in fremdem Gut, unbekümmert um eigenes, bis dann schließlich das blutlose Alter zu so harter Tugend unfähig macht.

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Den Chatten zunächst wohnen am Rheinstrom, der dort schon seinen festen Lauf hat und Grenzwehr zu sein vermag, die Usipier und Tenkterer. Die Tenkterer zeichnen sich außer durch den gewohnten Kriegsruhm durch ihre trefflich geübte Reiterei aus; und dem Fußvolk der Chatten gebührt kein größeres Lob als den Reitern der Tenkterer. Das haben sie von den Vätern her, und die Nachfahren bleiben nicht zurück. Reiten ist das Spiel der Kinder, Männer üben es um die Wette, Greise lassen nicht nach. Neben Gesinde und Gehöft und den Rechten der Nachfolge werden die Pferde vererbt: doch erhält sie nicht, wie das übrige Gut, der älteste Sohn, sondern der streitbarste, der bessere Kämpe.

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Neben den Tenkterern traf man früher die Brukterer. Jetzt sollen da Chamaver und Angrivarier eingewandert sein. Die Brukterer wurden durch einen Zusammenschluß der Nachbarvölker geschlagen und ganz vernichtet, sei es aus Haß gegen ihre Überhebung oder wegen der lockenden Beute, oder weil uns etwa die Götter gnädig waren; denn sie gönnten uns sogar, dem Schauspiel des Schlachtens zuzusehen: über sechzigtausend sind nicht der Römer Wehr und Waffen, sondern, was weit herrlicher ist, uns zur Freude und Augenweide erlegen. Bliebe nur, dies mein Gebet, dauernd all diesen Völkern, wenn schon nicht Liebe zu uns, so doch wenigstens ihr Haß gegeneinander; denn nichts Größeres kann uns in des Reiches drängendem Verhängnis das Schicksal gewähren als unserer Feinde Zwietracht.

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An die Angrivarier und Chamaver schließen sich im Rücken Dulgubiner und Chasuarier an und andere nicht sonderlich häufig genannte Völker. Vorne nehmen die Friesen die Reihe auf. Sie heißen Groß- und Kleinfriesen nach dem Maß ihrer Kräfte. Beide Stämme begrenzt bis ans Meer der Rhein; auch wohnen sie rings um gewaltige Seen, in die auch schon römische Flotten drangen. Ja, selbst ins Nordmeer haben wir uns dort gewagt. Und es ist die Sage verbreitet, daß da noch Säulen des Herkules stehen: sei es, daß Herkules wirklich hinkam oder daß wir alles Großartige, wo sichs auch finde, auf seinen Ruhm zurückzuführen gewohnt sind. An Kühnheit hat es dem Drusus Germanicus auch nicht gefehlt; doch das Meer ließ sich, ließ die Spuren des Herkules nicht erforschen. Seither hat es niemand versucht; es schien frömmer und ehrfürchtiger, an die Taten der Götter zu glauben, als um sie zu wissen.

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So weit gegen Westen hin kennen wir Germanien. Gegen Norden tritt es in ungeheurem Bogen zurück. Gleich zuerst findet sich hier das Volk der Chauken; obwohl es schon nächst den Friesen beginnt und noch einen Teil der Küste innehat, zieht es sich auch in der Flanke aller hier beschriebenen Stämme hin und reicht zuletzt im Bogen bis zu den Chatten. Und diese gewaltige Ländermasse haben die Chauken nicht nur in ihrem Besitz, sondern sie füllen sie auch aus; ein Volk, das unter den Germanen in höchstem Ansehen steht und es dabei vorzieht, seine Macht auf Gerechtigkeit zu stützen. Ohne Habgier, ohne unbändige Herrschsucht leben sie ruhig für sich und reizen keinen zum Kriege, verwüsten sie, rauben und plündern keinem sein Gut. Es ist das höchste Zeugnis für ihre Tapferkeit und Stärke, daß sie ihre überlegene Macht keinem Übergriff danken. Doch haben sie alle rasch die Waffen bereit, und wenn es die Not erfordert, ein Heer: Rosse und Mannen in reicher Zahl. Auch wenn sie Ruhe halten, bleibt ihnen ihr Ruf.

