Friday, December 9, 2016

DER WEIHNACHTSABEND - Eine Geistergeschichte von Charles Dickens. ( 3 )

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VIERTES  KAPITEL 

Der letzte der drei Geister


Die Erscheinung kam langsam, feierlich und schweigend auf ihn zu. Als sie näher gekommen war, fiel Scrooge auf die Kniee nieder, denn selbst die Luft, durch die sich der Geist bewegte, schien geheimnisvolles Grauen zu verbreiten.

Die Erscheinung war in einen schwarzen, weiten Mantel verhüllt, der nichts von ihr sichtbar ließ, als eine ausgestreckte Hand. Wenn diese nicht gewesen wäre, würde es schwer gewesen sein, die Gestalt von der Nacht zu trennen, welche sie umgab.

Als sie neben ihm stand, fühlte er, daß sie groß und stattlich war und daß ihre geheimnisvolle Gegenwart ihn mit einem feierlichen Grauen erfüllte. Er wußte weiter nichts, denn der Geist sprach und bewegte sich nicht.

»Ich stehe vor dem Geiste der zukünftigen Weihnachten?« fragte Scrooge.

Der Geist antwortete nicht, sondern wies mit der Hand auf die Erde.

»Du willst mir die Schatten der Dinge zeigen, welche nicht geschehen sind, aber geschehen werden,« fuhr Scrooge fort. »Willst du das, Geist?«

Der obere Teil der Verhüllung legte sich auf einen Augenblick in Falten, als ob der Geist sein Haupt neigte; dies war die einzige Antwort, welche Scrooge erhielt.

Obgleich so ziemlich an gespenstische Gesellschaft gewöhnt, fürchtete sich Scrooge vor der stummen Erscheinung doch so sehr, daß seine Kniee wankten und er kaum noch stehen konnte, als er sich bereit machte, ihr zu folgen. Der Geist  stand für einen Augenblick still, als bemerkte er seine Furcht und wollte ihm Zeit geben, sich zu erholen.

Aber Scrooge befand sich dadurch noch schlechter. Ein vages, unbestimmtes Grausen durchbebte ihn bei dem Gedanken, hinter diesem schwarzen Schleier hefteten sich gespenstische Augen fest auf ihn, während er, obgleich er seine Augen aufs äußerste anstrengte, doch nichts sehen konnte als eine gespenstische Hand und eine große, schwarze Faltenmasse.

»Geist der Zukunft,« rief er, »ich fürchte dich mehr als die Geister, die ich schon gesehen habe. Aber da ich weiß, daß es dein Zweck ist, mir Gutes zu thun, und da ich hoffe zu leben, um ein anderer Mensch zu werden, als ich früher war, bin ich bereit, dich zu begleiten und thue es mit einem dankerfüllten Herzen. Willst du nicht zu mir sprechen?«

Die Gestalt gab ihm keine Antwort. Die Hand wies gerade in die Ferne vor ihn.

»Führe mich,« sagte Scrooge. »Führe mich, die Nacht schwindet schnell und die Zeit ist kostbar für mich. Führe mich, Geist.«

Die Erscheinung bewegte sich von ihm weg, wie sie auf ihn zugekommen war. Scrooge folgte dem Schatten ihres Gewandes, welcher, schien es ihm, ihn erhob und von dannen trug.

Kaum war es, als ob sie in die City träten; denn die City schien mehr rings um sie in die Höhe zu wachsen und sie zu umstellen. Aber sie waren doch im Herzen derselben, auf der Börse unter den Kaufleuten, welche hin und her eilten, mit dem Gelde in ihren Taschen klimperten, in Gruppen miteinander sprachen, nach der Uhr blickten und gedankenvoll mit den großen, goldenen Siegeln daran spielten, wie Scrooge es oft gesehen hatte.

Der Geist blieb bei einer Gruppe Kaufleute stehen. Scrooge sah, daß die Hand der Erscheinung darauf hinwies, und so näherte er sich ihnen, um ihr Gespräch zu belauschen.

 »Nein,« sagte ein großer, dicker Mann mit einem ungeheuern Unterkinn, »ich weiß nicht viel davon zu sagen. Ich weiß nur, daß er tot ist.«

»Wann starb er ?« frug ein anderer.

»Vorige Nacht, glaub' ich.«

»Nun, wie geht das zu?« fragte ein Dritter, eine große Prise aus einer sehr großen Dose nehmend. »Ich glaubte, er würde nie sterben.«

»Weiß Gott, wie es zugeht,« sagte der Erste gähnend.

»Was hat er mit seinem Gelde angefangen?« fragte ein Herr mit einem roten Gesicht und einem Auswuchs an der Nasenspitze, welcher wackelte, wie der Lappen eines Truthahns.

»Ich habe nichts davon gehört,« sagte der Mann mit dem großen Unterkinn, abermals gähnend. »Hat es wahrscheinlich seiner Gilde hinterlassen. Mir hat er's nicht vermacht. Das weiß ich.«

Dieser anmutige Scherz wurde mit einem allgemeinen Gelächter aufgenommen.

»Es wird wohl ein sehr billiges Begräbnis werden,« fuhr derselbe Sprecher fort; »denn so wahr ich lebe, ich kenne niemand, der mitgehen sollte. Wenn wir nun zusammenträten und freiwillig mitgingen?«

»Ich thue mit, wenn für ein Lunch gesorgt wird,« bemerkte der Herr mit dem Auswuchse an der Nasenspitze. »Aber ich muß traktiert werden, wenn ich dabei sein soll.«

Ein neues Gelächter.

»Nun da bin ich doch wohl der Uneigennützigste von euch,« sagte der erste Sprecher, »denn ich trage nie schwarze Handschuhe und esse nie Lunch. Aber ich gehe mit, wenn sich noch andere finden. Wenn ich mir's recht überlege, war ich am Ende sein vertrautester Freund; denn wir blieben stehen und sprachen miteinander, wenn wir uns auf der Straße trafen. Guten Morgen, guten Morgen!«

Sprecher und Zuhörer gingen fort und mischten sich  unter andere Gruppen. Scrooge kannte die Leute und sah den Geist mit einem fragenden Blicke an.

Die Erscheinung schwebte weiter auf die Straße.

Ihre Hand wies auf zwei sich begegnende Personen.

Scrooge hörte wieder zu, in der Hoffnung, hier die Erklärung zu finden.

Auch diese Leute kannte er recht gut. Es waren Kaufleute, sehr reich und von großem Ansehen. Er hatte sich immer bestrebt, sich in ihrer Achtung zu erhalten, das heißt in Geschäftssachen, bloß in Geschäftssachen.

»Wie geht's?« sagte der eine.

»Wie geht's Ihnen?« sagte der andere.

