Monday, August 10, 2015
Saturday, August 8, 2015
AM MEERE von Emanuel Geibel
GEH AUS MEIN HERZ UND SUCHE FREUD (Melodie) von Paul Gerhardt
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DIE RICHTERIN - Novelle von Conrad Ferdinand Mayer (II)
DRITTES KAPITEL
An einem Fenster von Malmort, durch welches der Talgrund mit seinen Türmen und Weilern als duftige Ferne hereinschimmerte, stand die Richterin mit Wulfrin und zeigte ihm die Größe ihres Besitzes. "Das beherrsche ich", sagte sie, "und Palma nach mir. Dich aber, Wulfrin, habe ich schon ehevor dazu ausersehen—wie es auch deine brüderliche Pflicht ist—, der Schwester, wenn ich stürbe, dieses weite Erbe zu sichern."
"Planvoll, aber ferneliegend", sagte er.
"Fern oder nahe. Du bist ihr natürlicher Beschützer. Ich kann mein
Kind keinem Mächtigen dieses Landes vermählen, denn sie sind ein
zuchtloses und sich selbst zerstörendes Geschlecht. Ich bände sie an
den Schweif eines gepeitschten Rosses! Ringsherum keine Burg, an der
nicht Mord klebte! Soll mir mein Kind in einem Hauszwist oder in
einer Blutrache untergehen? Ja, fände ich für sie einen Guten und
Starken wie du bist, dann wäre ich ruhig und könnte dich freigeben, du
hättest weiter keine Pflicht an ihr zu erfüllen. Ich weiß ihr keinen
Gatten als allein Gnadenreich, und der besitzt das Land, nach der
Verheißung, als ein Sanftmütiger, kann es aber gegen die Gewalttätigen
nicht behaupten, deren Zahl hier Legion ist. Erst seine Söhne werden
kraft meines Blutes Männer sein. Bis diese kommen und wachsen, wirst
du schon deine gepanzerte Hand über Gnadenreich und Palma halten und
die Herrschaft führen müssen. Denn ewig reitest du nicht mit dem
Kaiser. Vielleicht auch, wer weiß, erhebt er dich zum Grafen über
diesen Gau, oder dann erhältst du von mir eine Burg, jene"—sie wies
auf einen Turm am Horizonte—"oder eine andere, nach deinem Gefallen.
Oder du hausest hier auf meinem eigenen festen Malmort." Sie legte ihm
vertrauend die Hand auf die Schulter.
"Aber, Frau", sagte er, "du lebst!", und sie erwiderte: "Solang ich
lebe, herrsche ich."
"Dann hat es keine Eile", antwortete er. "Daß der Schwester nichts
geschehen darf, versteht sich und gelobe ich dir. Doch jetzt muß ich
reiten, heute! in einer Stunde!"
"Zum Kaiser? Du hast ihm bereits meinen ortserfahrenen Rudio
geschickt mit der sichern Kundschaft, daß die Lombarden sich am Mons
Maurus befestigen und dort noch ein blutiger Sturm wird gegen sie
geführt werden müssen. Herr Karl sitzt in Mediolanum, wie wir wissen.
So braucht es dir nicht zu eilen."
"Ich lag schon zu lange hier, mich
verlangt in den Bügel", sagte der Höfling, und die Richterin erwiderte
nachgiebig: "Dann schenkst du mir noch diesen Tag. Ich sähe es gerne,
wenn du Palma verlobtest. Warum
Gnadenreich sich hier nicht blicken läßt? Er hält sich wohl in seinem Pratum eingeschlossen, der Lombarden halber, vorsichtig wie er ist, obschon, wie ich glaube, diese hier verstoben sind. Weißt du was?
Geh und bring ihn. Oder wüßtest du deiner Schwester einen bessern Mann?"
Gnadenreich sich hier nicht blicken läßt? Er hält sich wohl in seinem Pratum eingeschlossen, der Lombarden halber, vorsichtig wie er ist, obschon, wie ich glaube, diese hier verstoben sind. Weißt du was?
Geh und bring ihn. Oder wüßtest du deiner Schwester einen bessern Mann?"
"Nein, Frau, wenn sie ihn mag! Doch was habe ich dabei zu raten und
zu tun? Das ist deine Sache und die des Pfaffen, der sie zusammengibt.
Ich will den Rappen satteln gehen, den du mir geschenkt hast."
Sie blickte ihn mit besorgten Augen an. "Was ist dir, Wulfrin? Du
siehst bleich! Ist dir nicht wohl hier? Und mit Palma gehst du um
wie mit einer Puppe, du stößest sie weg, und dann hätschelst du sie
wieder. Du verdirbst mir das Mädchen. Wo hast du solche Sitte
gelernt?"
"Sie ist aufdringlich", sagte er. "Ich liebe freie Ellbogen und kann
es nicht leiden, daß man sich an mich hängt. Sie läuft mir nach, und
wenn ich sie schicke, weint sie. Dann muß ich sie wieder trösten. Es
ist unerträglich! Ich habe die Gewohnheit breiter Ebenen und großer
Räume—auf diesem Felsstück ist alles zusammengeschoben. Das Gebirge
drückt, der Hof beengt, der Strom schüttert—an jeder Ecke, auf jeder
Treppe dieselben Gesichter! Verwünschtes Malmort! Hier hältst du
mich nicht. Hier lasse ich mich nicht einmauern. Mache dir keine
Rechnung, Frau."
"Du tust mir wehe", sagte sie.
Die harte Rede reute ihn. "Frau, laß mich ziehen!" bat er. "Und daß
du dich zufrieden gebest, hole ich dir heute noch den Gnadenreich, und
wir verloben die Schwester. Wo haust er?"
"Ich danke dir, Wulfrin. Graciosus wohnt nicht ferne von hier, in
Pratum." Sie deutete nach einer zerrissenen Schlucht, über welcher
eine grüne Alp hoch emporstieg. "Ich gebe dir einen Führer. Den
Knaben hier." Sie zeigte in den Hof hinunter, wo ein Hirtenbube sich
damit beschäftigte, eine Sense zu wetzen. Palma stand neben ihm und
plauderte.
"Gabriel", rief ihn die Richterin, "du führst deinen Herrn Wulfrin
nach Pratum."
"Den Höfling? Mit Freuden!" jauchzte der Bube.
"Er träumt davon", erklärte die Richterin, "hinter dem Kaiser zu
reiten. Besieh dir ihn."
"Darf ich mit?" fragte Palma und hob das Haupt.
"Nein", sagte die Richterin.
"Bruder!" bat sie und streckte die Hände.
"Schon wieder! Zum Teufel!" fluchte er. Ihre Augen füllten sich mit
Tränen. "So komm, Närrchen!"
Tränen. "So komm, Närrchen!"
Da die dreie barhaupt und reisefertig in dem feuchten Tore standen,
während ringsum die Sonne brannte, sagte die geleitende Richterin zu
Wulfrin: "Ich anvertraue dir Palma: hüte sie!"
"Halleluja! Voran, Engel Gabriel!" jubelte das Mädchen.
Unten am Burgweg sagte der Hirtenbube: "Herr, es gibt zwei Wege nach
Pratum. Der eine steigt durch die Schlucht, der andere über die Alp."
Er wies mit der Hand. "Wenn es dir und der jungen Herrin beliebt, so
nehmen wir diesen. Oben schaut es sich weit und lustig, und es könnte
trübe werden gegen Abend. Es ist ein Gewitterchen in der Luft."
"Ja, über die Alp, Wulfrin!" rief Palma. "Ich will dir dort meinen
See zeigen", und leichtgeschürzt schlug sie sich über eine lichte
Matte, die bald zu steigen begann und immer steiler wurde.
See zeigen", und leichtgeschürzt schlug sie sich über eine lichte
Matte, die bald zu steigen begann und immer steiler wurde.
Leicht wie auf Flügeln, mit frei atmender Brust ging das Mädchen
bergan und blieb unter der sengenden Sonne frisch und kühl wie eine
springende Quelle. Der Berg hatte an dem Kinde seine Freude.
Glänzende Falter umgaukelten ihr das Haupt, und der Wind spielte mit
ihrem Blondhaar.
Wulfrin schaute um nach Malmort, das grau schimmernd kaum aus der
Morgenlandschaft hervortrat. "Wie geschah mir", fragte er sich, "in
jenem Gemäuer dort? Wie konnte mich dieses unschuldige Geschöpf
beängstigen, dieses fröhliche Gespiel, diese behende Gems mit hellen
Augen und flüchtigen Füßen?" Ihm wurde wohl, und er mochte es gerne,
daß der Knabe zu plaudern begann.
Gabriel erzählte von den Lombarden, welche er als Späher der Richterin
beschlichen hatte. Sie seien überall und nirgends. Sie nisten in den
Pässen, belauern die Boten und plündern die Säumer. Sie berauschen
sich in dem geraubten heißen Weine von drüben, prahlen mit besiegten
Waffen, fabeln von der Herstellung der eisernen Krone und leugnen oder
lästern den Weltlauf. Sie beten den Teufel an, der das Regiment führe,
"und doch", endigte der Knabe, "sind sie gläubige Christen, denn sie
stehlen aus unsern Kirchen alles heilige Gebein zusammen, soviel sie
davon erwischen können. Es ist Zeit, daß der Herr Kaiser zum Rechten
sehe und ihnen feste Bezirke und einen Richter gebe."
Da nun Gabriel bei dem Kaiser
angelangt war, dessen erneuerte Würde ihren Schimmer bis in dieses wilde
Gebirge warf, begeisterten sich seine Augen und er rief: "Diesem und
keinem andern will ich dienen!
Ich heiße Gabriel und schlage gerne mit Fäusten, lieber hieße ich Michael und hiebe mit dem Schwerte! Recht muß dabei sein, und der Kaiser hat immer Recht, denn er ist eins mit Gott Vater, Sohn und Geist. Er hat die Weltregierung übernommen und hütet, ein blitzendes Schwert in der Faust, den christlichen Frieden und das tausendjährige Reich."
Ich heiße Gabriel und schlage gerne mit Fäusten, lieber hieße ich Michael und hiebe mit dem Schwerte! Recht muß dabei sein, und der Kaiser hat immer Recht, denn er ist eins mit Gott Vater, Sohn und Geist. Er hat die Weltregierung übernommen und hütet, ein blitzendes Schwert in der Faust, den christlichen Frieden und das tausendjährige Reich."
Nun mußte ihm Wulfrin den Kaiser beschreiben, die Spangen seiner Krone,
den blauen, langen Mantel, das tiefsinnige Antlitz, das
kurzgeschorene Haupt, den hangenden Schnurrbart, "den wir Höflinge ihm
nachahmen", sagte er lachend.