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Zur Seite der Chauken und Chatten haben die Cherusker lange unangefochten einen allzu tiefen, erschlaffenden Frieden gehalten. Das brachte ihnen mehr Behagen als Sicherheit, da es verkehrt ist, zwischen unbändigen, mächtigen Nachbarn ruhig zu bleiben. Wo Faustrecht           gilt, darf sich nur der Überlegene friedlich und redlich nennen. So heißen die Cherusker, einst als die Wackeren, Gerechten bekannt, jetzt Weichlinge und Toren; den siegreichen Chatten wurde ihr Glück als Weis heit gedeutet. Mitgerissen vom Sturz der Cherusker wurden auch die Fosen, ihr Nachbarvolk. Im Glück die Geringeren, sind sie nun rechte Gefährten des Mißgeschicks.

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In der gleichen Ausbuchtung des Germanenlandes, nächst dem Nordmeer, sitzen die Kimbern, jetzt nur ein kleiner Stamm, doch von gewaltigem Ruhm. Von ihrem alten Ruf sind viele Spuren erhalten: an beiden Ufern Wälle und Lagerräume, deren Umfang noch heute für die Menge des Heeres und Volks und für die so mächtige Wanderung Zeugnis gibt. Sechshundertvierzig Jahre stand unsere Stadt, als uns zuerst die Waffen der Kimbern erdröhnten; unter den Konsuln Caecilius Metellus und Papirius Carbo. Zählt man von da bis zum zweiten Konsulat des Imperators Trajan, so sind das etwa zweihundertundzehn Jahre; so lange wird nun Germanien besiegt. Und im Lauf dieser langen Zeit hüben und drüben vielfach Verluste! Nicht der Samnite, nicht die Punier, nicht Hispanien und Gallien, ja auch die Parther nicht haben öfter zu schaffen gegeben: ärger denn eines Arsaces Tyrannei droht der Germanen Freiheit. Was könnte uns sonst der Osten vorhalten als den erschlagenen Crassus, für den er doch selbst, von einem Ventidius niedergeworfen, den Pacorus hingeben mußte! Germanen aber haben den Carbo und Lucius Cassius, den Scaurus Aurelius, den Servilius Caepio und Gnaeus Mallius geschlagen oder gefangen, also fünf konsularische Heere dem römischen Volke, und den Varus und mit ihm drei Legionen selbst dem Caesar geraubt; und nicht ohne Einbußen hat sie C. Marius in Italien, der erlauchte Julius in Gallien, Drusus, Nero, Germanicus in ihrem eigenen Land geschlagen. Hernach sind die gewaltigen Rüstungen des C. Caesar lächerlich ausgegangen. Seitdem war Ruhe, bis daß sie, die Gelegenheit unseres Zwistes und Bürgerkrieges wahrnehmend, die Winterlager der Legionen stürmten und sogar Gallien bedrohten. Da wurden sie wieder abgeschlagen; aber die letzte Zeit hat über sie mehr triumphiert als gesiegt.

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Nunmehr spreche ich von den Sueben. Sie bilden nicht, wie Chatten und Tenkterer, ein einheitliches Volk, sondern haben den größeren Teil Germaniens inne und zerfallen zudem noch in besondere Völkerschaften mit eigenem Namen, wiewohl sie insgemein Sueben heißen.
Ein Stammeszeichen bildet das seitwärts gekämmte, in einen Knoten geschlungene Haar: dadurch unterscheiden sich die Sueben von den übrigen Germanen und die suebischen Freien von ihren Knechten. Dergleichen kommt auch bei anderen Stämmen vor, vielleicht auf Grund einer Verwandtschaft mit den Sueben, vielleicht, wie das ja oft geschieht, als Nachahmung, ist jedoch selten und bleibt auf die Jugend beschränkt. Bei den Sueben aber streichen sie noch, wenn sie grau sind, das widerstrebende Haar zurück und binden es, oft gerade über dem Scheitel, zusammen; Vornehme tragen es noch kunstvoller hergerichtet. Das ist nun wohl Putz, aber ein unschuldiger; denn nicht um Liebe und Gegenliebe geht es ihnen, sondern mit solcher Sorgfalt schmücken sie sich, zu Kriegern bestimmt, um größer und schrecklicher auszusehn in den Augen der Feinde.