»Gut,« sagte der Erste. »Der alte Geizhals ist endlich tot, wissen Sie es?«

»Ich hörte es,« erwiderte der Zweite. »'s ist kalt, nicht?«

»Wie sich's zu Weihnachten paßt. Sie sind wohl kein Schlittschuhläufer?«

»Nein, nein. Habe an andere Sachen zu denken. Guten Morgen!«

Kein Wort weiter. So trafen sie sich, so schieden sie.

Scrooge war erst zu staunen geneigt, daß der Geist auf anscheinend so unbedeutende Gespräche ein Gewicht zu legen schien; aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie eine verborgene Bedeutung haben müßten und er dachte nach, was wohl diese sein möge. Sie konnten sich nicht auf den Tod Jakobs, seines alten Compagnons, beziehen, denn der gehörte der Vergangenheit an, und sein Führer war der Geist der Zukunft. Auch konnte er sich niemand von den ihn näher Angehenden denken, auf den er sie hätte beziehen können. Aber in der Gewißheit, daß, auf wen sie sich auch beziehen möchten, doch für ihn eine wichtige Lehre darin liege, beschloß er, jedes Wort, das er hörte und jede Scene, die er sah, treu in seinem Herzen aufzubewahren, und vorzüglich seinen Schatten zu beobachten, wenn er erschien. Denn er erwartete von dem Benehmen seines zukünftigen Selbst die vermißte  Aufklärung und die Lösung der Rätsel, die ihm jetzt so schwierig schien.

Schon auf der Börse schaute er sich nach seinem Selbst um; aber ein anderer stand in seiner gewohnten Ecke und obgleich die Uhr auf die Stunde wies, wo er gewöhnlich dort war, sah er sich doch auch nicht unter den Scharen, welche durch den Eingang sich herein drängten. Das überraschte ihn jedoch wenig, denn er hatte schon lange daran gedacht, sein Geschäft aufzugeben und glaubte und hoffte, in diesen Erscheinungen die künftige Verwirklichung seines Planes zu sehen.

Reglos und schwarz stand neben ihm das Gespenst mit seiner ausgestreckten Hand. Als er wieder von seiner nachdenklichen Stellung aufblickte, glaubte er nach der Richtung der Hand, daß die unsichtbaren Augen sich starr auf ihn hefteten. Bei dem Gedanken überlief ihn ein kalter Schauer.

Sie verließen die geschäftige Umgebung und gingen in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo Scrooge nie vorher gewesen war, dessen Lage und schlechten Ruf er aber kannte. Die Straßen waren schmutzig und eng und krumm; die Läden und Häuser ärmlich; die Menschen halbnackt, betrunken, barfuß, häßlich. Gäßchen und Thorwege, wie ebensoviele Kloaken, strömten abscheuerregende Gerüche und Schmutz und Menschen in die Straßen; und das ganze Viertel schien erfüllt von Verbrechen, von Schmutz und von Elend.

In einem der tiefsten Winkel dieses Zufluchtsortes der Sünde und der Schmach war ein niedriger, dunkler Laden unter einem Wetterdache, wo Eisen, Lampen, Flaschen, Knochen und schmierige Abfälle aller Art verkauft wurden. Auf dem Fußboden drinnen lag ein Haufen verrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten, Thürangeln, Feilen, Wagen, Gewichte und altes Eisen aller Art. Geheimnisse, nach deren Enträtselung wenige verlangen würden, wurden erzeugt und verborgen in Bergen widriger Lumpen, Massen verdorbenen Fettes und ganzen Beinhäusern von Knochen.  Mitten unter den Waren, mit denen er handelte, saß neben einem aus alten Ziegeln zusammengesetzten Ofen ein grauhaariger, fast siebzigjähriger Schelm, der sich vor der Kälte draußen durch einen bauschigen Vorhang von allerlei Lumpen, auf eine Leine gehängt, geschützt hatte und seine Pfeife im Vollgenusse des Behagens rauchte.

Scrooge und die Erscheinung traten neben diesen Mann, gerade wie eine Frau mit einem schweren Bündel in den Laden schlich. Aber sie war kaum eingetreten, als eine zweite Frau, auch mit einem Bündel, ihr nachkam; und auf diese folgte dicht ein Mann in altem, abgetragenem schwarzen Anzuge, der nicht weniger von ihrem Anblick erschrocken war, als sie vor einander erschrocken waren. Nach einigen Augenblicken sprachlosen Staunens, an dem der Alte mit der Pfeife teilgenommen hatte, brachen sie alle drei in ein lautes Gelächter aus.
»Sage jemand, die Leichenwäscherin würde die Erste sein,« sagte die zuerst Eingetretene. »Sage jemand, die Wärterin würde die Zweite sein; und nenne jemand des Leichenbesorgers Gehilfen den Dritten. Schau', alter Joe, wie sich das fügt! ob wir uns nicht alle drei hier getroffen haben, ohne daß wir's wollten.«

»Ihr hättet euch an keinem besseren Orte treffen können,« sagte der alte Joe, die Pfeife aus dem Munde nehmend. »Kommt in das Staatszimmer. Ihr habt schon seit lange das Bürgerrecht dort, das wißt ihr; und die anderen zwei sind auch keine Fremden. Wartet, bis ich die Ladenthür zugemacht habe. O, wie sie knarrt! ich glaube, es giebt kein so rostiges Stück Eisen in dem ganzen Laden, als die Thürangeln; und ich weiß, es giebt keine so alten Knochen hier, wie meine. Haha, wir passen alle zu unserm Geschäft. Kommt ins Staatszimmer.«

Das Staatszimmer war der Raum hinter dem Lumpenvorhange. Der Alte scharrte das Feuer mit einem alten Rouleaustabe zusammen, schob den Docht seiner rauchigen  Lampe, denn es war Abend, mit dem Stiele seiner Pfeife in die Höhe und steckte diese wieder in den Mund.

Während er so beschäftigt war, warf die zuerst eingetretene Frau ihr Bündel auf den Boden und setzte sich mit kokettierender Frechheit auf einen Stuhl, dann legte sie die Hände auf die Kniee und sah die beiden andern mit kühnem Trotz an.

»Nun, was ist da für ein Unterschied, Mrs. Dilber? Jeder hat das Recht, für sich zu sorgen. Er that es immer.«

»Das ist wahr,« sagte die Wärterin. »Keiner that es mehr.«

»Nun, warum guckt ihr euch da einander an, als fürchtetet ihr euch? Wer ist der Klügere? Wir wollen doch nicht einander die Augen aushacken, denk' ich!«
»Nein, gewiß nicht,« sagten Mrs. Dilber und der Mann zusammen. »Wir wollen es nicht hoffen.«

»Nun gut denn,« rief die Frau, »das ist genug. Wem schadet's, wenn wir so ein paar Sachen mitnehmen, wie die hier? Einer Leiche gewiß nicht!«

»Nein, gewiß nicht,« sagte Mrs. Dilber lachend.