"Wie blickt der Kaiser?" fragte Palma, und Wulfrin antwortete ohne Besinnen: "Milde."
Die Kinder lauschten andächtig und bestaunten den Mann, der mit dem
Herrn der Welt Umgang pflog; sobald aber die Höhe erreicht war, wo
sich der Rasen breitete, war es mit der Andacht vorbei. Gabriel
jauchzte gegen eine ernsthafte Felswand, die den Knabenjubel gütig
spielend erwiderte, und Palma lief, den Höfling an der Hand, einem
gründunkelklaren Gewässer entgegen, das die Wand mit ihrem
Riesenschatten noch immer vor der schon hohen Sonne verbarg. Sie
umwandelten das mit Felsblöcken besäte Ufer bis zu einem bemoosten
Vorsprung, der weiche Sitze bot. Hier zog sie ihn nieder, und wie sie
so lagerten, sagte sie: "Nun ist das Märchen erfüllt von dem Bruder
und der Schwester, die zusammen über Berg und Tal wandern. Alles ist
schön in Erfüllung gegangen."
"Haust hier unten auch eine?" neckte Wulfrin den Buben. Gabriel blieb
die Antwort schuldig, denn er mochte sich vor dem Höfling nicht
bloßstellen.
"Dumme Geschichten", lachte dieser, "es gibt keine Elben."
"Nein", sagte Gabriel bedenklich und
kratzte sich das Ohr, "es gibt keine, nur darf man sie nicht mit wüsten
Worten rufen oder gar ihnen Steine ins Wasser schmeißen. Aber, Herr,
wo hast du dein Hifthorn? Du trugest es an der Seite, da du nach Malmort
kamst."
"Es ist in den Strom gestürzt", fertigte ihn der Höfling ab.
"Das ist nicht gut", meinte der Knabe.
"Heho, Gabriel!" rief es aus der Ferne, und ein anderer Hirtenbube
wurde sichtbar. "Ein Fohlen hat sich nach Alp Grun verlaufen,
kohlschwarz mit einem weißen Blatt auf der Stirn. Ich wette, es
gehört nach Malmort."
Gabriel sprang mit einem Satz in die Höhe. "Heilige Mutter Gottes",
rief er, "das ist unsere Magra, der muß ich nach! Lieber Herr,
entlasse mich. Du wirst dich schon zurechtfinden. Ein Mensch ist
vernünftiger als ein Vieh. Dort", er deutete rechts, "Siehst du dort
den roten Grat? Den suche, dahinter ist Pratum. Auch weiß die kleine
Herrin Bescheid." Und weg war er, ohne sich um Antwort zu kümmern.
"Palma", lachte Wulfrin, "wenn da unten eine Elbin leuchtete?"
"Mich würde es nicht wundern", sagte sie. "Oft, wenn ich hier liege,
erhebe ich mich, steige sachte ans Ufer nieder und versuche das Wasser
mit der Zehe. Und dann ist mir, als löse ich mich von mir selbst, und
ich schwimme und plätschere in der Flut. Aber siehe!"
Sie deutete auf ein majestätisches Schneegebirge, das ihnen gegenüber
sich entwölkte. Seine verklärten Linien hoben sich auf dem lautern
Himmel rein und zierlich, doch ohne Schärfe, als wollten sie ihn nicht
ritzen und verwunden, und waren beides, Ernst und Reiz, Kraft und
Lieblichkeit, als hätten sie sich gebildet, ehe die Schöpfung in Mann
und Weib, in Jugend und Alter auseinanderging.
"Jetzt prangt und jubelt der Schneeberg", sagte Palma, "aber nachts,
wenn es mondhell ist, zieht er bläulich Gewand an und redet heimlich
und sehnlich. Da ich mich jüngst hier verspätete, machte sich der
süße Schein mit mir zu schaffen, lockte mir Tränen und zog mir das
Herz aus dem Leibe. Aber siehe!" wiederholte sie.
Eine Wolke schwebte über den weißen Gipfeln, ohne sie zu berühren, ein
himmlisches Fest mit langsam sich wandelnden Gestalten. Hier hob sich
ein Arm mit einem Becher, dort neigten Freunde oder Liebende sich
einander zu, und leise klang eine luftige Harfe. Palma legte den
Finger an den Mund. "Still", flüsterte sie, "das sind Selige!"
Schweigend betrachtete das Paar die hohe Fahrt, aber die von irdischen
Blicken belauschte himmlische Freude löste sich auf und zerfloß.
"Bleibet! oder gehet nur!" rief Palma mit jubelnder Gebärde, "Wir sind
selige wie ihr! Nicht wahr, Bruder?", und sie blickte mit trunkenen
Augen bis in den Grund der seinigen.
Es kam die schwüle Mittagsstunde mit ihrem bestrickenden Zauber.
Palma umfing den Bruder in Liebe und Unschuld. Sie schmeichelte
seinem Gelocke wie die Luft und küßte ihn traumhaft wie der See zu
ihren Füßen das Gestade. Wulfrin aber ging unter in der Natur und
wurde eins mit dem Leben der Erde. Seine Brust schwoll. Sein Herz
klopfte zum Zerspringen. Feuer loderte vor seinen Augen…
Da rief eine kindliche Stimme: "Sieh doch, Wulfrin, wie sie sich in
der Tiefe umarmen!"
Sein Blick glitt hinunter in die schattendunkle Flut, die Felsen und
Ufer und das Geschwisterpaar verdoppelte. "Wer sind die zweie?" rief
er.
"Wir, Bruder", sagte Palma schüchtern, und Wulfrin erschrak, daß er
die Schwester in den Armen hielt. Von einem Schauder geschüttelt
sprang er empor, und ohne sich nach Palma umzusehen, die ihm auf dem
Fuße folgte, eilte er in die Sonne und dem nahen Grate zu, wo jetzt
eine Figur mit einem breiten Hut und einem langen Stabe Wache zu
halten schien.
"Grüß Gott! grüß Gott!" bewillkommte Gnadenreich die Geschwister, ohne
einen Schritt vom Platze zu tun. Er streckte ihnen nur die Hände
entgegen. "Ich habe es dem Ohm feierlich geloben müssen", erklärte er,
"solange die Lombardengefahr dauert, die Grenze meiner Weiden hütend
zu umwandeln, aber nicht zu überschreiten, denn Pratum ist ein Lehen
des Bistums, und die Kirche hält Frieden. Sei willkommen, Wulfrin,
und Palma nicht minder!" Seine Blicke liefen rasch zwischen dem
Höfling und dem Mädchen: beide schienen ihm befangen. Er wurde es
auch, denn er glaubte die Ursache ihres Weges zu wissen, und da sie
schwiegen, begann er ein großes Geplauder.
"Sie haben dem guten Ohm böse mitgespielt", erzählte er. "Wir saßen
zu dreien in der Stube beim Nachtische, denn die Richterin war nach
Chur gekommen, um den Bischof gegen die Lombarden in die Waffen zu
treiben, was er ihr als ein Kind des Friedens verweigern mußte. Frau
Stemma und der Ohm stritten sich bei den Nüssen, wie sie zuweilen tun,
über die Güte der Menschennatur. Nun hatten sich kürzlich zwei arge
Geschichten ereignet. Jucunda, die junge Frau des Montafuners, welche
Bischof Felix gefirmelt hatte"—
"Mit mir. Sie war sein Liebling", rief Palma, die wieder dicht neben
dem Höfling schritt.
"Still!" sagte dieser ungebärdig, und das Mädchen lief nach einer
Blume.—"wurde von ihrem Manne mit einem Edelknecht ertappt und durch
das Burgfenster geworfen. Wenige Tage später schlug der Schamser
mitten im Stiftshofe dem Bergüner nach kurzem Wortwechsel den Schädel
ein, und doch hatten sie eben auf die priesterliche Zusprache des Ohms
sich geküßt und miteinander den Leib des Herrn empfangen. Solches
hielt ihm Frau Stemma vor, doch der Ohm erwiderte: 'Das sind Wallungen
und augenblickliche Verfinsterungen der Vernunft, aber die Natur ist
gut und wird durch die Gnade noch besser.' Der Ohm ist ein bißchen
Pelagianer, hi, hi!"
"Pelagianer?" fragte der Höfling zerstreut, denn sein Blick rief Palma,
die ihm gleich wieder zusprang; "ist das nicht eine Gattung
griechischer Krieger?"
"Nicht doch, Wulfrin, es ist eine Gattung Ketzer. Also: Frau Stemma
und der Ohm stritten über das Böse. Da sieht der Bischof, der
kurzsichtig ist, auf Felicitas—diesen Namen hat er der nahen Höhe
gegeben, wo ihm ein Sommerhaus steht—eine Flamme. Wir feiern den
Abzug der Lombarden", lächelte er. Frau Stemma blickt hin und bemerkt
in ihrer ruhigen Weise: 'Ich meine, sie sind es selber', und richtig
tanzten sie auf dem Hügel wie Dämonen um den Brand.
Da lärmt es auf dem Platz. Ein Bösewicht fällt mit der Türe ins Haus
und redet: 'Bischof, tue nach dem Evangelium und gib mir den Rock,
nachdem du seine Taschen mit Byzantinern gefüllt hast, denn deine
Mäntel haben wir in der Sakristei drüben schon gestohlen!' Der Ohm
erstarrt. Jetzt tritt der Lombarde auf Stemma zu, welche im
Halbdunkel saß, 'Die Frau da', höhnt er, 'hat einen Heiligenschein um
das Haupt, her mit dem Stirnband!' Da erhebt sich Frau Stemma und
durchbohrt den Menschen mit ihren fürchterlichen Augen: 'Unterstehe
dich!' 'Ja so', sagt er, 'die Richterin!' und biegt das Knie. Da der
arme Ohm endlich aufatmete, nach erbrochenen Kisten und Kasten, rief
ihn der Höllenkerl wieder vom Domplatze her ans Fenster. Er ritt mit
nackten Fersen den schönsten Stiftsgaul, dem er eine purpurne
Altardecke übergelegt—sich selbst hatte er ein Meßgewand umgehangen—,
und zog dem Kirchenschimmel mit dem entwendeten Krummstab von Chur
einen solchen über den blanken Hinterbacken, daß er bolzgerade stieg
und der Stab in Trümmer flog. 'Bischof, segne mich!' schrie der
Lombarde. Der Ohm in seiner Frömmigkeit besiegte sich. 'Ziehe hin in
Frieden, mein Sohn!' sprach er und hob die Hände.