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Für die Ältesten und Edelsten unter den Sueben geben sich die Semnonen aus; der Glaube an ihr hohes Alter wird durch heilige Bräuche gestützt. Zu bestimmten Zeiten sind in einem Walde, den Zeichen aus Vätertagen und Schauer der Vorzeit weihten, alle Völker vom gleichen Blut durch Abordnungen vertreten, und ein feierliches Menschenopfer der Gemeinschaft eröffnet des barbarischen Dienstes entsetzliche Stiftung. Noch eine andere Verehrung gilt dem Hain: keiner darf ihn anders als in Fesseln betreten, gleichsam als Untertan, und um von der Macht des Gottes zu zeugen. Fällt einer zu Boden, so darf er sich nicht erheben noch aufrichten lassen, sondern muß sich auf der Erde hinauswälzen. Das ganze Treiben deutet darauf, daß dort die Wiege des Volkes sei, dort der allbeherrschende Gott, und alles andere untergeordnet und abhängig. Bestärkt wird diese Meinung durch das Gedeihen der Semnonen: in hundert Gauen wohnen sie, und bei solcher Größe ihrer Körperschaft halten sie sich für das Haupt der suebischen Völker.

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Dafür ehrt die Langobarden ihre geringe Zahl. Von sehr vielen mächtigen Völkern eingeschlossen, haben sie sich nicht durch Unterwürfigkeit, sondern in Kampf und Wagnis gesichert. Es folgen Reudigner, Avionen, Angeln, Variner, Eudosen, Suardonen und Nuithoner, alle durch Flüsse oder Wälder geschützt. Zu den einzelnen ist sonst nichts zu bemerken; gemeinsam verehren sie die Nerthus, das ist die Mutter Erde; diese, so meinen sie, mische sich in das Treiben der Menschen und komme von Volk zu Volk gefahren. Es ruht auf einer Insel im Nordmeer ein heiliger Hain; darin steht ein geweihter Wagen, mit einer Hülle bedeckt, und nur der Priester darf ihn berühren. Er merkt die Gegenwart der Göttin im Heiligtum und geleitet ehrfürchtig ihren mit Kühen bespannten Wagen. Dann sind die Tage froh und festlich die Stätten, wo die Göttin einzuziehen und gastlich zu weilen geruht. Niemand geht in den Krieg, niemand greift zu den Waffen; verschlossen ist jegliches Eisen: es ist die einzige Zeit, da sie Ruhe und Frieden kennen, die einzige, da sie ihn lieben. Bis der Priester dann wieder die Göttin, des Umgangs mit sterblichen Menschen ersättigt, in ihren heiligen Bezirk zurückbringt. Dann wird der Wagen, seine Umhüllung und – wenn man es glauben darf – die Göttin selbst in einem unzugänglichen See genetzt. Sklaven helfen beim Dienst, die alsbald der nämliche See verschlingt. Daher das geheime Grauen und das heilige Dunkel um etwas, was nur Todgeweihte erschauen.

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Und dieser Teil der Sueben zieht sich bis in ziemlich entlegene Länder Germaniens hin. Näher – um, wie noch zuvor dem Rhein, so jetzt der Donau zu folgen – haust das Volk der Hermunduren, den Römern ergeben. Darum ist ihnen allein von allen Germanen der Verkehr nicht nur an der Ufergrenze, sondern auch tief ins Reich hinein und selbst in der glänzendsten Kolonie der rätischen Provinz erlaubt. Wo sie wollen, kommen sie ohne Aufsicht herüber, und während wir den übrigen Stämmen nur unsere Waffen und Lagerplätze zeigen, haben wir diesen ohne ihr Begehren unsere Häuser und Landsitze geöffnet. Im Lande der Hermunduren entspringt die Elbe, einst ein vielgerühmter, bekannter Strom; jetzt hört man nur eben von ihm.


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Nächst den Hermunduren wohnen die Varisten und weiter hin die Markomannen und Quaden. Hoch ragen die Markomannen an Ruhm und Kraft hervor; auch ihr Land danken sie der eigenen Tapferkeit, die einst die Bojer vertrieb. Doch schlagen auch Varisten und Quaden nicht aus der Art; und dies ist gleichsam die Stirnwehr Germaniens entlang der Donau. Markomannen und Quaden haben noch bis auf unsere Zeit Könige vom heimischen Stamm behalten, des Marbod und Tudrus edles Geschlecht. Jetzt fügen sie sich auch Fremden; aber Macht und Gewalt kommt ihren Königen vom römischen Ansehen. Selten werden sie von unseren Waffen, öfter durch Geld unterstützt; es tut ihnen nicht Eintrag.

