Tuesday, May 19, 2015

AUGUST STRINDBERG - Die Inselbauern oder Die Leute auf Hemsö - aus dem Schwedischen übertragen von Emil Schering (I)


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Johan August Strindberg  1849 - 1912



Johan August Strindberg war ein schwedischer Schriftsteller und Künstler. Er gilt als einer der wichtigsten schwedischen Autoren, besonders seine Dramatik ist weltbekannt. Von den 1870er Jahren bis zu seinem Tod dominierte er das literarische Schweden, war ständig umstritten und oft in persönliche Konflikte verwickelt. Zu seinem umfangreichen literarischen Werk gehören Romane, Novellen und Dramen, die zu den Klassikern schwedischer Literatur zählen.

Strindberg schrieb mehr als 60 Dramen, zehn Romane, zehn Novellensammlungen und mindestens 8.000 Briefe. Das macht ihn ohne Zweifel zu einem der produktivsten Autoren Schwedens. Strindberg umfasste alle großen Ideenströmungen, die es zum Ende des 19. Jahrhunderts gab. Er erneuerte die schwedische Prosa, indem er die deklamatorische und rhetorische Sprache der älteren Prosa durch Umgangssprache und scharfe Beobachtungen direkt aus dem Alltag ersetzte. Außerdem hatte Strindberg für seine Zeit möglicherweise höchste Bedeutung als Dramatiker: Er war inspiriert von Shakespeare und dessen schnellen Szenenwechseln. Strindberg revolutionierte das Drama aber auch, indem er die Schauspieler eine natürliche Umgangssprache verwenden ließ. Die Handlung in seinen Stücken bewegt sich typischerweise in einer historischen Umgebung und veranschaulicht Klassenkampf und psychologischen Stellungskrieg.

Strindberg gilt als einer der Wegbereiter des modernen europäischen Theaters des 20. Jahrhunderts, vor allem mit seinen Dramen Fräulein Julie und der Trilogie Nach Damaskus. Damit ist er im gleichen Atemzug mit dem norwegischen Schriftsteller Henrik Ibsen und dem Russen Anton Tschechow zu nennen. Im deutschsprachigen Raum nahm er insbesondere aufgrund seiner sozialkritischen Themen und der Erfindung des Stationendramas Einfluss auf die Literatur.

Während Strindbergs Frühwerk dem Naturalismus zuzuordnen ist, gehören seine späteren Werke dem Expressionismus an. In der Sekundärliteratur wird sein literarisches Schaffen entsprechend in eine naturalistische und eine expressionistische Phase unterteilt.


NATURALISTISCHE  PHASE

In frühen Werken kombinierte Strindberg Sozialismus und Realismus: Treffsichere und oft anachronistische Schilderungen stützen die schonungslose Kritik an Staat, Kirche, Schule, Presse, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Institutionen. Die Perspektive ist oft die des Arbeiters oder des „unverdorbenen“ Jungen. In dem Gedicht Esplanadsystemet feierte er die schonungslose Auseinandersetzung der neuen Zeit mit folgendem Ideal: „Hier wird zerrissen, um Luft und Licht zu kriegen“.


Mit dem satirischen Sittenroman Das rote Zimmer gelang es Strindberg, erstmals das Aufsehen einer weiten Öffentlichkeit zu erregen. Mit „grimmigem, illusionslosem Sarkasmus“ kritisierte er die gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit, in der „des Jahrhunderts größte Entdeckung gemacht worden war, dass es nämlich billiger und angenehmer ist, vom Geld der anderen zu leben als von der eigenen Arbeit“. Wenn auch Strindbergs Kritiker gespalten waren, wurden 7.500 Exemplare des Romans innerhalb von 6 Monaten verkauft. Der Autor avancierte zum Wortführer der radikalen jungen Literaten und wurde als Wegbereiter des Zola-Naturalismus in Schweden gefeiert. Strindberg, der Émile Zola bis dahin nie gelesen hatte, wurde dadurch erst auf das Werk des Naturalismus-Begründers aufmerksam.