'Dich, Bischof', jauchzte der Lombarde, 'hole der Teufel!'
'Und dich hole er gleichfalls!' gab der Ohm zurück. "Ich hätte es
eigentlich nicht erzählen sollen", endete Gnadenreich halb reuig, "es
hat den Ohm schrecklich erbost."
Palma hatte gelacht, auch der Höfling verzog den Mund, und Gnadenreich
wurde immer gesprächiger und zutulicher.
"Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, Wulfrin", sagte er. "Ich
verließ Rom bald nach dir, aber was habe ich nicht dort noch erlebt!
Welche Bekanntschaften habe ich gemacht! Ich ging dein Büchlein im
Palaste holen und traf ihn selbst, der es geschrieben. Welch ein Kopf!
Fast zu schwer für den kleinen Körper! Was da alles drinnesteckt!
Kaum ein Viertelstündchen kostete ich den berühmten Mann, aber in
dieser winzigen Spanne Zeit hat er mich für mein Lebtag in allem Guten
befestigt. Dann pochte es ganz bescheiden und leise, und wer tritt
ein?—ich bitte dich, Wulfrin!—der Kaiser. Ich verging vor Ehrfurcht.
Er aber war gnädig und ergötzte sich, denke dir! an deiner
Geschichte, Wulfrin, die er sich von mir erzählen ließ"—
Jetzt verstand Graciosus sein eigenes Wort nicht mehr, denn sie
gerieten zwischen die Herden und das grüne Pratum wurde voller Geblöke
und Gebrülle. Einer der magern und wolfähnlichen Berghunde
beschnoberte den Höfling, sprang dann aber liebkosend an ihm auf und
beleckte ihn, wenn Graciosus dem Tiere seine Ungezogenheit nicht
verwiesen hätte. Palma aber wurde von den Hirtenmädchen umringt und
mit Verwunderung angestarrt. Die junge Herrin von Malmort war
leutselig und frug alle nach ihren Namen und Herden.
"Ich bin gewiß kein Plauderer", sagte Graciosus, nachdem er Raum
geschafft hatte, "aber du begreifst, wenn der Kaiser befiehlt—
haarklein mußte ich berichten von Horn und Becher, und zumal
die erstaunliche Frau Stemma machte dem hohen Herrn zu schaffen."
Der Höfling blickte verdrießlich.
"Welch ein Mann!" lobpries Gnadenreich. "Der Inhalt und die Höhe des
Jahrhunderts! Wer bewundert ihn genug? Und doch, aber doch—Wulfrin,
ich habe von den Höflingen, deren Umgang ich nicht ganz meiden konnte,
etwas vernommen, das mich tief betrübt, etwas von einer gewissen
Regine… weißt du es?"
"Das ist seine Kebsin", fuhr Wulfrin ehrlich heraus.
"Schlimm, sehr schlimm! Ein Flecken in der Sonne! Kein vollkommenes
Beispiel! Und die Karlstöchter?"
Beispiel! Und die Karlstöchter?"
"Alle Wetter und Stürme", brauste Wulfrin auf, "wer hat mich zum Hüter
der Karlstöchter bestellt?"
"Die Karlstöchter!" rief mitten aus den Herden Palma, die in der
Entfernung die schallende Rede Wulfrins verstanden hatte. "Sie heißen:
Hiltrud, Rotrud, Rothaid, Gisella, Bertha, Adaltrud und Himiltrud.
Gnadenreich hat eine Tabelle davon verfertigt." Die rätischen Mädchen
wiederholten die ihnen fremd klingenden Namen und zogen unter
jubelndem Gelächter die junge Herrin mit sich fort.
Gnadenreich verlangsamte den Schritt. Traulich suchte er die Hand des
Höflings. "Die Ehe ist heilig", sagte er, "und das sollte der Kaiser
nicht vergessen, da er so hoch steht. Du hast erraten, Wulfrin, daß
ich außer ihr geboren bin. Deshalb habe ich eine große Meinung von
ihr und eine wahre Leidenschaft, in der meinigen ein Muster von Tugend
zu sein. Ein gutes Mädchen führe nicht schlecht mit mir. Du kennst
meine Neigung, an der ich festhalte, wenn mir auch Palma zuweilen
Sorge macht. Jetzt sind wir allein—sie scheint heute lenksam—das
könnte die Stunde sein—wenn es dein Wille wäre"—
"Sei nur getrost, Gnadenreich", ermutigte Wulfrin, "die Sache ist
abgemacht."
Hätte einer der Gewalttätigen, welche auf den rätischen Felsen
nisteten, begehrlich nach Palma gegriffen, Wulfrin möchte ihm ins
Angesicht getrotzt und das Schwert aus der Scheide gerissen haben,
aber Graciosus war zu harmlos, als daß er ihm hätte zürnen können.
Und er selbst fühlte sich mit einem Male von einem dunkeln Schrecken
getrieben, die Schwester zu vermählen.
"Abgemacht?" fragte Graciosus, "du willst sagen: zwischen dir und der
Richterin? Doch wie meinst du—ist Palma nicht am Ende zu wild und
groß für mich?"
"Sei nicht blöde und fackle nicht länger! Willst du sie?"
Die Schreitenden hatten eine Hügelwelle überstiegen und erblickten
jetzt diejenige wieder, von der sie redeten. Sie hatte sich
von den Hirtinnen getrennt und stand vor einem der tiefen und
schnellströmenden Bäche, welche die Hochmatten durchschneiden. Neben
ihr irrte ein blökendes Lämmchen, das die Herde verloren hatte, und am
Uferrand sitzend, löste sich eine kropfige Bettlerin blutige Lumpen
von ihrem wunden Fuße und wusch ihn mit dem frischen Wasser. Rasch
entledigte sich das Mädchen der Schuhe, stellte dieselben mit einem
mitleidigen Blick neben die Kretine, hob das Lamm in die Arme, watete
mit ihm durch die Strömung und ließ es seiner Herde nachlaufen.
Da kam über Gnadenreich eine Erleuchtung. "Ich wage es! Ich nehme
sie!" rief er aus. "Sie ist gut und barmherzig mit jeglicher Kreatur!"
"So gehe voraus und richte das Brautmahl! Ich werde für dich werben.
Das ist doch dein Kastell?" In einiger Entfernung stieg aus einem
Bezirke von Hürden und Ställen ein neugebauter Rundturm, über welchem
gerade der Föhn einen ungeheuerlichen Wolkendrachen emportrieb.
Gnadenreich bog seitwärts, die Brücke suchend, während der Höfling den
reißenden Bach in einem Satze übersprang.
Wulfrin erreichte die Schwester. "Du läufst barfuß, Bräutchen?"
"Ich bin kein Bräutchen, und was nützen mir die Schuhe, wenn ich nicht
mit dir durch die Welt laufen darf?"
"Du bist nicht die Törin, das im Ernste zu reden, und die Frau auf
Pratum darf nicht unbeschuht gehen."
Pratum darf nicht unbeschuht gehen."
"Gnadenreich hat nicht den Mund gegen mich geöffnet."
"Er wirbt durch den meinigen. Nimm ihn, rat ich dir, wenn du keinen
andern liebst."
Sie schüttelte den Kopf. "Nur dich, Wulfrin."
"Das zählt nicht."
Sie hob die klaren Augen zu ihm auf. "Geschieht dir damit ein so
großer Gefallen?"
Er nickte.
"So tue ich es dir zuliebe."
"Du bist ein gutes Kind." Er streichelte ihr die Wange. "Ich werde
euch schützen, daß euch nichts Feindliches widerfahre, und bei eurem
ersten Buben Gevatter stehen."
Sie errötete nicht, sondern die Augen füllten sich mit Tränen. "Nun
denn", sagte sie, "aber wir wollen langsam gehen, daß es eine Stunde
dauert, bis wir Pratum erreichen." Der Turm stand vor ihnen. Dem
Höfling aber wurde es offenbar, jetzt da er die Schwester weggab, daß
sie ihm das Liebste auf der Erde sei.
"Hier thronen wir wie die Engel", sagte Graciosus, nachdem er seine
Gäste die Wendeltreppe empor durch die Gelasse seines Turmes und auf
die Zinne geführt hatte, wo das Mahl bereitet war. Der Tisch trug
neben den Broten eine Schüssel Milch mit dem geschnitzten Löffel und
einen Krug voll schwarzdunkeln Weines, ein bischöfliches Geschirr,
denn es war mit der Mitra und den zwei Krummstäben bezeichnet. Die
dreie saßen auf einer Bank, das Mädchen in der Mitte. Die ringsum
laufende Brüstung reichte so hoch, daß sich kaum darüber wegblicken
ließ. Nur der Himmel war sichtbar, und an diesem häuften sich
unheimliche schwefelgelbe Wolken.
"Die Milch für mich, für dich der Wein, Wulfrin", sagte Graciosus.
"Der verreiste noch glücklich aus dem bischöflichen Keller, ehe ihn
die Lombarden leerten. Aber mit wem hält es Fräulein Palma?"
"Mit dir", meinte der Höfling.
Graciosus sprach das Tischgebet. "Nun gleich auch den andern Spruch,
frisch heraus, Gnadenreich!" ermunterte Wulfrin.
Da geschah es, daß der Bischofsneffe, so redegewandt er war, sich auf
nichts besinnen konnte von alle dem Zärtlichen und Verständigen, was
er sich für diesen entscheidenden Augenblick langeher ausgesonnen
hatte. Ratlos blickte er in die warmen braunen Augen. Jetzt gedachte
er des Lämmchens und der bloßen Füße und kam in eine fromme Stimmung.
"Palma novella", bekannte er, "ich liebe dich von ganzem Herzen, von
ganzer Seele und von ganzem Gemüte."
Das war hübsch. Das Mädchen wurde
gerührt und reichte ihm die Hand. Auch Wulfrin mißfiel diese Werbung
nicht. "Nun aber wollen wir ein bißchen lustig sein!" rief er aus.
"Das bringe ich euch!" Er hob den
Krug und trank. Graciosus schöpfte einen Löffel Milch und bot ihn dem Munde seiner Braut. Es war nicht der einzige auf Pratum, aber Gnadenreich wollte eine sinnbildliche Handlung begehen.
Krug und trank. Graciosus schöpfte einen Löffel Milch und bot ihn dem Munde seiner Braut. Es war nicht der einzige auf Pratum, aber Gnadenreich wollte eine sinnbildliche Handlung begehen.