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Noch weiter ab von uns schließen sich Marsigner, Kotiner, Osen und Burier im Rücken an die Markomannen und Quaden. Von diesen erinnern Marsigner und Burier in Rede und Sitte an suebische Abkunft; die Kotiner verraten durch ihre gallische, die Osen durch ihre pannonische Sprache, daß sie keine Germanen sind, wie auch durch die Abgaben, die sie ertragen. Einen Teil davon haben ihnen die Sarmater, einen anderen – als einem Fremdvolk – die Quaden auferlegt: dabei fördern die Kotiner, und das mehrt ihre Schmach, noch obendrein Eisen! Alle diese Völker aber halten wenig Flachland besetzt, meist Hochwald, Gipfel und Höhenzüge. Denn mitten durch Suebien zieht als Scheidewand ein Gebirg in geschlossener Kette; und auf der anderen Seite wohnen sehr viele Völker, von denen namentlich die Lygier, mehrere Stämme umfassend, weithin verbreitet sind. Es genügt, die bedeutendsten zu nennen, die Harier, Helvekonen, Manimer, Helisier und Nahanarvaler. Bei den Nahanarvalern weist man einen uralt-heiligen Hain. Darin waltet ein Priester in Frauentracht; aber die Götter, die sie nennen, sind nach römischer Deutung Kastor und Pollux. Dies die Bedeutung der Gottheit; ihr Name ist „Alken“. Es gibt von ihnen kein Bild, keine Spur führt zu fremden Bräuchen; aber als Brüder werden sie und als Jünglinge verehrt. Die grimmen Harier helfen, obzwar den zuvor aufgezählten Völkern ohnehin überlegen, dem Eindruck ihrer an sich schon wilden Erscheinung zudem durch wohlbedachte Künste nach. Sie schwärzen die Schilde und überfärben sich den Körper; finstere Nächte wählen sie zum Kampf. So jagen schon die gespenstischen Schreckgestalten eines Totenheeres Grausen ein, und kein Feind widersteht dem unerhörten, gleichsam höllischen Anblick; denn zuerst erliegen bei jedem Anprall die Augen. Jenseits der Lygier sitzen die Goten, von Königen, und etwas straffer als andere Germanenstämme, geleitet, doch nicht so, daß ihre Freiheit bedroht wäre. Dann dicht daran, gegen das Meer, die Rugier und Lemovier. All dieser Völker Merkmal ist, daß sie runde Schilde und kurze Schwerter haben und Königen gehorchen.

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Folgen die Stämme der Suionen, mitten im Ozean, reich an Mannen und Waffen und auch zur See gewaltig. Sie haben Schiffe von besonderer Gestalt, derart, daß jedes Ende Vorderteil sein kann und immer zum Landen bereit ist. Auch bedienen sie keine Segel und fügen die Ruder nicht reihenweise an beide Seiten, sondern brauchen sie lose, wie auf manchen Flüssen, und setzen sie, je nach Bedarf, bald rechts, bald links ein. Bei diesem Volk steht auch der Reichtum in Ehren, und so beherrscht es ein einziger, gegen den schon kein Einspruch mehr statthat, kraft unwiderruflichen Rechts auf Gehorsam. Auch werden die Waffen nicht, wie bei den anderen Germanen, jedem zum Gebrauch freigegeben, sondern ein Wächter hält sie verschlossen; es ist ein Sklave. Denn da wehrt einem unerwarteten Einbruch der Feinde das Meer; und Waffen in müßigen Händen führen gar leicht zum Mißbrauch. Einen Adeligen allerdings oder Freien, ja auch nur einen Freigelassenen als Waffenhüter zu bestellen, wäre dem König kein Vorteil.