Auch mit seinen darauf folgenden Werken handelte sich Strindberg heftige Kritik ein, insbesondere mit Das schwedische Volk, einer Art populärwissenschaftlichem Sachbuch, und der satirischen Schrift Das neue Reich, mit der er die Konservativen offen angriff.

Inspiriert von Friedrich Nietzsche und Jean-Jacques Rousseau veranschaulichte Strindberg naturalistische und evolutionstheoretische Ideen, z. B. in der Novelle Odlad frukt (Gedüngte Frucht) und im Roman Hemsöborna (1887, Die Leute auf Hemsö): Erbe und Umwelt treiben die Charaktere durch die Handlung zu ihrem „natürlichen“ Schicksal.

Die bedeutendsten Dramen der naturalistischen Phase sind zweifelsohne Der Vater und der Einakter Fräulein Julie.

Weiterhin schrieb Strindberg in dieser Zeit teils autobiografische Romane, mit denen er die Literatur von der Kunst zu emanzipieren versuchte. Insbesondere ist hier Tjänstekvinnans son. En själs utvecklingshistoria (Der Sohn einer Magd. Entwicklung einer Seele, 4 Bde. 1886–1909) zu nennen.


EXPRESSIONISTISCHE  PHASE

Mehr noch als den Naturalismus beeinflusste Strindberg den Expressionismus durch seine späteren Werke. Nach den psychischen Krisen in den 1890er Jahren (vgl. Inferno-Krise) wechselte Strindberg den Fuß: Mit religiösen Ideen inspiriert von Emanuel Swedenborg und Sören Kierkegaard löste Strindberg den früheren Realismus auf, um dem mehr Expressionistischen Platz zu machen. Er entwickelte sich „vom Naturalisten zum Mystiker, vom Zweifler zum Gläubigen, und um die Jahrhundertwende erklärte er sich als ein Schüler Maurice Maeterlincks, des Symbolisten“.
 

Sein erstes Werk nach Inferno ist die Bekenntnis-Trilogie Nach Damaskus, worin sich der innere Streit um Schuld, Leiden und Versöhnung findet, den er während der letzten Jahre führte.

Strindberg nahm seine frühere Rolle als Gesellschaftskritiker in den Jahren nach 1900 wieder auf mit Romanen wie Schwarze Fahnen und Die gotischen Zimmer. Sowohl Diskussionsgegner als auch Kollegen und Freunde wurden einer schonungslosen Satire ausgesetzt.


Einflüsse

Strindberg unterhielt einige Monate Ende 1888 einen Briefwechsel mit dem damals relativ unbekannten Friedrich Nietzsche. Sie hatten eine Reihe Berührungspunkte in ihrer Auffassung vom Leben und von der Philosophie, und Strindberg träumte davon, mit Nietzsche an seiner Seite eine neue literarische Schule aufzubauen.

Bedeutenden Einfluss auf die Weltanschauung und Wertehaltung Strindbergs übte die Philosophie Friedrich Nietzsches aus, die Strindberg durch die Lektüre der bahnbrechenden Werke Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse und Götzendämmerung kennenlernte. Nietzsches aristokratischer Ansatz, dass die Überwindung der decadence – als nihilistisches Paradigma – einer neuen Elite bedarf, traf pointiert Strindbergs Selbstverständnis.
 

Als er von Nietzsche einen sonderbaren und aggressiven Brief erhielt, welcher unterzeichnet war mit „Nietzsche Caesar“ (Strindberg unterzeichnete alle seine Rückschreiben mit Deus, optimus maximus, also Gott, bester und höchster), schrieb er an Georg Brandes, der auch diesem philosophischen Briefkreis angehörte, dass Nietzsche sie vielleicht vor dem literarischen Publikum kompromittieren könnte. Kurz darauf kam es in Turin zu Nietzsches psychischem Zusammenbruch.