Sie öffnete schon die roten Lippen, da sagte sie: "Heute widersteht
mir die Milch. Gib du mir zu trinken, Wulfrin." Er reichte ihr den
Krug, und sie schlürfte so hastig, daß er ihr denselben wieder aus den
Händen nahm. Darauf schien sie ermüdet, denn sie ließ den Kopf auf
die Schulter und allmählich in die Arme sinken und nickte ein. Die
Föhnluft wurde zum Ersticken heiß. Wulfrin und Graciosus verstummten
ebenfalls, und dieser half sich, indem er seine Milch auslöffelte und
nach ländlicher Sitte zuletzt die Schüssel mit beiden Händen an den
Mund hob. Wulfrin betrachtete den jungen Nacken. Er enthielt sich
nicht und berührte ihn mit den Lippen. Sie erwachte.
"Aber wir sitzen auf dem Turm wie die drei Verzauberten", sagte sie.
"Geh, Gnadenreich, hole uns das Buch, wo der Bruder abgebildet ist,
das aus dem Stifte—weißt du—, welches du bei deinem letzten Besuche
der Mutter, der ich über die Schulter blickte, gezeigt hast."
Gnadenreich willfahrte ihr, aber sichtlich ungerne.
Palma suchte und fand das Blatt. Über dem lateinischen Texte war
mit saubern Strichen und hellen Farben abgebildet, wie ein Behelmter
den Arm abwehrend gegen ein Mädchen ausstreckt, das ihn zu verfolgen
schien. Mit dem Krieger deuchte er sich nichts gemein zu haben als
den Helm, doch je länger er das gemalte Mädchen beschaute, desto mehr
begann es mit seinen braunen Augen und goldenen Haaren Palma zu
gleichen. Um die Figur aber stand geschrieben: "Byblis."
"Erzähle und deute, Gnadenreich", bat Palma. Graciosus blieb stumm.
"Nun, so will ich erklären. Das hier ist der Bruder auf Malmort, wie
er anfangs war und mich wegstößt."
"Das ist nichts für dich, Palma!" wehrte Graciosus ängstlich, "laß!",
und er entzog das Buch ihren Händen.
"Ihr seid beide langweilig!" schmollte sie. "Ich gehe lieber. Drüben
am Hange sah ich blühende Rosen in dichten Büschen stehen. Ich will
mir einen Kranz winden", und sie entsprang.
Ein blendender Blitz fuhr über Pratum weg und dem Höfling durch die
Adern. "Warum hast du ihr das Buch weggenommen?" fragte er gereizt.
Adern. "Warum hast du ihr das Buch weggenommen?" fragte er gereizt.
"Weil es für Mädchen nicht taugt", rechtfertigte sich Gnadenreich.
"Warum nicht?"
"Die Schwester im Buche liebt den Bruder."
"Natürlich liebt sie ihn. Was ist da zu suchen?"
Graciosus antwortete mit einer Miene des Abscheus: "Sie liebt ihn
sündig! sie begehrt ihn."
Wulfrin entfärbte sich und wurde totenbleich. "Schweig, Schurke!"
schrie er mit entstellten Zügen, "oder ich schleudere dich über die
Mauer!"
"Um Gottes willen", stammelte Graciosus, "was ist dir? Bist du
verhext? Wirst du wahnsinnig?" Er war von Wulfrin und dem Buche
weggesprungen, in welches dieser mit entsetzten Blicken hineinstarrte.
"Ich beschwöre dich, Wulfrin, nimm Vernunft an und laß dir sagen: das
hat ein heidnischer Poet ersonnen, leichtfertig und lügnerisch hat er
erfunden, was nicht sein darf, was nicht sein kann, was unter Christen
und Heiden ein Greuel wäre!"
"Und du liesest so gemeine Bücher und ergötzest dich an dem Bösen,
Schuft?"
Schuft?"
"Ich lese mit christlichen Augen", verteidigte sich Gnadenreich
beleidigt, "zu meiner Warnung und Bewahrung, daß ich den Versucher
kenne und nicht unversehens in die Sünde gleite!"
Die Hände des Höflings zitterten und krampften sich über dem Blatte.
"Bei allen Heiligen, Wulfrin, zerstöre das Buch nicht! Es ist das
teuerste des Stiftes!"
"Ins Feuer mit ihm!" schrie der Höfling, und weil kein Herd da war als
der lodernde des offenen Himmels, riß er das Blatt in Fetzen und warf
sie hoch auf in den wirbelnden Sturm.
Es trat eine Stille ein. Graciosus betrachtete stöhnend das
verstümmelte Buch, während Wulfrin mit verschlungenen Armen und
unheimlichen Augen brütete. So beschlich ihn die zurückkommende Palma
und setzte ihm den leichten von ihr gewundenen Kranz auf das belastete
Haupt.
Er fuhr zusammen, da er das Geflechte spürte, zerrte es sich ab, riß
es entzwei und warf es mit einem Fluche dem vom Laufe erhitzten
Mädchen zu Füßen.
Da flammten ihr die Augen und sie streckte sich in die Höhe: "Du
Abscheulicher! Tust du mir so?" Zornige Tränen drangen ihr hervor.
"Nun nehme ich auch den Gnadenreich nicht, dir zuleide!"
Abscheulicher! Tust du mir so?" Zornige Tränen drangen ihr hervor.
"Nun nehme ich auch den Gnadenreich nicht, dir zuleide!"
"Palma", befahl er, "gleich kehrst du nach Hause! Über die Alp!
Wende dich nicht um! Ich gehe durch die Schlucht! Läufst du mir über
den Weg, so werfe ich dich in den Strom!"
Sie sah ihn jammervoll an. Seine Todesblässe, das gesträubte Haar,
das unglückliche Antlitz erfüllten sie mit Angst und Mitleid. Sie
machte eine Bewegung gegen ihn, als wollte sie ihm mit beiden Händen
die pochenden Schläfen halten. "Hinweg!" rief er und riß das Schwert
aus der Scheide.
Da wandte sie sich. Er blickte über die Brüstung und sah, wie sie in
wildem Laufe durch die Alp eilte. Auch er verließ das Kastell und
schlug, von dem nahen Tosen des Stromes geführt, den Weg gegen die
Schlucht ein, die furchtbarste in Rätien. Gnadenreich gab ihm kein
Geleit.
Da er in den Schlund hinabstieg, wo der Strom wütete, und er im
Gestrüppe den Pfad suchte, störte sein Fuß oder der ihm vorleuchtende
Wetterstrahl häßliches Nachtgevögel auf, und eine pfeifende Fledermaus
verwirrte sich in seinem Haare. Er betrat eine Hölle. Über der
rasenden Flut drehten und krümmten sich ungeheure Gestalten, die der
flammende Himmel auseinanderriß und die sich in der Finsternis wieder
umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen und den schönen
Maßen der Erde. Das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der
Auflehnung. Gestreckte Arme schleuderten Felsstücke gegen den Himmel.
Hier wuchs ein drohendes Haupt aus der Wand, dort hing ein gewaltiger
Leib über dem Abgrund. Mitten im weißen Gischt lag ein Riese, ließ
sich den ganzen Sturz und Stoß auf die Brust prallen und brüllte vor
Wonne. Wulfrin aber schritt ohne Furcht, denn er fühlte sich wohl
unter diesen Gesetzlosen. Auch ihn ergriff die Lust der Empörung, er
glitt auf eine wilde Platte, ließ die Füße überhangen in die Tiefe,
die nach ihm rief und spritzte, und sang und jauchzte mit dem Abgrund.
Da traf der starre Blick seines zurückgeworfenen Hauptes auf ein Weib
in einer Kutte, das am Wege sag. "Nonne, was hast du gefrevelt?"
fragte er. Sie erwiderte: "Ich bin die Faustine und habe den Mann
vergiftet. Und du, Herr, was ist deine Tat?"
Lachend antwortete er: "Ich begehre die Schwester!"
Da entsetzte sich die Mörderin, schlug ein Kreuz über das andere und
lief so geschwind sie konnte. Auch er erstaunte und erschrak vor dem
lauten Worte seines Geheimnisses. Es jagte ihn auf, und er floh vor
sich selbst. Schweres Rollen erschütterte den Grund, als öffne er
sich, ihn zu verschlingen. Von senkrechter Wand herab schlug ein
mächtiger Block vor ihm nieder und sprang mit einem zweiten Satz in
die aufspritzende Flut.
Der Himmel schwieg eine Weile, und Wulfrin tappte in dunkler Nacht.
Da erhellte sich wiederum die Schlucht, und auf einer über den Abgrund
gestürzten Tanne sah er die Schwester mit nackten und sichern Füßen
gegen sich wandeln, und jetzt lag sie vor ihm und berührte seine Knie.
"Was habe ich dir getan", weinte sie, "warum fliehst, warum
verwünschest du mich? Bruder, Bruder, was habe ich an dir gesündigt?
Ich kann es nicht finden! Siehe, ich muß dir folgen, es ist stärker
als ich! Ich lief drüben, da sah ich den Steg. Töte mich lieber! Ich
kann nicht leben, wenn du mich hassest! Tue, wie du gedroht hast!"
Er stieß einen Schrei aus, ergriff, schleuderte sie, sah sie im
Gewitterlicht gegen den Felsen fahren, taumeln, tasten und ihre Knie
unter ihr weichen. Er neigte sich über die Zusammengesunkene. Sie
regte sich nicht, und an der Stirn klebte Blut. Da hob er sie auf
mächtigen Armen an seine Brust und schritt, ohne zu wissen wohin, das
Liebe umfangend, dem Tale zu.
Er hatte die Klus hinter sich, da sauste es an ihm vorüber, und er
erblickte einen Knaben, der ein scheues Roß zu bändigen suchte. "He,
Gabriel", rief er ihm nach, "sage der Richterin, sie rüste den Saal
und richte das Mahl! Tausend Fackeln entzündet! Malmort strahle!
Ich halte Hochzeit mit der Schwester!" Der Sturm verschlang die
rasenden Worte. Malmort mit seinen Türmen stand schwarz auf dem noch
wetterleuchtenden Nachthimmel.
Mit seiner Last den Burgpfad emporsteigend, sah er oben Lichter hin-
und herrennen. Dann begegnete er der geängstigten Mutter, die ihm
halben Weges entgegengeeilt war. "Wulfrin", flehte sie mit
ausgestreckten Armen, "wo hast du Palma?" "Da nimm sie", sagte er und
bot ihr die Leblose.