»Wenn er sie, wie ein alter Geizhals, noch nach dem Tode behalten wollte,« fuhr die Frau fort, »warum war er während seines Lebens nicht besser? Wenn er's gewesen wäre, würde jemand um ihn gewesen sein, als er starb, statt daß er allein seinen letzten Atem fahren lassen mußte.«

»Es ist das wahrste Wort, was je gesprochen worden,« sagte Mrs. Dilber.

»Es ist ein Gottesgericht.«

»Ich wollte, es wäre ein bißchen schwerer ausgefallen,« sagte die Frau; »und es wär's auch, verlaßt euch drauf, wenn ich mehr hätte kriegen können. Mache das Bündel auf, Joe, und sag' mir, was es wert ist. Sprich gerade heraus. Ich fürchte mich nicht, die Erste zu sein, noch es ihnen sehen zu lassen. Wir wußten gut genug, daß wir für uns sorgten, ehe wir uns hier trafen. 's ist keine Sünde. Mach' das Bündel auf, Joe.«

Aber die Galanterie ihrer Freunde wollte das nicht erlauben; und der Mann in dem abgetragenen schwarzen Rock brachte seine Beute zuerst. Es war nicht viel daran. Ein oder zwei Siegel, ein silberner Bleistift, ein paar Hemdknöpfe und eine Brosche von geringem Werte, war alles. Sie wurden von dem alten Joe untersucht und abgeschätzt, worauf er die Summe, welche er für jedes bezahlen wollte, an die Wand schrieb und zusammenrechnete, wie er fand, daß nichts mehr kam.

»Das ist Eure Rechnung,« sagte Joe, »und ich gebe keinen Sixpence mehr und wenn ich in Stücke gehauen werden sollte. Wer kommt jetzt?«

Mrs. Dilber war die Nächste. Sie hatte Bett- und Handtücher, einige Kleidungsstücke, zwei altmodische silberne Theelöffel, eine Zuckerzange und einige Paar Stiefel. Ihre Rechnung wurde auf dieselbe Weise an die Wand geschrieben.

»Damen gebe ich immer zu viel. 's ist meine Schwäche und ich richte mich damit zu Grunde,« sagte der alte Joe. »Das ist Eure Rechnung. Wenn Ihr einen Pfennig mehr haben wolltet und ließet es darauf ankommen, so thäte es mir leid, so freigebig gewesen zu sein und ich zöge eine halbe Krone ab.«
»Und nun mach' mein Bündel auf, Joe,« sagte die Erste.

Joe kniete nieder, um bequemer das Bündel öffnen zu können, und nachdem er eine große Menge Knoten aufgemacht hatte, zog er eine große und schwere Rolle eines dunklen Zeugs heraus.

»Was ist das?« sagte Joe. »Bettgardinen.«

»Ach,« rief das Weib lachend und sich vorbeugend, »Bettgardinen!«

»Ihr wollt doch nicht sagen, Ihr hättet sie 'runter genommen, wie er dort lag?« sagte Joe.

»I, freilich,« sagte das Weib. »Warum nicht?«

»Ihr seid geboren, Euer Glück zu machen, und Ihr werdet's auch.«

»Ich werde doch wahrhaftig meine Hand nicht ruhig einstecken, wenn ich sie nur auszustrecken brauche, um was zu kriegen, um so eines Mannes willen, wie der war. Wahrhaftig nicht, Joe,« antwortete das Weib ruhig. »Laßt kein Oel auf die Bettdecken fallen.«

»Seine Bettdecke?« fragte Joe.

»Von wem soll sie denn sonst sein?« antwortete das Weib. »Er wird auch ohne dies nicht frieren, das behaupte ich.«

»Er starb doch nicht etwa an etwas Ansteckendem?« sagte der alte Joe, seine Beschäftigung unterbrechend und sie anblickend.

»Das braucht Ihr nicht zu befürchten,« antwortete die Frau. »Ich hatte ihn nicht so lieb, daß ich dann bei ihm geblieben wäre um solcher Sachen willen. Ha, Ihr könnt durch das Hemd gucken, bis Euch Eure Augen weh thun; Ihr findet kein Loch drin und keine dünne Stelle. Es ist das beste, was er hatte, und fein ist's auch. Sie hätten's verdorben, wenn ich nicht gewesen wäre.«

»Was nennt Ihr, es verderben?« fragte der alte Joe.

»Nun, ihm das Hemd in das Grab anziehen, was sonst?« erwiderte die Frau lachend.

»Es war jemand Narr genug, es ihm anzuziehen, aber ich zog's ihm wieder aus. Wenn Kattun zu so etwas nicht gut genug ist, weiß ich nicht, zu was er sonst gut wäre. Es steht einer Leiche ebenso gut. Er kann nicht häßlicher aussehen, als er in dem aussah.«

Scrooge hörte das Gespräch mit Grausen an. Wie sie da um ihren Raub herum in dem kärglichen Licht der Lampe des Alten saßen, betrachtete er sie mit einem Ekel und einem Abscheu, der nicht größer hätte sein können, wenn es scheußliche Dämonen gewesen wären, die um die Leiche selbst feilschten.

»Ha, ha!« lachte dieselbe Frau, als der alte Joe, einen alten flanellenen Geldbeutel herauslangend, jedem den Preis [80] des Raubes auf den Fußboden hinzählte. »Das ist das Ende von der Geschichte, seht ihr! Er scheuchte jeden von sich, so lange er lebte, um uns zu nützen, da er tot ist! Ha, ha, ha!«

»Geist,« sagte Scrooge, vom Fuß bis zum Scheitel zitternd. »Ich verstehe dich. Das Los dieses Unglücklichen könnte das meinige sein. Mein Leben geht jetzt auf dieses Ziel zu. Gnädiger Himmel, was ist das?«

Er fuhr entsetzt zurück, denn die Scene hatte sich geändert und er stand dicht vor einem Bett, einem einsamen, unverhangnen Bett, wo unter einer groben Decke etwas Verhülltes lag, was, obgleich es stumm war, sich doch in grausenerregender Sprache nannte.

Das Zimmer war sehr finster, zu finster, um etwas genau erkennen zu können, obgleich Scrooge, einem geheimen Gefühle gehorchend, sich umschaute, voll Begier, zu wissen, was für ein Zimmer es sei. Ein bleiches Licht, welches von draußen kam, fiel gerade auf das Bett; und auf diesem, geplündert und beraubt, unbewacht und unbeweint, lag die Leiche dieses Mannes.