Weitere Einflüsse bezog Strindberg von Emanuel Swedenborg, Sören Kierkegaard, Arthur Schopenhauer und Honoré de Balzac.


http://de.wikipedia.org/wiki/August_Strindberg


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ERSTES  KAPITEL

Carlsson geht in Dienst
und wird für einen Schwätzer gehalten

 
Er kam wie ein Schneegestöber eines Aprilabends und hatte eine Kruke aus schwedischem Ton an einem Hungerriemen um den Hals. Clara und Lotte waren mit dem Netzboot nach dem Badeort Dalarö gefahren, um ihn zu holen; aber es dauerte Ewigkeiten, bis sie ins Boot kamen. Sie mußten zum Kaufmann, um eine Tonne Teer zu besorgen, und zur »Aptheke«, um graue Salbe fürs Ferkel zu kaufen; und dann mußten sie auf die Post, um eine Freimarke zu holen; und dann mußten sie zu Fia Lövström, um den Hahn zu borgen, gegen ein Halbpfund dünnes Garn zum Netzbau. Und zuletzt waren sie im Gasthaus gelandet, in das Carlsson die Mädchen zu Kaffee mit Kuchen geladen hatte.
Endlich kamen sie doch ins Boot.
Carlsson wollte steuern, aber das konnte er nicht; er hatte noch nie einen Rahsegler gesehen, daher schrie er, sie sollten die Fock hissen, die gar nicht vorhanden war.
Auf der Zollbrücke standen Lotsen und Zöllner, die über das Manöver grinsten, als das Boot über Stag ging und abgetrieben wurde.
– Hör mal, du hast ein Loch im Boot! schrie ein junger Lotse durch den Wind. Stopf zu! Stopf zu!
Während Carlsson nach dem Loch guckte, hatte Clara ihn fortgestoßen und das Steuerruder genommen; und mit den Riemen gelang es Lotte, das Boot wieder in den Wind zu bringen; mit gutem Gang segelte es dem Sunde zu.
Carlsson war ein kleiner viereckiger Wärmländer mit blauen Augen und einer Nase, die so krumm war wie ein Doppelhaken. Lebhaft, spielerisch, neugierig war er, aber vom Seewesen verstand er nichts. Er war auch nach der Insel Hemsö gerufen worden, um für Feld und Vieh zu sorgen; damit wollte sich nämlich niemand mehr befassen, seit der alte Flod aus dem Leben geschieden war und die Witwe allein auf dem Hofe saß.
Als Carlsson die Mädchen mit Fragen nach den Verhältnissen auf dem Hofe anzapfte, bekam er Antworten, wie sie die Bewohner des Inselmeers zu geben pflegen.
– Ja, das weiß ich nicht! Ja, das kann ich nicht sagen! Ja, das weiß ich wirklich nicht!
Daraus wurde er nicht klug!
Der Kahn plätscherte zwischen Holmen und Schären dahin, während die Eisente zwischen den Kobben schnatterte und im Fichtenwald der Birkhahn balzte. Über freie Wasserflächen, die »Fjärde«, und über Strömungen fuhr das Boot, bis die Nacht kam und die Sterne aufleuchteten.
Da gings auf das große Wasser hinaus, wo der Leuchtturm der »Hauptschäre« blinkte. Bald kam man an einem Stangenzeichen mit Besen vorbei, bald an einer weißen Bake, die wie ein Gespenst aussah; bald leuchteten zurückgebliebene Schneewehen wie Leinen auf der Bleiche; bald tauchten aus dem schwarzen Wasser »Netzwächter« auf, die am Kiel schrapten, wenn man darüber fuhr. Eine schlaftrunkene Mantelmöwe ward von ihrem Riff aufgescheucht und brachte Leben in Seeschwalben und Möwen; ein höllischer Lärm brach los.
 Weit draußen, wo die Sterne ins Meer tauchten, leuchteten das rote und das grüne Auge eines großen Dampfers; der schleppte eine lange Reihe runder Lichter, die durch die Ventile der Kajüten schimmerten.
Alles war Carlsson neu, und er fragte nach allem; und jetzt erhielt er Antwort, und zwar so viele, daß er einsah, er war auf fremden Boden gekommen. »Er war eine Landratte«, das heißt ungefähr dasselbe, was für den Städter »Einer vom Lande« ist.