VIERTES KAPITEL
Da Wulfrin am folgenden Tage erwachte, lag er unter den schwarzschattenden Büscheln einer gewaltigen Arve, während die Matten ringsum schon in der Mittagssonne schimmerten. Er hatte eben noch, den würzigen Waldgeruch einatmend, heiter und glücklich geträumt von dem Wettspiel in einer römischen Arena und im Speerwurf einen Lorbeerkranz davongetragen. Sein Blut floß ruhig, und seine Stirne war hell.
Nachdem er gestern Palma der Mutter in die Arme gelegt, war er ins
Dunkel zurückgewichen. Mit irren Füßen, in ruhelosem Laufe, kreuz und
quer, hatte er das Gebiet von Malmort durchjagt, bis weit über
Mitternacht hinaus, und war dann im Morgengrauen niedergestürzt und in
einen bleiernen Schlaf versunken.
Er fand sich auf einer von leichtgeschwungenen Hügeln umgebenen Wiese,
fernab von dem Geläute der Herdglocken, in tiefer Einsamkeit. Nur ein
Specht hämmerte, und zwei Eichhörner tummelten und neckten sich in der
Mitte ihres grünen Bezirkes. Wulfrin rieb sich den Schlummer aus den
Augen und schaute umher. Da entdeckte er über dem Hügelrande die
Giebel und Turmspitzen von Malmort. Er ließ sich auf dem Hange
gleiten, und sie verschwanden.
Allmählich schlich sich das Gestern an ihn heran, er wehrte es ab, er
mißtraute ihm, er wollte, er konnte es nicht glauben. War er nicht
der Starke und Freie, der Fröhliche und Zuversichtliche, der dem
Feinde ins Auge sah und das Irrsal mit dem Schwerte durchschnitt? Was
war denn geschehen? Eine rätselhafte Frau hatte ihn übermocht, zu
beschwören, was er nicht bezweifelte. Ein Mädchen, das sich in der
Langenweile eines Bergschlosses den vollkommensten Bruder ausgesonnen,
war ihm zugesprungen und hatte sich närrisch ihm an den Hals gehängt.
Ein tückischer Becher ungewohnten Weines oder das freche Bild einer
ausschweifenden Fabel oder der heiße Hauch des Föhnes oder was es
sonst gewesen sein mochte, hatte ihn betört und verstört. Und was er
an den Felsen geschleudert, war nicht die Schwester—wie hätte sie den
gähnenden Abgrund überschritten?—, sondern irgendein Blendwerk der
Gewitternacht.
"Und war es die Schwester und habe ich sie zerschmettert, so bin ich
ihrer ledig", trotzte er, und zugleich ergriff ihn ein unendliches
Mitleid und die inbrünstigste Liebe zu dem jungen Leben, das er
mißhandelt und vernichtet hatte. Er sah sie mit allen ihren Gebärden,
jedes ihrer süßen und unschuldigen Worte nahm Gestalt an, er schaute
in ihre seligen Augen und in ihre wehklagenden. Jetzt fühlte er sie,
die sich weinend und schmeichelnd mit ihm vereinigte, und wußte, daß
sie noch lebte und atmete. "Meine Seele! Blut meiner Adern!" rief er
und wieder: "Palma! Palma!"
"—Palma!" wiederholte das Echo.
"Palma mein Weib!" Das Echo entsetzte sich und verstummte.
Ein tödlicher Schauer durchrieselte sein Mark. Sich auf die Rechte
stützend, hob er sich halb von der Erde und langte mit der Linken nach
der blutenden Brust wie auf dem Schlachtfelde. "Es sitzt!" ächzte er.
"ich bin der Schrankenlose, der Übertreter, der Verdammte! Ich muß
sterben, damit die Schwester lebe! Doch womit habe ich den Himmel
beleidigt? wodurch habe ich die Hölle gelockt?" Rasch übersann er sein
Leben, er fand darin keinen Makel, nur läßlichen Fehl. "Nun, wen's
trifft, den trifft's! Ich habe eben das schlimme Los aus dem Helme
gezogen und verwundere mich nicht, kenne ich ja die Grausamkeiten der
Walstatt. Es geht vorüber!" Da schien ihm denn doch das Dasein ein
Gut, so leicht er es sonst wertete, jetzt da er, ob auch unter
grimmigen Schrecken, seinen tiefsten Reiz und seine geheimste
Lieblichkeit gekostet hatte. Er hob die starken Hände vor das
Angesicht und schluchzte…
Mählich verlängerten sich die Schatten, und es wurde still über der
Wiese. Da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Ohne das Haupt
zu wenden, sagte er: "Ich komme", und wollte sich erheben, denn er
wußte, es war der Tod, der zu ihm trat, um ihn an den jähesten Abgrund
zu führen.
"Bleibe, Wulfrin!" sprach weich die Stimme der Richterin, "ich setze
mich zu dir", und Frau Stemma ließ sich neben ihn auf das Moos gleiten
in einem weiten langen Gewande, das selbst die Spitzen der Füße
verhüllte.
"Berühre mich nicht!" schrie er und warf sich zurück. "Ich bin ein
Unseliger!"
Unseliger!"
"Ich suchte dich lange", sagte sie. "Warum bliebest du ferne? Dir
ist bange für Palma? Die wurde nur leicht verwundet, hat aber in
tiefer Ohnmacht gelegen. Erwachend hat sie erzählt, wie euch gestern
das Gewitter in der Schlucht überraschte, wie sie glitt und die
Besinnung verlor. Auf deinen Armen hast du sie getragen."
Wulfrin blieb stumm.
"Oder redete sie unwahr, und du warfest sie an den Felsen, um sie zu
zerschmettern?"
Er nickte.
Sie schwieg eine Weile, dann hob sie die Hand und berührte wiederum
seine Schulter. "Wulfrin, du hassest deine Schwester oder—du liebst
sie!" Sie fühlte, wie der Höfling vom Wirbel zur Zehe zitterte.
"Es ist entsetzlich", stöhnte er.
"Es ist entsetzlich", sagte sie, "aber unerklärlich ist es nicht. Ihr
seid ferne voneinander erwachsen, wurdet eurer Angesichter und
Gestalten nicht gewöhnt, und so waret ihr euch frisch und neu, da ihr
euch fandet, wie ein fremder Mann und ein fremdes Weib. Mutig! Rufe
und rufe es deinen Gedanken und Sinnen zu. Palma und Wulfrin sind
eines Blutes! Sie werden schaudern und erkalten und nicht länger die
himmlische Flamme der Geschwisterliebe verwechseln mit dem
schöpferischen Feuer der Erde."
Er antwortete nicht, kaum daß er ihre Worte gehört hatte, sondern
murmelte zärtlich: "Warum hast du sie Palma novella getauft? Das ist
ein gar seltsamer und schöner Name!"
Stemma erwiderte: "Ich habe sie die
junge Palme genannt, weil sie aus dem Schutte des Grabes frisch und
freudig aufsprießt, und, bei meinem Leben! wer an dem schlanken Stamme
frevelt, den richte und töte ich!
Noch ist Palma unschuldig. Deine rasende Flamme hat ihr nicht ein Härchen der Wimper, nicht den äußersten Saum des Kleides versengt.
Unglücklicher, wie ist ein solches Leiden über dich gekommen?"
Noch ist Palma unschuldig. Deine rasende Flamme hat ihr nicht ein Härchen der Wimper, nicht den äußersten Saum des Kleides versengt.
Unglücklicher, wie ist ein solches Leiden über dich gekommen?"
"Wie eine Seuche, die aus dem Boden dampft! Aber mein Schutzengel
warnte mich vor Malmort. Da du mich riefest, verschloß ich das Ohr.
Ich bog ab und fiel in die Hände der Lombarden. Warum hast du den
Pfeil des Witigis gehemmt?" Er starrte vor sich nieder. Dann schrie
er verzweifelnd auf und ergriff und preßte den Arm der Richterin, die
finstern Augen fest auf das ruhige Antlitz heftend: "Bei dem Haupte
Gottes—"
"Bei dem Haupte Palmas", sagte sie.
"Ist sie meine Schwester?"
"Wie sonst? Ich weiß es nicht anders. Was denkst du dir?"
"Dann ist mein Haupt verwirkt und jeder meiner Atemzüge eine Sünde!"
Er sprang auf, während sie ihn mit nervigen Armen umschlang, so daß er
sie mit sich emporzog.
"Wohin, Wulfrin? In eine Tiefe? Nein, du darfst diesen starken Leib
und dieses tapfere Herz nicht zerstören! Nimm dein Roß und reite!
Reite zu deinem Kaiser! Mische dich unter deine Waffenbrüder! Ein
paar Tagritte, und du bist gesundet und blickst so frei wie die andern!"
"Das geht nicht", sagte er jammervoll. "Wir leiden nicht den
geringsten Makel in unserer Schar, und ich sollte verräterisch die
Schande unter uns verstecken?"
"So stachle dein Roß, reite Tag und Nacht, über Berg und Fläche,
springe in ein Schiff, bringe ein Meer und ein zweites zwischen sie
und dich, und wenn dich Delphin und Nixe umgaukelt, tauchen vor dir
aus der Bläue Inseln und Vorgebirge, verwegenes Abenteuer und die
Schönheit als Beute!"
"Was hülfe es?" sagte er. "Sie zöge mit mir, die Nixe trüge ihr
Angesicht, und ich umarmte sie in jedem Weibe! Denn ich bin mit ihr
vermählt ewiglich. Nein, ich kann nicht leben!"
"Das ist Feigheit!" sprach sie leise.
Der Schimpf trieb ihm wie ein Schlag das Blut ins Angesicht. Er
bäumte sich auf. "Du hast recht, Frau!" schrie er. "Ich darf nicht
als ein Feigling umkommen, du selbst sollst mich richten und
verurteilen. Am lichten Tag, unter allem Volke, will ich den Greuel
bekennen und die Sühne leisten!" So rief er in zorniger Empörung, dann
aber besänftigte sich sein Angesicht, denn er hatte die Lösung
gefunden, die ihm ziemte.
"Unsinn!" sagte sie. "Solche verborgene Dinge bekennt man nicht dem
Tage, denn du bist ein Verbrecher nur in deinen Gedanken. Die Tat
aber und nur die Tat ist richtbar."
"Frau, das wird sich offenbaren! Vernimm, was ich tue. Ich wandere
zu dem Kaiser und spreche zu ihm: Siehe, Wulfrin der Höfling begehrt
das eigene Blut, das Kind seines Vaters! Es ist so, er kann nicht
anders. Schaffe den Sünder aus der Welt! Und spricht der Kaiser: Die
Tat ist nicht vollbracht, so antwortet Wulfrin: Ich vollbringe sie mit
jedem Atemzuge!"