Scrooge blickte die Erscheinung an. Ihre reglose Hand wies auf das Haupt des Leichnams. Die Decke war so sorglos zurecht gelegt, daß das geringste Verschieben, die leiseste Berührung von Scrooges Finger das Antlitz enthüllt hätte. Er dachte daran, fühlte, wie leicht es geschehen könnte, und sehnte sich, es zu thun; aber er hatte nicht mehr Macht, die Hülle wegzuziehen, als den Geist an seiner Seite zu entlassen.

O, kalter, starrer, schrecklicher Tod, hier richte deinen Altar auf und umgieb ihn mit den Schrecken, die dir zu Gebote stehen: denn dies ist dein Reich! Aber dem geliebten und verehrten Haupt kannst du kein Haar krümmen, von ihm kannst du keinen Zug widerlich machen. Nicht weil die Hand schwer ist und herabsinkt, wenn man sie fallen läßt, nicht, weil das Herz und der Puls schweigen; sondern weil die Hand offen war und barmherzig, weil das Herz offen war und warm und gut und der Puls ein menschlicher. Töte, Schatten, töte! Und sieh, wie seine guten Thaten aus der Todeswunde hervorströmen, um in der Welt unsterbliches Leben zu sehen.

Keine Stimme flüsterte diese Worte in Scrooges Ohren, aber doch hörte er sie, wie er auf das Bett blickte. Er dachte, wenn dieser Mann jetzt wieder erweckt werden könnte, was würde wohl sein erster Gedanke sein? Geiz, Hartherzigkeit, habgierige Sorge. Ein schönes Ziel haben sie ihm bereitet!

Er lag in dem dunklen leeren Hause und kein Mann, oder Weib, oder Kind war da, um zu sagen, er war gütig gegen mich in dem und in jenem, und dieses einen gütigen Wortes gedenkend, will ich seiner warten. Eine Katze kratzte an der Thür und die Ratten nagten und raschelten unter dem Kamin. Was sie in dem Gemach des Todes wollten und warum sie so unruhig waren, wagte Scrooge nicht auszudenken.

»Geist,« sagte er, »dies ist ein schrecklicher Ort. Wenn ich ihn verlasse, werde ich nicht seine Lehre vergessen, glaube mir. Laß uns gehen.«

Immer noch wies der Geist mit reglosem Finger auf das Haupt der Leiche.

»Ich verstehe dich,« antwortete Scrooge, »und ich thäte es, wenn ich könnte. Aber ich habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ich habe die Kraft nicht dazu.«

Wieder schien der Geist ihn anzublicken.

»Wenn irgend jemand in der Stadt ist, der bei dieses Mannes Tod etwas fühlt,« sagte Scrooge erschüttert, »so zeige mir ihn, Geist, ich flehe dich darum an.«

Die Erscheinung breitete ihren dunklen Mantel einen Augenblick vor ihm aus wie einen Fittich; und wie sie ihn wieder wegzog, sah er ein taghelles Zimmer, in dem sich eine Mutter mit ihren Kindern befand.

Sie hoffte auf jemandes Kommen in angstvoller Erwartung; denn sie ging im Zimmer auf und ab: erschrak bei jedem Geräusch; sah zum Fenster hinaus; blickte nach der Uhr; versuchte vergebens zu arbeiten; und konnte kaum die Stimmen der spielenden Kinder ertragen.

Endlich hörte sie das langersehnte Klopfen an der Hausthür und traf, als sie hinaussehen wollte, ihren Gatten. Sein Gesicht war bekümmert und niedergeschlagen, obgleich er noch jung war. Es zeigte sich jetzt ein merkwürdiger Ausdruck in demselben, eine Art ernster Freude, deren er sich schämte und die er sich zu unterdrücken bemühte.

Er setzte sich zum Essen nieder, das man ihm am Feuer aufgehoben hatte; und als sie ihn erst nach langem Schweigen frug, was er für Nachrichten bringe, schien er um die Antwort verlegen zu sein.

»Sind sie gut,« sagte sie, »oder schlecht?«

»Schlecht,« antwortete er.

»Wir sind ganz zu Grunde gerichtet?«

»Nein, noch ist Hoffnung vorhanden, Karoline.«

»Wenn er sich erweichen läßt,« rief sie erstaunt, »dann ist noch welche da! Ueberall ist noch Hoffnung, wenn ein solches Wunder geschehen ist.«

»Für ihn ist es zu spät, sich zu erbarmen,« sagte der Gatte. »Er ist tot!«

Wenn ihr Gesicht Wahrheit sprach, so war sie ein mildes und geduldiges Wesen; aber sie war dankbar dafür in ihrem Herzen und sagte es mit gefalteten Händen. Sie bat im nächsten Augenblick Gott, daß er ihr verzeihen möge und bereute es; aber das erste war die Stimme ihres Herzens gewesen.

»Was mir die halbbetrunkene Frau gestern Abend sagte, als ich ihn sprechen und um eine Woche Aufschub bitten wollte; und was ich nur für eine bloße Entschuldigung hielt, um mich abzuweisen, zeigt sich jetzt als die reine Wahrheit. Er war nicht nur sehr krank, er lag schon im Sterben.«

»Auf wen wird unsere Schuld übergehen?«

»Ich weiß es nicht. Aber vor dieser Zeit noch werden  wir das Geld haben; und selbst, wenn dies nicht wäre, wäre es ein großes Mißgeschick in seinem Erben einen so unbarmherzigen Gläubiger zu finden. Wir können heute Nacht mit leichterem Herzen schlafen, Karoline.«

Ja, sie mochten es verhehlen, wie sie wollten, ihre Herzen waren leichter. Die Gesichter der Kinder, welche sich still um sie drängten, um zu hören, was sie so wenig verstanden, erhellten sich und alle wurden glücklicher durch dieses Mannes Tod. Das einzige von diesem Ereignis erregte Gefühl, welches ihm der Geist zeigen konnte, war eins der Freude.

»Laß mich ein zärtliches, mit dem Tode verbundenes Gefühl sehen,« sagte Scrooge, »oder dies dunkle Zimmer, welches wir eben verlassen haben, wird mir immer vor Augen bleiben.«

Der Geist führte ihn durch mehrere Straßen, durch die er oft gegangen war; und wie sie vorüber schwebten, hoffte Scrooge sich hier und da zu erblicken, aber nirgends war er zu sehen. Sie traten in Bob Cratchits Haus, dieselbe Wohnung, die sie schon früher besucht hatten, und fanden die Mutter und die Kinder um das Feuer sitzen.

Alles war ruhig, alles war still, sehr still. Die lärmenden kleinen Cratchits saßen stumm, wie steinerne Bilder, in einer Ecke und sahen auf Peter, der ein Buch vor sich hatte. Die Mutter und die Töchter nähten. Aber gewiß waren sie auch still, sehr still.

»Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.«

Wo hatte Scrooge diese Worte gehört? Der Knabe mußte sie gelesen haben, als er und der Geist über die Schwelle traten. Warum fuhr er nicht fort?

Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und fuhr mit der Hand nach dem Auge.

»Die Farbe blendet mich,« sagte sie.

Die Farbe? ach, der arme Tiny Tim!

»Sie sind jetzt wieder besser,« sagte Cratchits Frau. »Die Farbe blendet sie bei Licht und ich möchte den Vater,  wenn er heimkommt, nicht sehen lassen, daß ich schwache Augen habe. Es muß bald seine Zeit sein.«

»Fast schon vorüber,« erwiderte Peter, das Buch schließend. »Aber ich glaube, er geht jetzt ein wenig langsamer als gewöhnlich, Mutter.«

Sie waren wieder sehr still. Endlich sagte sie mit einer ruhigen, heitern Stimme, die nur ein einziges Mal zitterte: »Ich weiß, daß er mit – ich weiß, daß er mit Tiny Tim auf der Schulter sehr schnell ging.«

»Und ich auch,« rief Peter. »Oft.«

»Und ich auch,« riefen die andern.

»Aber er war sehr leicht zu tragen,« fing sie wieder an, fest auf ihre Arbeit sehend, »und der Vater liebte ihn so, daß es keine Beschwerde. Und da kommt der Vater.«

Sie eilte ihm entgegen und Bob mit dem Shawl – er hatte ihn nötig, der arme Kerl – trat herein. Sein Thee stand bereit und sie drängten sich alle herbei, wer ihm am meisten helfen könne. Dann kletterten die beiden kleinen Cratchits auf seine Kniee und jedes Kind legte eine kleine Wange an die seine, als wollten sie sagen: kümmere dich nicht so sehr, Vater.

Bob war sehr heiter und sprach sehr munter mit der ganzen Familie. Er besah die Arbeit auf dem Tische und lobte den Fleiß und den Eifer seiner Frau und Töchter. »Sie würden lange vor Sonntag fertig sein,« sagte er.

»Sonntag! Du warst also heute dort, Robert!« sagte seine Frau.

»Ja, meine Liebe,« antwortete Bob. »Ich wollte, du hättest hingehen können. Es würde dein Herz erfreut haben, zu sehen, wie grün die Stelle ist. Aber du wirst sie oft sehen. Ich versprach ihm, Sonntags hinzugehen. Mein liebes, liebes Kind!« weinte Bob. »Mein liebes Kind!«

Er brach auf einmal zusammen. Er konnte nicht dafür. Wenn er dafür gekonnt hätte, so wäre er und sein Kind wohl weiter voneinander getrennt gewesen.

Er verließ das Zimmer und ging die Treppe hinauf in ein Zimmer, welches hell erleuchtet und weihnachtsmäßig aufgeputzt war. Ein Stuhl stand dicht neben dem Kinde und man sah, daß vor kurzem jemand dagewesen war. Der arme Bob setzte sich nieder, und als er ein wenig nachgedacht und sich gefaßt hatte, küßte er das kleine, kalte Gesicht. Er war versöhnt mit dem Geschehenen und ging wieder hinunter ganz glücklich.

Sie setzten sich um das Feuer und unterhielten sich; die Mädchen und die Mutter arbeiteten fort. Bob erzählte ihnen von der außerordentlichen Freundlichkeit von Scrooges Neffen, den er kaum ein einziges Mal gesehen habe. Er habe ihn heute auf der Straße getroffen und wie er gesehen, daß er ein wenig niedergeschlagen aussähe, habe er ihn befragt, was ihn bekümmere. »Worauf,« sagte Bob, »denn er ist der leutseligste junge Herr, den ich nur kenne, ich es ihm sagte. Ich bedaure Sie herzlich, Mr. Cratchit, sagte er, und auch Ihre gute Frau. Uebrigens, wie er das wissen kann, möchte ich wissen.«

»Was soll er wissen, mein Lieber?«

»Nun, daß du eine gute Frau bist,« antwortete Bob.

»Jedermann weiß das,« sagte Peter.

»Sehr gut bemerkt, mein Junge,« rief Bob. »Ich hoffe, 's ist so. Herzlich bedaure ich, sagte er, Ihre gute Frau. Wenn ich Ihnen auf irgend eine Weise behilflich sein kann, sagte er, indem er mir seine Karte gab, das ist meine Wohnung. Kommen Sie nur zu mir. Nun,« rief Bob, »ist es nicht gerade um deswillen, daß er etwas für uns thun könnte, sondern mehr wegen seiner herzlichen Weise, daß ich mich darüber so freute. Es schien wirklich, als hätte er unsern Tiny Tim gekannt und fühlte mit uns.«

»Er ist gewiß eine gute Seele,« sagte Mrs. Cratchit.

»Du würdest das noch sicherer glauben, Liebe,« antwortete Bob, »wenn du ihn sähest und mit ihm sprächest.  Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er Petern eine bessere Stelle verschaffte. Merkt euch meine Worte.«

»Nun höre nur, Peter,« sagte Mrs. Cratchit.

»Und dann,« rief eins der Mädchen, »wird sich Peter nach einer Frau umsehen.«

»Ach, sei still,« antwortete Peter lachend.

»Nun, das kann schon kommen,« sagte Bob, »aber dazu hat er noch Zeit im Ueberfluß. Aber wie und wenn wir uns auch voneinander trennen sollten, so bin ich doch überzeugt, daß keiner von uns den armen Tiny Tim, oder diese erste Trennung, welche wir erfuhren, vergessen wird.«

»Niemals, Vater,« riefen alle.

»Und ich weiß,« sagte Bob, »ich weiß, meine Lieben, wenn wir daran denken werden, wie geduldig und wie sanft er war, obgleich er nur ein kleines, kleines Kind war, werden wir nicht so leicht uns zanken und den guten Tiny Tim vergessen, wenn wir's thun.«

»Nein, niemals, Vater,« riefen sie alle.

»Ich bin sehr glücklich,« sagte Bob, »sehr glücklich.«

Mrs. Cratchit küßte ihn, seine Töchter küßten ihn, die beiden kleinen Cratchits küßten ihn und Peter und er drückten sich die Hand. Seele Tiny Tims, du warst ein Hauch von Gott.