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Jenseits der Suionen liegt ein anderes Meer, starr und fast unbewegt. Daß es den Erdkreis abgürtet und schließt, darf man wohl glauben, weil sich dort der letzte Glanz der sinkenden Sonne bis zum Aufgang erhält, so hell, daß davor die Sterne verblassen. Manche behaupten sogar, der aufsteigenden Sonne Klingen zu hören und ihr Rossegespann und ihr Strahlenhaupt zu erkennen. Damit sind wir, wenn die Sage recht hat, am Ende der Welt.
Nun denn – rechts schlägt das suebische Meer an die Küste der Ästierstämme. Diese haben die Bräuche und das Aussehen der Sueben, ihre Sprache steht der britannischen näher. Sie verehren eine Göttermutter. Als Zeichen dieses Dienstes tragen sie Eberbilder bei sich: das ist Schutz und Schirm gegen alle Gefahr und behütet den Gläubigen auch im Feindesgewühl. Selten haben sie Waffen von Eisen, oftmals Keulen. Korn und andere Früchte bauen sie sorgfältiger, als sonst germanische Lässigkeit zugibt. Aber sie suchen auch im Meer und sind unter allen Völkern die einzigen, die den Bernstein (sie nennen ihn glesum) an seichten Stellen und am Strande selbst sammeln. Doch haben sie, rechte Barbaren, sein Wesen und seine Entstehung weder bedacht noch erkundet. Ja, er lag lange umher wie anderer Auswurf des Meeres, und erst unsere Sucht nach Schmuck schuf ihm seinen Namen. Sie selber gebrauchen ihn nicht; sie sammeln die rohen Stücke, bringen sie unbearbeitet zu Markt und wundern sich über den gezahlten Preis. Indes erkennt man ihn als Baumharz, weil häufig kleine Landtiere, auch geflügelte, durchschimmern, die sich in der flüssigen Masse fangen und, wenn sie dann hart wird, eingeschlossen bleiben. Wie in den fernen Ländern im Osten, wo die Bäume Weihrauch und Balsam ausschwitzen, mögen also wohl auch auf den Inseln und Küsten des Westens merkwürdig ergiebige Haine und Wälder sein: ihre Säfte werden von den Strahlen der nahen Sonne ausgepreßt und rinnen noch flüssig den kurzen Weg hinab ins Meer; die Gewalt der Stürme treibt dann das Harz hinüber ans andere Gestade. Prüft man den Stoff des Bernsteins im Feuer, so entzündet er sich wie ein Kienspan und nährt eine qualmende, riechende Flamme; dann verdickt er sich wieder zu einer Art Pech oder Harz.
An die Suionen reihen sich die Stämme der Sitonen, sonst ähnlich und nur dadurch unterschieden, daß ein Weib sie beherrscht. So sehr ist bei ihnen nicht nur die Freiheit, sondern noch die Knechtschaft entartet.

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Hier endet denn Suebien. Ob ich nun die Stämme der Peuciner und der Veneter und Fennen zu den Germanen oder Sarmatern rechnen soll, weiß ich nicht recht. Die Peuciner zwar, von manchen auch Bastarner genannt, zeigen in Sprache und Sitte, nach Siedlung und Hausbau germanisches Wesen. Freilich sind sie alle ungepflegt und ihre Vornehmen träge; und Wechselheiraten haben auch schon zu sarmatischer Mißgestalt geführt. Die Veneter haben viel von sarmatischer Lebensweise angenommen: alles Wald- und Bergland, das sich zwischen Peucinern und Fennen erhebt, durchstreifen sie in räuberischen Haufen. Doch zählt man sie eher noch als Germanen, weil sie feste Wohnungen haben, Schilde tragen und gern als schnelle, rüstige Fußgänger auftreten; dies alles im Gegensatz zu den Sarmatern, die auf ihren Wagen und zu Pferde leben. Die Fennen sind ein erstaunlich wildes, abstoßend armes Volk. Sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Heim; Kräuter sind ihre Nahrung, Felle ihr Gewand, der Erdboden ihre Lagerstätte. Nur ihren Pfeilen vertrauen sie (denen sie, weil Eisen mangelt, beinerne Spitzen geben). Jagd muß gleicherweise Männer wie Frauen ernähren: diese ziehen überall mit und heischen ihren Teil von der Beute. Ihre Kinder haben keine andre Zuflucht vor Regen und wildem Getier als ein Schutzdach von verflochtenen Zweigen. Dahin kehren auch die Erwachsenen zurück, dort bergen sich die Alten. Aber glücklicher dünkt sie dieses Los, als hinter dem Pfluge zu keuchen, an Bauten zu frohnen und eignes und fremdes Gut ewig in Furcht und Hoffnung zu bedenken: unbekümmert um Menschen, unbekümmert um Götter haben sie das Schwerste erreicht, selbst auf Wünsche verzichten zu können.

Darüber hinaus beginnt das Reich der Fabel. So sollen Hellusier und Oxionen Menschenköpfe und menschliches Antlitz haben, aber Leib und Glieder von Tieren. Das ist unverbürgt, und ich will es nicht weiter verfolgen.

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