"Auf sündiger Geschwisterliebe", drohte Frau Stemma, "steht das Feuer."
Wulfrin lachte.
"Und du willst vor dem ganzen Volke dastehen in deiner Blöße?"
"Ich will dastehen", sagte er, "als der, welcher ich bin."
"So mangelt dir der Verstand und die Kraft, das Geheimnis der Sünde zu
tragen?"
"Das ist Weibes Art und Weibes Lust", sagte er verächtlich.
"Und du wirst mit dem Kaiser kommen, und ich soll dich richten?"
"Du!"
"Das werde ich!" sagte sie und entfernte sich langsam.
Jetzt da Wulfrin sein Schicksal entschieden und vollendet glaubte, kam
die Ruhe des Abends über ihn. Er blieb unter seiner Arve, bis die
Sonne niederging und der Tag ihr folgte. Und wie sie mit gebrochenen
Speeren sich legte und ihr Blut am Himmel verströmte, erlosch er mit
ihr und sah sich die Schwester, wie das Spätlicht, im grünen Gewande
und auf stillen Sohlen nachschreiten. Das aufgegebene Schwert reute
ihn nicht. "Sie werden drüben einen Krieger brauchen", sagte er sich
und wandelte schon unter den seligen Helden.
Wie es Nacht war und der Mond leuchtete, ging er sachte bergab, denn
er gedachte ein Seitental zu gewinnen und seinen Kaiser zu erreichen,
ohne daß er Malmort und die Stapfen der Schwester berühre. Beide
wollte er nur am Gerichtstage wiedersehen. Er gelangte an den Strom,
der hier ohne Gewalt und Sturz Klippen und Felsen breit überflutete.
Das Mondlicht verlockte ihn, sich auf ein Felsstück zu lagern und
wunsch- und schmerzlos mit den Wellen dahinzufließen. Er wurde sich
selbst zum Traume.
Da sah er Elb oder Elbin tauchen.
Es schwamm weiß im Strome, ein Nacken schimmerte, und jetzt hob der
blanke Arm ein Hifthorn in die Höhe, das der Mond versilberte. Er
erkannte sein entwendetes Erbteil
und trat ohne Hast und Erstaunen dem freundlichen Wunder nahe.
und trat ohne Hast und Erstaunen dem freundlichen Wunder nahe.
"Herr Wulfrin", jubelte eine Knabenstimme, "freue dich! Glück über
dir! Ich halte dein Horn!", und Gabriel, der sein Hirtenhemde wieder
umgeworfen hatte, sprang zu ihm empor.
"Schon heute mittag", erzählte er, "sah ich es beim Fischen auf dem
Grunde. Ich kannte es gleich, doch war ich nicht allein und mußte die
Nacht erwarten. Hat es schon lange gelegen?" Er schüttelte das Horn
und ließ das Wasser sorgfältig aus der Bauchung abtropfen. "Wenn es
nur nicht verdorben ist!" Er hob es an den Mund und stieß darein, daß
die Berge widerhallten. "Hier, Herr!" sagte er. "Wahrhaftig, es hat
ihm nichts getan. Ein wackeres Schlachthorn!"
Wulfrin ergriff es und hing es sich um. Als er sich aber einen
Goldring—irgendein Beutestück—von der Hand ziehen wollte, um den
Knaben abzulohnen, wehrte Gabriel. "Nein, Herr, lege lieber ein Wort
für mich ein, daß mich der Kaiser mitreiten läßt! Doch jetzt muß ich
heim! Ich habe noch in den Ställen zu tun. Kommst du mit? Ich weiß
Stapfen an dem Felsen empor, und wir gelangen durch ein
Hinterpförtchen noch einmal so rasch in den Hof als auf dem Burgwege."
Und Wulfrin folgte. Die Handlichkeit und Herzlichkeit des Buben hatte
seine Sinne und Geister erwärmt. Der Wiedergewinn seines Erbes weckte
das Bild des Vaters und die kindliche Gesinnung auf. Und obwohl aus
dem Elben ein Menschenknabe geworden war, zitterte doch über dem Strom
ein Schimmer von Geisterhilfe. "Am Ende ist es der Vater", sagte er
sich, "und er wird mir beistehen, wenn er kann. Wenn er noch irgend
da ist, läßt er mich nicht elend umkommen. Ich will ihn rufen.
Vielleicht antwortet er. Es ist ein Glaube, daß der Tote aus dem
Grabmal mit seinen Kindern redet. Ich wage es! Ich blase ihn wach!
Dann frage ich nichts als: Vater, ist Palma dein Kind? Redet er nicht,
so nickt er wohl oder schüttelt das Haupt." Obschon der Höfling an
Stemma nicht zweifelte, deren Wesen über ihn Gewalt hatte, focht ihn
doch der Widerspruch zwischen dem Glauben an die Lebendige und der
Frage an den Toten wenig an. Er fühlte einfach, daß er den
Vater—wenn dieser zu erreichen sei—befragen und beraten müsse, ehe
er sich anklage und sich richten lasse. Aber seine Ruhe war weg, sein
Geist gespannt, und er hörte kein Wort von dem, was der Knabe
unterweges plauderte.
Ebenso unruhig schritt Stemma hinter dem erhellten Fenster, das der
Emporklimmende über dem Burgfelsen aufsteigen sah. Aus der Ferne und
Tiefe war ein Ton zu ihr hergedrungen, den sie haßte und den sie
vernichtet zu haben glaubte. Während ihr Kind auf dem Lager
schlummerte, ging sie rastlos auf und nieder. Sie vergegenwärtigte
sich Wulfrin, wie er vor Kaiser und Volk eines seltenen, ja
unglaublichen Frevels sich beschuldigte, und ihr wurde bange, daß sie
und wie sie über ihn richten werde.
War es denkbar, daß sich die Natur so verirrte? daß ein so lauterer
Mensch in eine solche Sünde verfiel? War es nicht wahrscheinlicher,
daß hier Irrtum oder Lüge Bruder und Schwester gemacht hatte? So
hätte die Richterin ohne Zweifel geforscht und untersucht, wäre sie
nicht Stemma und Palma nicht ihr Kind gewesen. Aber sie durfte nicht
untersuchen, denn sie hätte etwas Vergrabenes aufgedeckt, eine,
zerstörte Tatsache hergestellt, ein Glied wieder einsetzen müssen, das
sie selbst aus der Kette des Geschehenen gerissen hatte.
Jetzt begann es mit einem Male vor
ihr aufzutauchen, die Sünde des Unschuldigen sei das gegen sie selbst
heranschreitende Verhängnis.
"Gilt es mir? Wird ein Plan gegen mich geschmiedet? Ist eine Verschwörung im Werke?" rief sie ins Dunkel hinein.
"Gilt es mir? Wird ein Plan gegen mich geschmiedet? Ist eine Verschwörung im Werke?" rief sie ins Dunkel hinein.
Da hatte sie ein Gesicht. Sie erblickte mit den Augen des Geistes
durch die dämmernde Wand, weit in der Ferne und doch ganz nahe, ein
gewaltiges Weib von furchtbarer Schönheit. Diese saß in langen,
blauen Gewanden, eine Tafel auf das übergelegte Knie gestützt, einen
Griffel in der Hand, schreibend oder zählend, irgendeine Lösung
suchend. Nach einigem Sinnen ging ein stilles langsames Lächeln über
den strengen Mund und schien zu sagen: So ist es gut und siehe, es ist
so einfach!
Da glaubte die Richterin eine Feindin sich gegenüber zu sehen und
trotzte ihr, Weib gegen Weib. "Das bringst du nicht heraus! Du
findest keine Zeugen!" Die Fremde aber hob die Tafel mit beiden Händen
empor über die sonnenhellen Augen und verschwand. "Du hast keine
Zeugen!" rief ihr die Richterin nach. Ihr antwortete ein
erschütternder Ruf, der aus allen Wänden, aus allen Mauern drang, als
werde die Posaune geblasen über Malmort.
Stemma erbebte. Sie sprang an das Lager ihres Kindes, um es fest in
den Armen zu halten, wenn Malmort unterginge. Palma war nicht erwacht,
sie schlief ruhig fort. Die Richterin besann sich. Hatte der
grauenhafte Ton in Tat und Wahrheit diese Luft, diese Räume, diese
Mauern erschüttert? Müßte Palma nicht aus dem tiefsten Schlummer
aufgefahren sein? Es war unmöglich, daß der gewaltige Ruf sie nicht
geweckt hätte. Frau Stemma war nicht unerfahren in solchen
unheimlichen Dingen: sie kannte die Schrecken der Einbildung und die
Sprache der überreizten Sinne. Sie hatte es erfahren an den
Schuldigen, die sie richtete, und an sich selbst. "Das Ohr hat mir
geklungen", sagte sie, die noch am ganzen Leibe zitterte.
Hätte sie durch Dielen und Mauern blicken können, so sah sie den
bleichen Wulfrin, der an der Gruft des Vaters kniete, ins Horn stieß,
ihn rührend beschwor, ihm herzlich zusprach, Rede zu stehen. Sie
hätte gesehen, wie Wulfrin, da der Stein schwieg, das Horn zum andern
Male an den Mund setzte und endlich verzweifelnd über die Mauer sprang.
Wieder schütterte Malmort in seinen Tiefen, stärker noch als das
erstemal. Da war kein Zweifel mehr, es war das Wulfenhorn, das sie
mitten in Gischt und Sturz geschleudert und in unzugängliche Tiefen
hatte versinken sehen. Sie sann an dem ängstlichen Rätsel und konnte
es nicht lösen. Sie sann, bis ihr die Stirnader schwoll und das Haupt
stürmte.
Da fiel ihr zur bösen Stunde der Comes ein, wie er murmelnd im Schilfe
sitze und mit dem schweren Kopfe unablässig daran herumarbeite, ob
Frau Stemma ihm ein Leides getan. "Er besucht sein Grabmal und stößt
in sein Horn! Er stört die Nacht! Er verwirrt Malmort! Er schreckt
das Land auf! Das leide ich nicht! Ich verbiete es ihm! Ich bringe
den Empörer zum Schweigen!" Und der Wahn gewann Macht über diese Stirn.
Ohne sich nach Palma umzusehen, stürzte sie zornig die Wendeltreppe
hinab und betrat den Hof, wo der Comes und ihr eigenes Bild auf der
Gruft lagen. Darüber webte ein ungewisser Dämmer, da eine leichte
Wolke den Mond verschleierte. Der Comes ließ sein Horn zurückgleiten,
und die steinerne Stemma hob die Hände, als flehe sie: Hüte das
Geheimnis!