»Geist,« sagte Scrooge, »ein Etwas sagt mir, daß wir bald scheiden werden. Ich weiß es, aber ich weiß nicht wie. Sage mir, wer es war, den wir auf dem Totenbett sahen.«

Der Geist der zukünftigen Weihnachten führte ihn wie früher – obgleich zu verschiedener Zeit, dünkte ihm, überhaupt schien in den verschiedenen letzten Gesichten keine Zeitfolge stattzufinden – an die Zusammenkunftsorte der Geschäftsleute, aber er sah sich nicht. Der Geist verweilte nirgends, sondern schwebte immer weiter, wie nach dem Ort zu, wo Scrooge die gewünschte Lösung des Rätsels finden würde, bis ihn dieser bat, einen Augenblick zu verweilen.

»Ja, dieser Hof,« sagte Scrooge, »durch den wir jetzt  eilen, war einst mein Geschäft und war es lange Jahre. Ich sehe das Haus. Laß mich sehen, was ich in den kommenden Tagen sein werde.«

Der Geist stand still; die Hand wies wo anders hin.

»Das Haus ist dort,« rief Scrooge. »Warum weisest du wo anders hin?«

Der unerbittliche Finger nahm keine andere Richtung an.

Scrooge eilte nach dem Fenster seines Comptoirs und schaute hinein. Es war noch ein Comptoir, aber nicht das seinige. Die Möbel waren nicht dieselben und die Gestalt in dem Stuhl war nicht die seine. Die Erscheinung zeigte nach derselben Richtung, wie früher.

Er trat wieder zu ihr hin und nachsinnend, warum und wohin sie gingen, begleitete er sie, bis sie eine eiserne Gitterpforte erreichten. Er stand still, um sich vor dem Eintreten umzusehen.

Es war ein Kirchhof. Hier also lag der Unglückliche, dessen Namen er noch erfahren sollte, unter der Erde. Der Ort war seiner würdig. Rings von hohen Häusern umgeben; überwuchert von Unkraut, entsprossen dem Tod, nicht dem Leben der Vegetation; vollgepfropft von zu viel Leichen; gesättigt von übersättigtem Genuß.

Der Geist stand inmitten der Gräber still und wies auf eins derselben hinab. Scrooge näherte sich ihm zitternd. Die Erscheinung war noch ganz so wie früher, aber ihm war es immer, als sähe er eine neue Bedeutung in der düstern Gestalt.

»Ehe ich mich dem Stein nähere, den du mir zeigst,« sagte Scrooge, »beantworte mir eine Frage. Sind dies die Schatten der Dinge, welche sein werden, oder nur von denen, welche sein können?«

Immer noch wies der Geist auf das Grab hinab, vor dem sie standen.

»Die Wege des Menschen tragen ihr Ziel in sich,« sagte Scrooge. »Aber wenn er einen andern Weg einschlägt,  ändert sich das Ziel. Sage, ist es so mit dem, was du mir zeigen wirst?«

Der Geist blieb so unbeweglich wie immer.

Scrooge näherte sich zitternd dem Grabe und wie er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen Namen.

»Ebenezer Scrooge.«

»Bin ich es, der auf jenem Bett lag?« rief er, auf die Kniee sinkend.

Der Finger wies von dem Grabe auf ihn und wieder zurück.

»Nein, Geist, o nein!«

Der Finger wies immer noch dorthin.

»Geist,« rief er, sich fest an sein Gewand klammernd, »ich bin nicht mehr der Mensch, der ich war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen gewesen bin. Warum zeigst du mir dies, wenn alle Hoffnung vorüber ist?«

Zum erstenmal schien die Hand zu zittern.

»Guter Geist,« fuhr er fort, »dein eigenes Herz bittet für mich und bemitleidet mich. Sage mir, daß ich durch ein verändertes Leben die Schatten, welche du mir gezeigt hast, ändern kann!«

Die gütige Hand zitterte.

»Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben. Die Geister von allen dreien sollen in mir wirken. Ich will mein Herz nicht ihren Lehren verschließen. O, sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Steine weglöschen kann.«

In seiner Angst ergriff er die gespenstische Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war stark in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück.

Wie er seine Hände zu einem letzten Flehen um Aenderung seines Schicksals in die Höhe hielt, sah er die Erscheinung sich verändern. Sie wurde kleiner und kleiner und kleiner und schwand zu einer Bettpfoste zusammen.



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FÜNFTES  KAPITEL

Das Ende

Ja, und es war seine eigene Bettpfoste. Es war sein Bett und sein Zimmer. Und was das Glücklichste und Beste war, die Zukunft war sein zur Besserung.

»Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben,« wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett kletterte. »Die Geister von allen dreien sollen in mir wirken. O, Jakob Marley! der Himmel und die Weihnachtszeit seien dafür gepriesen! Ich sage es auf meinen Knieen, alter Jakob, auf meinen Knieen.«

Er war von seinen guten Vorsätzen so erregt und außer sich, daß seine bebende Stimme kaum auf seinen Ruf antworten wollte. Er hatte während seines Ringens mit dem Geiste bitterlich geweint und sein Gesicht war noch naß von den Thränen.

»Sie sind nicht herabgerissen,« rief Scrooge, eine der Bettgardinen an die Brust drückend, »sie sind nicht herabgerissen. Sie sind da, ich bin da, die Schatten der Dinge, welche kommen, können vertrieben werden. Ja, ich weiß es gewiß, ich weiß es.«

Während dieser ganzen Zeit beschäftigten sich seine Hände mit den Kleidungsstücken: er zog sie verkehrt an, zerriß sie, verlor sie und machte allerhand tolle Sprünge damit.

»Ich weiß nicht, was ich thue,« rief Scrooge in einem Atem weinend und lachend und mit seinen Strümpfen einen wahren Laokoon aus sich machend. »Ich bin leicht wie eine Feder, glücklich wie ein Engel, lustig wie ein Schulknabe, schwindlich wie ein Betrunkener. Fröhliche Weihnachten allen  Menschen! Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt! Hallo! hussa! hurra!«

Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt dort ganz außer Atem stehen.

»Da ist die Schüssel, in der die Suppe war!« rief Scrooge, indem er um den Kamin herumsprang. »Da ist die Thür, durch welche Jakob Marleys Geist hereinkam, da ist die Ecke, wo der Geist der heurigen Weihnachten saß, da ist das Fenster, wo ich die herumirrenden Geister sah! Es ist alles recht, es ist alles wahr, es ist alles geschehen. Hahahaha!«

Wirklich für einen Mann, der so lange Jahre aus der Gewohnheit war, war es ein vortreffliches Lachen, ein herrliches Lachen. Der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Gelächter!

»Ich weiß nicht, den Wievieltesten wir heute haben,« rief Scrooge. »Ich weiß nicht, wie lange ich unter den Geistern gewesen bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin wie ein neugebornes Kind. Es schadet nichts. Ist mir einerlei. Ich will lieber ein Kind sein. Hallo! hussa! hurra!«

Er wurde in seinen Freudenausrufungen von dem Geläute der Kirchenglocken unterbrochen, die ihm so munter zu klingen schienen, wie nie vorher. Bim baum, kling, klang, bim baum. Ach, herrlich, herrlich!

Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Kein Nebel; ein klarer, luftig heller, kalter Morgen, eine Kälte, die dem Blute einen Tanz vorpfiff; goldenes Sonnenlicht; ein himmlischer Himmel; liebliche, frische Luft, fröhliche Glocken. O, herrlich, herrlich!

»Was ist denn heute?« rief Scrooge einem Knaben in Sonntagskleidern zu, der unten stand.

»He?« fragte der Knabe mit der allermöglichsten Verwunderung.

»Was ist heute, mein Junge?« sagte Scrooge.

»Heute?« antwortete der Knabe. »Nun, Christtag.«

 »'s ist Christtag,« sagte Scrooge zu sich selber. »Ich habe ihn nicht versäumt. Die Geister haben alles in einer Nacht gethan. Sie können alles, was sie wollen. Natürlich, natürlich. Heda, mein Junge!«

»Heda!« antwortete der Knabe.

»Weißt du des Geflügelhändlers Laden in der zweitnächsten Straße an der Ecke?« frug Scrooge.

»I, warum denn nicht,« antwortete der Junge.

»Ein gescheiter Junge,« sagte Scrooge. »Ein merkwürdiger Junge! Weißt du nicht, ob der Preistruthahn, der dort hing, verkauft ist? nicht der kleine Preistruthahn, der große.«

»Was, der so groß ist wie ich?« antwortete der Junge.

»Was für ein lieber Junge!« sagte Scrooge. »'s ist eine Freude, mit ihm zu sprechen. Ja, mein Prachtjunge.«

»Er hängt noch dort,« antwortete der Junge.

»Ist's wahr?« sagte Scrooge. »Nun, da geh' und kaufe ihn.«

»Hetsch!« rief der Junge aus.

»Nein, nein,« sagte Scrooge, »'s ist mein Ernst. Geh' hin und kaufe ihn und sage, sie sollen ihn hierher bringen, daß ich ihnen die Adresse geben kann, wohin sie ihn tragen sollen. Komm mit dem Träger wieder her und ich gebe dir einen Schilling. Komm in weniger als fünf Minuten zurück und du bekommst eine halbe Krone.«

Der Bursche verschwand wie ein Blitz.

»Ich will ihn Bob Cratchit schicken,« flüsterte Scrooge, sich die Hände reibend und fast vor Lachen platzend. »Er soll nicht wissen, wer ihn schickt. Er ist zweimal so groß als Tiny Tim. Joe Miller hat niemals einen Witz gemacht, wie den.«

Wie er die Adresse schrieb, zitterte seine Hand, aber er schrieb so gut es gehen wollte, und ging die Treppe hinab, um die Hausthür zu öffnen, den Truthahn erwartend. Wie er dastand fiel sein Auge auf den Thürklopfer.

 »Ich werde ihn lieb haben, so lange ich lebe,« rief Scrooge ihn streichelnd. »Früher habe ich ihn kaum angesehen. Was für ein ehrliches Gesicht er hat! Es ist ein wunderbarer Thürklopfer! – Da ist der Truthahn. Hallo! hussa! Wie geht's? Fröhliche Weihnachten!«

Das war ein Truthahn; er hätte nicht mehr lebendig auf seinen Füßen stehen können. Sie wären – knicks – zerbrochen wie eine Stange Siegellack.

»Was, das ist ja fast unmöglich, den nach Camden-Town zu tragen,« sagte Scrooge. »Ihr müßt einen Wagen nehmen.«

Das Lachen, mit dem er dies sagte und das Lachen, mit dem er den Truthahn bezahlte, und das Lachen, mit dem er den Wagen bezahlte, und das Lachen, mit dem er dem Jungen ein Trinkgeld gab, wurden nur von dem Lachen übertroffen, mit dem er sich atemlos in seinen Stuhl niedersetzte und lachte, bis die Thränen an den Backen hinunter liefen.

Das Rasieren war keine Kleinigkeit, denn seine Hand zitterte immer noch sehr; und Rasieren verlangt große Aufmerksamkeit, selbst wenn man nicht gerade während dem tanzt. Aber wenn er sich die Nasenspitze weggeschnitten hätte, würde er ein Stückchen englisches Pflaster darauf geklebt haben und zufrieden gewesen sein.

Er zog seine besten Kleider an und trat endlich auf die Straße. Die Leute strömten jetzt gerade aus ihren Häusern, wie er es gesehen hatte, als er den Geist der heurigen Weihnacht begleitete; und mit auf dem Rücken zusammengeschlagenen Händen durch die Straßen gehend, blickte Scrooge jeden mit einem freundlichen Lächeln an. Er sah so unwiderstehlich freundlich aus, daß drei oder vier lustige Leute zu ihm sagten: »Guten Morgen, Sir, fröhliche Weihnachten!« und Scrooge sagte oft nachher, daß von allen lieblichen Klängen, die er je gehört, dieser seinem Ohr am lieblichsten geklungen hätte.

Er war nicht weit gegangen, als er denselben stattlichen  Herrn auf sich zukommen sah, der am Tage vorher in sein Comptoir getreten war mit den Worten: »Scrooge und Marley, wenn ich nicht irre.« Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er dachte, wie ihn wohl der alte Herr beim Vorübergehen ansehen würde; aber er wußte, welchen Weg er zu gehen hatte, und ging ihn.

»Lieber Herr,« sagte Scrooge, schneller gehend und des alten Herrn beide Hände ergreifend, »wie geht's Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten gestern einen guten Tag. Es war sehr freundlich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten, Sir.«

»Mr. Scrooge?«

»Ja,« sagte Scrooge. »Das ist mein Name und ich fürchte, er klingt Ihnen nicht sehr angenehm. Erlauben Sie, daß ich Sie um Verzeihung bitte. Und wollen Sie die Güte haben« – hier flüsterte ihm Scrooge etwas in das Ohr.

»Himmel!« rief der Herr, als ob ihm der Atem ausgeblieben wäre. »Mein lieber Mr. Scrooge, ist das Ihr Ernst?«

»Wenn es Ihnen gefällig ist,« sagte Scrooge. »Keinen Penny weniger. Es sind viele Rückstände dabei, ich versichere es Ihnen. Wollen Sie die Güte haben?«

»Bester Herr,« sagte der andere, ihm die Hand schüttelnd, »ich weiß nicht, was ich zu einer solchen großartigen Freigebigkeit sagen soll.«

»Ich bitte, sagen Sie gar nichts dazu,« antwortete Scrooge. »Besuchen Sie mich. Wollen Sie mich besuchen?«

»Herzlich gern,« rief der alte Herr. Und man sah, es war ihm mit der Versicherung Ernst.

»Ich danke Ihnen,« sagte Scrooge. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich danke Ihnen tausendmal. Leben Sie recht wohl!«

Er ging in die Kirche, ging durch die Straßen, sah die Leute hin und her laufen, klopfte Kindern die Wange, frug Bettler, und sah hinab in die Küchen und hinauf zu den Fenstern der Häuser; und fand, daß alles das ihm Vergnügen machen könne. Er hatte sich nie geträumt, daß ein Spaziergang oder sonst etwas ihn so glücklich hätte machen können. Nachmittags lenkte er seine Schritte nach seines Neffen Wohnung.
Er ging wohl ein dutzendmal an der Thür vorüber, ehe er den Mut hatte, anzuklopfen. Endlich faßte er sich ein Herz und klopfte.

»Ist dein Herr zu Hause, meine Liebe?« sagte Scrooge zu dem Mädchen. »Ein hübsches Mädchen, wahrhaftig!«

»Ja, Sir.«

»Wo ist er, meine Liebe?« sagte Scrooge.

»Er ist in dem Speisezimmer, Sir, mit der Madame. Ich will Sie hinaufführen, wenn Sie erlauben.«

»Danke, danke. Er kennt mich,« sagte Scrooge, mit der Hand schon auf dem Thürdrücker. »Ich will hier hereintreten, meine Liebe.«

Er machte die Thür leise auf und steckte den Kopf hinein. Sie betrachteten den Speisetisch (der mit großem Aufwand von Pracht gedeckt war); denn solche junge Leute sind immer sehr unruhig über solche Punkte und sähen gern alles in Ordnung.

»Fritz!« sagte Scrooge.

Heiliger Himmel! wie seine Nichte erschrak! Scrooge hatte in dem Augenblicke vergessen, daß sie mit dem Fußbänkchen in der Ecke gesessen hatte, sonst hätte er es um keinen Preis gethan.

»Potztausend!« rief Fritz, »wer ist das!«

»Ich bin's, dein Onkel Scrooge. Ich komme zum Essen. Willst du mich hereinlassen, Fritz?«

Ihn hereinlassen! Es war nur gut, daß er ihm nicht den Arm abriß. Er war in fünf Minuten wie zu Hause. Nichts konnte herzlicher sein, als die Begrüßung seines Neffen. Und auch seine Nichte empfing ihn ganz so herzlich.  Auch Topper, wie er kam. Auch die dicke Schwester, wie sie kam. Und alle, wie sie nach der Reihe kamen. Wundervolle Gesellschaft, wundervolle Spiele, wundervolle Eintracht, wundervolle Glückseligkeit !

Aber am andern Morgen war er früh in seinem Comptoir. O, er war gar früh da. Wenn er nur dort hätte zuerst sein können und Bob Cratchit beim Zuspätkommen erwischen! Das war's, worauf sein Sinn stand! Und es gelang ihm wahrhaftig! Die Uhr schlug Neun. Kein Bob. Ein Viertel auf Zehn. Kein Bob. Er kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät. Scrooge hatte seine Thür weit offen stehen lassen, damit er ihn in das Verließ kommen sähe.

Sein Hut war vom Kopfe, ehe er die Thür öffnete, auch der Shawl von seinem Halse. In einem Nu saß er auf seinem Stuhle und jagte mit der Feder übers Papier, als wollte er versuchen, neun Uhr einzuholen.

»Heda,« brummte Scrooge, so gut wie es ging, seine gewohnte Stimme nachmachend. »Was soll das heißen, daß Sie so spät kommen?«

»Es thut mir sehr leid, Sir,« sagte Bob. »Ich habe mich verspätigt.«

»Nun, Sie gestehen's,« wiederholte Scrooge. »Ich meine es auch. Hier herein, wenn's gefällig ist.«

»Es ist nur einmal im Jahre, Sir,« sagte Bob, aus dem Verließ hereintretend. »Es soll nicht wieder vorfallen. Ich war ein bißchen lustig gestern, Sir.«

»Nun, ich will Ihnen was sagen, Freundchen,« sagte Scrooge, »ich kann das nicht länger so mit ansehen. Und daher,« fuhr er fort, von seinem Stuhl springend und Bob einen solchen Stoß vor die Brust gebend, daß er wieder in das Verließ zurückstolperte, »und daher will ich Ihr Salär erhöhen!«

Bob zitterte und trat dem Lineal etwas näher. Er hatte einen augenblicklichen Gedanken, Scrooge eins damit auf  den Kopf zu geben, ihn fest zu halten und die Leute im Hofe um Hilfe und eine Zwangsjacke anzurufen.

»Fröhliche Weihnachten, Bob!« sagte Scrooge, mit einem Ernst, der nicht mißverstanden werden konnte, indem er ihn auf die Achsel klopfte. »Fröhlichere Weihnachten, Bob, als ich Sie so manches Jahr habe feiern lassen. Ich will Ihr Salär erhöhen und mich bemühen, Ihrer Familie unter die Arme zu greifen. Wir wollen heut' Nachmittag bei einer Weihnachtsbowle dampfenden Punsches über Ihre Angelegenheiten sprechen, Bob! Schüren Sie das Feuer an und kaufen Sie eine andere Kohlenschaufel, ehe Sie wieder einen Punkt auf ein  i machen, Bob Cratchit!«

Scrooge war besser als sein Wort. Er that alles und mehr noch, als er versprochen hatte; und für Tiny Tim, welcher nicht starb, wurde er ein zweiter Vater. Er wurde ein so guter Freund und so guter Mensch, wie nur die liebe alte City oder jede andere liebe alte Stadt oder Dorf in der lieben alten Welt je gesehen. Einige Leute lachten, ihn so verändert zu sehen, aber er ließ sie lachen und kümmerte sich wenig darum, denn er war klug genug, zu wissen, daß nichts Gutes in dieser Welt geschehen kann, worüber nicht von vornherein einige Leute lachen müssen; und da er wußte, daß derart Leute doch blind bleiben würden, dachte er bei sich, es ist besser, sie legen ihre Gesichter durch Lachen in Falten, als daß sie's auf weniger anziehende Weise thun. Sein eigenes Herz lachte und damit war er zufrieden.

Er hatte keinen fernern Verkehr mit Geistern, sondern lebte von jetzt an nach dem Prinzip gänzlicher Enthaltsamkeit; und immer sagte man von ihm, er wisse Weihnachten recht zu feiern, wenn es überhaupt ein Mensch wisse. Möge dies auch in Wahrheit von uns allen gesagt werden können! Und so schließen wir mit Tiny Tims Worten: Gott segne uns alle und jeden!

ENDE



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