Aufgebracht stand die Richterin vor dem Ruhestörer. "Arglistiger",
schalt sie, "was peinigst du mein Ohr und bringst mein Reich in
Aufruhr? Ich weiß, worüber du brütest, und ich will dir Rede stehen!
Keine Maid hat dir der Judex gegeben! Ich trug das Kind eines andern!
Du durftest mich nie berühren, Trunkenbold, und am siebenten Tage
begrub dich Malmort! Siehst du dieses Gift?" Sie hob das Fläschchen
aus dem Busen. "Warum ich leben blieb, die dir den Tod kredenzte?
Dummkopf, mich schützte ein Gegengift! Jetzt weißt du es! Palma
novella unter meinem Herzen hat dich umgebracht! Und jetzt quäle mich
nicht mehr!"
So grelle und freche Worte redete die Richterin.
Durch ihr lautes Schelten zu sich selbst gebracht, betrachtete sie
wieder den Comes, der jetzt im klarsten Mondenlichte lag. Die
furchtbare Geschichte kümmerte ihn nicht, er lag regungslos mit
gestreckten Füßen. Jetzt sah sie, daß sie zum Steine gesprochen, und
schlug eine Lache auf. "Heute bin ich eine Närrin!" sagte sie. "Ich
will zu Bette gehen."
Sie wandte sich. Palma novella stand hinter ihr, weiß, mit
entgeisterten Augen, das Antlitz entstellt, starr vor Entsetzen. Der
zweite Hornstoß hatte sie geweckt, und sie war der Mutter auf
besorgten Zehen nachgeschlichen.
Zwei Gespenster standen sich gegenüber. Dann packte Stemma den Arm
des Mädchens und schleppte es in die Burg zurück. Sie selbst hatte
ihrem Geheimnisse einen Mund und einen Zeugen gegeben, und dieser
Zeuge war ihr Kind.
FUNFTES KAPITEL
Seit der Höfling aus Malmort verschwunden war, lastete auf den schweren Mauern Schweigen und Kümmernis. Das Gesinde munkelte allerlei, und Knechte und Dirnen steckten die Köpfe zusammen. Die junge Herrin sei krank. Es sei ihr angetan worden. Irgendein Zauber—ob sie einer Drude begegnet oder ein giftiges Kraut verschluckt oder aus einem schädlichen Quell getrunken—habe die Ärmste der Vernunft beraubt. Ihr mangle der Schlummer, sie weine unablässig und lasse sich weder trösten noch auch nur berühren. Ihr widerstehe Speise und Trank und sie schwinde zum Gerippe. Die Laute und Wilde sei gar still und zahm und ihr Lebensfaden zum Reißen dünn geworden. Die bekümmerte Richterin folge ihr auf Schritt und Tritt und dürfe sie nicht aus den Augen lassen.
Zwei Mägde standen am Brunnen zusammen und flüsterten. Benedicta war
der jungen Herrin unversehens im Flur begegnet und wollte ihr
gebührlich die Hand küssen. Palma sei angstvoll zurückgewichen und
habe aufgeschrien: "Rühre mich nicht an!" Veronica hatte durch das
Schlüsselloch gespäht und was erblickt? etwas ganz Unglaubliches: die
stolze Frau Stemma vor ihrem Kinde niedergeworfen, ihm liebkosend die
Knie umfangend und um die Gnade flehend, daß es den Mund öffne und
einen Bissen berühre.
Die Mägde verstummten, hoben sich die Krüge zu Haupte und drückten
sich, eine hinter der andern, während langsam die Richterin mit Palma
aus der Pforte trat und die Stufen herunterschritt. Frau Stemma
stützte das Mädchen, das, elend und zerstört, sich selbst nicht mehr
gleichsah. Palma ging mit gebeugtem Rücken und unsichern Knien. Groß,
doch ohne Strahl und Wärme, traten die Augen aus dem vermagerten
Antlitz. "Komm, Kindchen", sagte Frau Stemma, "du mußt Luft schöpfen",
und sie öffnete ein Gatter, das auf eine zirpende und summende Wiese
führte, die einen weiten leicht geneigten Vorsprung der Burghöhe
bekleidete und über die Grenzlinie der unsichtbaren Tiefe hinweg in
eine lichte Ferne verlief.
Sie setzten sich auf eine Bank, und Frau Stemma betrachtete ihr Kind.
Da ergrimmte sie und weinte zugleich in ihrem Herzen über die
Verwüstung des einzigen, was sie liebte. Aber sie blieb aufrecht und
gürtete sich mit ihrer letzten Kraft. "Wie", sagte sie sich, "Mir
gelänge es nicht, dieses Gehirnchen zu betören, dieses Herzchen zu
überwältigen?"
"Mein Kind", begann sie, "hier sind wir allein. Laß uns noch einmal
recht klar und klug miteinander reden"—
"Wenn du willst, Mutter."—"miteinander reden von dem Wahne jener
Nacht. Ich wachte, du schliefest. Da lärmt es im Hofe. Ich gehe
hinunter, es war nichts, und ich lache über meinen leeren Schrecken.
Ich wende mich. Du stehst vor mir nachtwandelnd, mit offenen stieren
Augen. Ich ergreife dich und führe dich in das Haus zurück. Und du
erwachst aus dem abscheulichen Traume, der dich jetzt peinigt und
zugrunde richtet."
"Ja und nein, Mutter. Mich weckte ein Ruf, ich sehe dich hinauseilen
und folge dir auf dem Fuße. Du standest im Hofe vor den Steinbildern
und schaltest den Vater und erzähltest ihm"—sie hielt schaudernd inne.
"Was erzählte ich?" fragte die Richterin.
"Du sagtest"—Palma redete ganz leise—"daß ich nicht sein Kind bin.
Du sagtest, daß ich schon unter deinem Herzen lag. Du sagtest, daß du
und ich ihn getötet haben."
"Liebe Törin", lächelte Frau Stemma, "nimm all dein Denken zusammen
und verliere keines meiner Worte. Ich hätte mit einem Steine geredet?
als eine Abergläubische? oder eine Närrin? Kennst du mich so? Und du
wärest nicht das Kind des Comes? Mit wem war ich denn sonst vermählt?
Habe ich dir nicht erzählt, daß ich eine Gefangene war auf Malmort,
bis mich der Comes freite? Und ich hätte den Gatten getötet? Ich,
die Richterin und die Ärztin des Landes, hätte Gifte gemischt? Kannst
du das glauben? Hältst du das für möglich?"
"Nein, Mutter, nein! Und doch, du hast es gesagt!"
"Palma, Palma, mißhandle mich nicht! Sonst müßte ich dich hassen!"
Palma brach in trostlose Tränen aus und warf sich gegen die Brust der
Mutter, die das schluchzende Haupt an sich preßte. "Du bringst mich
um mit deinem Weinen", sagte sie. "Glaube mir doch, Närrchen!"
Palma hob das Angesicht und blickte um sich. "Weidet hier am Rande
ein Zicklein, Mutter?"
"Ja, Palma."
"Läutet dort Maria in valle?" Sie wies ein im Tale schimmerndes Kloster.
"Ja, Palma."
"Ebenso wahr, als ich jetzt nicht
träume und das Zicklein weidet und das Kirchlein läutet, ebensowenig
habe ich geträumt, daß du vor Wulfrins Vater gestanden und ihn angeredet
hast. Es war so, es ist so.
Du sprächest immer die Wahrheit, Mutter."
Du sprächest immer die Wahrheit, Mutter."
"Ich sage dir, Palma, es ist ein Traum. Und ich will, daß es ein Traum sei."
Palma erwiderte sanft: "Belüge mich nicht, Mutter! Habe ich doch
vorhin, da du mich an dich preßtest, den scharfen Kristall empfunden,
welchen du aus dem Busen gezogen und dem Comes gezeigt hast."
Die Richterin schnellte empor mit
einem feindseligen Blicke gegen ihr Kind, glitt aber langsam auf die
Bank zurück, und nachdem sie eine Weile in den Boden gestarrt, sagte
sie: "Wäre es so und hätte ich so
getan, so wäre es deinetwegen."
getan, so wäre es deinetwegen."
"Ich weiß", sagte Palma traurig.
"Habe ich es getan", wiederholte Stemma, "so tat ich es dir zuliebe.
Ich tötete, damit mein Kind rein blieb."
Ich tötete, damit mein Kind rein blieb."
Palma zitterte.
"Warum hast du dich in mein Geheimnis gedrängt, Unselige?" flüsterte
Stemma ingrimmig. "Ich hütete es. Ich verschonte dich. Du hast es
mir geraubt! Nun ist es auch das deinige, und du mußt es mir tragen
helfen! Lerne heucheln, Kind, es ist nicht so schwer, wie du glaubst!
Aber wo sind deine Gedanken? Du bist abwesend! Wohin träumst du?"
"Was ist aus Wulfrin geworden?" fragte sie leise, und eine schwache
Röte glomm und verschwand auf den gehöhlten Wangen.
Röte glomm und verschwand auf den gehöhlten Wangen.
"Ich weiß nicht", sagte die Richterin.
"Jetzt verstehe ich, daß er mich verabscheut", jammerte Palma. "O ich
Elende! Er stößt mich von sich, weil er Mord an mir wittert. Mir
graut vor meinem Leibe! Läge ich zerschmettert!"
"Ängstige dich nicht! Wulfrin hat keinen Argwohn. Er ist gläubig und
er traut."
"Er traut!" schrie Palma empört. "Dann eile ich zu ihm und sage ihm
alles wie es ist! Ich laufe, bis ich ihn finde!" Sie wollte
aufspringen, die Mutter mußte sie nicht zurückhalten, erschöpft und
entkräftet sank sie ihr in den Schoß.
"Ich verrate dich, Mutter!"
"Das tust du nicht", sagte Stemma ruhig. "Mein Kind wird nicht als
Zeugin gegen mich stehen."
Zeugin gegen mich stehen."
"Nein, Mutter."
Die Richterin streichelte Palma. Diese ließ es geschehen. Darauf
sagte sie wieder: "Mutter, weißt du was? Wir wollen die Wahrheit
bekennen!"
Frau Stemma brütete mit finstern Blicken. Dann sprach sie: "Foltere
mich nicht! Auch wenn ich wollte, dürfte ich nicht. Dieser wegen!",
und sie deutete auf ihr Gebiet. "Würde laut und offenbar, daß hier
während langer Jahre Sünde Sünde gerichtet hat, irre würden tausend
Gewissen und unterginge der Glaube an die Gerechtigkeit! Palma! Du
mußt schweigen!"
"So will ich schweigen!"
"Du bist meine tapfere Palma!" und die Richterin schloß ihr den Mund
mit einem Kusse. "Aber Kind, Kind, wie wird dir?" Palmas Augen waren
brechend, und das Herz klopfte kaum unter der tastenden Hand der
Mutter. Diese bettete die Halbentseelte und eilte verzweifelnd in die
Burg zurück.
Sie kam wieder mit einer Schale Wein und einem Stücklein Brot. Sie
kniete sich nieder, brach und tunkte den Bissen und bot ihn der
Entkräfteten. Diese wandte sich ab.
Da bat und flehte die Richterin: "Nimm, Kind, deiner Mutter zuliebe!"
Jetzt wollte Palma gehorchen und öffnete den entfärbten Mund, doch er
versagte den Dienst.
Stemma sah eine Sterbende. Da starb auch sie. Ihr Herz stand stille.
Ein Todeskrampf verzog ihr das Antlitz. Eine Weile kniete sie starr
und steinern. Dann verklärte sich das Angesicht der Richterin, und
ein Schauer der Reinheit badete sie vom Haupt zur Sohle.
"Palma", sagte sie zärtlich, und
dieser warme Klang, hob die Lider des Kindes, "Palma, was meinst du?
Ich lade den Kaiser ein nach Malmort.
Wir treten vor ihn Hand in Hand, wir bekennen und er richtet." Da freuten sich die Augen Palmas, und ihre Pulse schlugen.
Wir treten vor ihn Hand in Hand, wir bekennen und er richtet." Da freuten sich die Augen Palmas, und ihre Pulse schlugen.
"Nimm den Bissen", sagte die Richterin und speiste und tränkte ihr Kind.
Sie führte die Neubelebte in den Hof zurück. In der Mitte desselben
stand Rudio, noch keuchend vom Ritte. "Heil und Ruhm dir, Herrin!"
frohlockte er. "Ich melde den Kaiser! Der Höchste sucht dich heim!
Er naht! Er zieht mächtig heran und mit ihm ganz Rätien!"
"Dafür sei er gepriesen!" antwortete die Richterin. "Komm, Kind, wir
wollen uns schmücken!"
Da Kaiser Karl mit allem Volke den Burgweg erstiegen hatte, hieß er
Gesinde und Gefolge vor dem Tore zurückbleiben und betrat allein den
Hof von Malmort. Stemma und Palma standen in weißen Gewändern. Die
Richterin schritt dem Herrscher entgegen und bog das Knie. Palma
hinter ihr tat desgleichen. Karl hob die Richterin von der Erde und
sagte: "Du bist die Frau von Malmort. Ich habe deine Botschaft
empfangen und bin da, Ordnung zu schaffen, wie du gefordert hast.
Hier ist Freiheit in Frevel und Kraft in Willkür entartet. Ich will
diesem Gebirge einen Grafen setzen. Weißt du mir den Mann?"
"Ich weiß ihn", antwortete die Richterin. "Es ist Wulfrin, Sohn Wulfs,
dein Höfling, ein treuer und tapferer Mann, zwar noch leichtgläubig
und unerfahren, doch die Jahre reifen."
"Ich führe ihn mit mir", sprach der Kaiser, "aber als einen, der sich
selbst anklagt und dein Gericht begehrt, sich so großen Frevels
anklagt, daß ich nicht daran glauben mag. Frau, heute ist mir unter
diesem leuchtenden Berghimmel ein Zeichen begegnet. Vor deiner Burg
hat mein Roß an einer Toten gescheut, die mitten im Wege lag. Ich
ließ sie aufheben. Es ist deine Eigene. Sie harrt vor der Schwelle."
Er dämpfte die Stimme: "Frau, was verbirgt Malmort? Wärest du eine
andere, als die du scheinest, und stündest du über einem begrabenen
Frevel, so wäre deine Waage falsch und dein Gericht eine
Ungerechtigkeit. Lange Jahre hast du hier rühmlich gewaltet. Gib
dich in meine Hände. Mein ist die Gnade. Oder getraust du dich,
Wulfrin zu richten?"
"Herr", antwortete sie, "ich werde ihn und mich richten unter deinen
Augen nach der Gerechtigkeit." Karl betrachtete sie erstaunt. Sie
leuchtete von Wahrheit. "So walte deines Amtes", sagte er.
Dann ging er auf das kniende Mädchen zu. "Palma novella!" sagte er
und hob sie zu sich empor. Sie blickte ihn an mit flehenden und
vertrauenden Augen, und sein Herz wurde gerührt.
"Rudio", gebot die Richterin, "bringe Faustinen her!" Der Kastellan
gehorchte und trug die Bürde herbei, die er an den Grabstein lehnte.
"Jetzt tue auf das Tor und öffne es weit! Alles Volk trete ein und
sehe und höre!"
Da wälzte sich der Strom durch die Pforte und füllte den Raum. Die
Höflinge scharten sich um den Kaiser, Alcuin und Graciosus unter ihnen,
während die Menge Kopf an Kopf stand und selbst Tor und Mauer erklomm,
ein dichter und schweigender Kreis, in dessen Mitte die Gestalt des
Kaisers ragte, in langem, blauem Mantel, mit strahlenden Augen. Neben
ihm Stemma und ihr Kind. Vor den dreien stand Wulfrin und sprach, den
Blick fest und ungeteilt auf Stemma geheftet: "Jetzt richte mich!"
"Gedulde dich!" sagte sie. "Erst rede ich von dieser", und sie wies
auf die entseelte Faustine, die mit gebrochenen Augen und hängenden
Armen an der Gruft saß.
"Räter", sprach sie, und es wurde die tiefste Stille, "ihr kennet jene
dort! Sie hat unter euch gewandelt als eine Rechtschaffene, wofür ihr
sie hieltet. Nun ist ihr Mund verschlossen, sonst riefe er: Ihr irret
euch in mir! Ich bin eine Sünderin. Ich, die das Kind eines andern
im Schoße barg, habe den Mann gemordet"—
"Frau", schrie Wulfrin ungeduldig, "was bedeutet die Magd! Mich laß
reden, meinen Frevel richte, damit ein Ende werde!"
"Nun denn! Aber zuerst, Wulfrin—nicht wahr, wenn diese hier"—sie
zeigte Palma—"nicht das Kind deines Vaters, nicht deine Schwester,
sondern eine andere und Fremde wäre, dein Frevel zerfiele in sich
selbst?"
"Frau, Frau!" stammelte er.
"Kaiser und Räter", rief Stemma mit gewaltiger Stimme, "ich habe getan
wie Faustine. Auch ich war das Weib eines Toten! Auch ich habe den
Gatten ermordet! Die Herrin ist wie die Eigene. Hört! Nicht ein
Tropfen Blutes ist diesen zweien gemeinsam!" Sie streckte den Arm
scheidend zwischen Wulfrin und Palma. "Hört! hört! Kein Tropfen
gleichen Blutes fließt in diesem Mann und in diesem Weibe! Zweifelt
ihr? Ich stelle euch einen Zeugen. Palma novella, das Kind Stemmas
und Peregrins des Klerikers, hat das Geheimnis meiner Tat belauscht.
Sie glaubt daran und stirbt darauf, daß ich wahr rede. Gib Zeugnis,
Palma!"
Aller Augen richteten sich auf das Mädchen, das mit gesenktem Haupte
dastand. Palma bewegte die Lippen.
"Lauter!" befahl die Richterin.
Jetzt sprach Palma hörbar den Vers der Messe: "Concepit in
iniquitatibus me mater mea…"
Da glaubte das Volk und entsetzte sich und stürzte auf die Knie und
murmelte: "Miserere mei!" Wulfrin streckte die Arme und rief gen
Himmel: "Ich danke dir, daß ich nicht gefrevelt habe!" Karl aber trat
zu Palma und hüllte sie in seinen Mantel.
"Nun richte du, Kaiser!" sprach Stemma.
"Richte dich selbst!" antwortete Karl.
"Nicht ich", sagte sie, wendete sich zu dem Volke und rief:
"Gottesurteil! Wollt ihr Gottesurteil?"
"Gottesurteil! Wollt ihr Gottesurteil?"
Es redete, es rief, es dröhnte: "Gottesurteil!"
Da sprach die Richterin feierlich: "Erstorbenes Gift, erstorbene Tat!
Lebendige Tat, lebendiges Gift!" und hatte den Kristall aus dem Busen
gehoben und geleert.
Eine Weile stand sie, dann tat sie einen Schritt und einen zweiten
wankenden gegen Wulfrin. "Sei stark!" seufzte sie und brach zusammen.
Rudio neigte sich über die Tote, hob sie auf seine Arme und trug sie
zu Faustinen. Dort saß sie am Grabe, die Hörige aber neigte sich und
legte das Antlitz in den Schoß der Herrin.
Jetzt enthüllte der Kaiser das Mädchen, das einen jammervollen Blick
nach der Mutter warf, faltete die Hände und gebot. "Oremus pro magna
peccatrice!" Alles Volk betete.
Dann sagte er mit milder Stimme: "Was wird aus diesem Kinde? Ich
ziehe nicht, bis ich es weiß. Wie rätst du, Alcuin?"
"Sie tue die Gelübde!" rief der Abt.
"Ehe sie gelebt hat?" schrie Wulfrin angstvoll.
"Dann weiß ich ein anderes.
Graciosus"—der Abt hielt ihn an der Hand—"dieser hier, ein frommer
Jüngling, hat ein Wohlgefallen an der Ärmsten"—
"Herr Abt", unterbrach ihn der
aufgeregte Gnadenreich, "das geht über Menschenkraft. Mir graut vor dem
Kinde der Mörderin. Alle guten Geister loben Gott den Herrn!"
Wulfrin sprang in die Mitte. "Kaiser und ihr alle", rief er, "mein
ist Palma novella!"
Da redete Karl: "Sohn Wulfs, du freiest das Kind seiner Mörderin?
Überwindest du die Dämonen?"
Überwindest du die Dämonen?"
"Ich ersticke sie in meinen Armen! Hilf, Kaiser, daß ich sie
überwältige!"
Karl hieß das Mädchen knien und legte ihr die Hände auf das Haupt.
"Waise! Ich bin dir an Vaters Statt! Begrabe, die deine Mutter war!
Dieser folge mir ins Feld! Gott entscheide! Kehrt er zurück und
stößt er ins Horn, so freue dich, Palma novella, fülle den Becher und
vollende den Spruch! Dann entzündet Rudio die Brautfackel und
schleudert sie in das Gebälke von Malmort !"