Jetzt segelte der Kahn in einen Sund und kam in Lee; man mußte das Segel reffen und rudern.
Als sie bald darauf in einen neuen Sund kamen, sahen sie ein Licht von einer Hütte leuchten, die zwischen Erlen und Kiefern lag.
– Jetzt sind wir zu Hause, sagte Clara.
Das Boot schoß in eine schmale Bucht; eine Rinne war durchs Schilf gehauen, das an den Seiten des Kahns raschelte; dieses Rascheln weckte einen Laichhecht, der sich in den Anblick einer Angelrute vertieft hatte.
Der Hund gab Laut, und eine Laterne kam oben in der Hütte in Bewegung.
Der Kahn wurde an der Landungsbrücke festgemacht, und die Ausladung begann. Das Segel wurde um die Rahe gerollt, der Mast herausgenommen, und die Stage mit den Tauen umwunden. Die Teertonne rollte man ans Land, und Kübel, Kannen, Körbe, Bündel lagen bald auf der Landungsbrücke.
Carlsson schaute sich im Halbdunkel um und erblickte lauter neue und ungewöhnliche Dinge. Vor der Landungsbrücke lag der Fischkasten mit seinem Hebespiel; an der langen Seite der Brücke lief ein Geländer, das mit Netzbojen, Fangleinen, Dregghaken, Senkern, Schnüren, Grundleinen,  Angelhaken behängt war; auf den Brückenplanken standen Strömlingstrommeln, Tröge, Wannen, Bottiche, Näpfe, Grundleinenkasten; am Brückenkopf lag ein Seeschuppen, der mit Lockvögeln behängt war: ausgestopfte Eidergänse, Sägetaucher, Langschnäbel, Trauerenten, Quakenten; unter der Dachtraufe lagen auf Haltern Segel und Masten, Riemen und Bootshaken, Schöpfkellen, Eispickel, Quappenkeulen. Und am Lande standen Pfähle, an denen Strömlingsnetze trockneten, so groß wie die größten Kirchenfenster; Flundernetze mit Maschen, durch die man den Arm stecken konnte; Barschgarn, neu geknüpft und weiß wie die feinsten Schlittennetze; doch von der Brücke geradeaus zogen sich zwei Reihen Gabelstangen wie eine Gutsallee, und an denen hingen die großen Zugnetze.
Vom höchsten Ende des Ganges kam jetzt die Laterne und warf ihren Schein auf den Sandweg, auf dem Muschelschalen und getrocknete Fischkiemen glitzerten, während in den Zugnetzen zurückgebliebene Strömlingsschuppen wie Reif an Spinngewebe blinkten. Aber die Laterne beleuchtete auch das Gesicht einer älteren Frau, das vom Wind gedörrt zu sein schien, und ein Paar kleiner freundlicher Augen, die beim Herdfeuer zusammengeschrumpft waren. Vor der Alten her sprang der Hund, ein zottiger Köter, der ebenso gut auf See wie auf Land zu Hause sein mochte.
– Nun, seid ihr da, Mädchen, grüßte die Alte, und habt ihr den Burschen bei euch?
– Ja, da sind wir, und hier ist Carlsson, wie Ihr seht, Tante! antwortete Clara.
Die Alte wischte ihre rechte Hand an der Schürze ab und reichte sie dem Knecht.
– Willkommen, Carlsson; mögt Ihr Euch bei uns heimisch fühlen!
Und zu den Mädchen:
– Habt ihr Kaffee und Zucker mitgebracht, Mädchen? Sind die Segel im Schuppen? Dann kommt hinauf, ich werde euch etwas zu essen geben.
Alle vier gingen die Höhe hinauf; Carlsson still, neugierig, voller Erwartung, wie sein Leben sich in der neuen Stellung gestalten würde.

Drinnen in der Stube brannte Feuer im Ofen; auf dem weißen Klapptisch lag eine reine Decke; auf der Decke stand eine Flasche Branntwein, in der Mitte wie ein Stundenglas zusammengeschnürt; rings herum Tassen aus schwedischem Porzellan, auf denen Rosen und Vergißmeinnicht abgebildet waren; ein frischgebackenes Brot, gedörrter Zwieback, ein Teller mit Butter, Zuckerdose und Sahnenkanne vervollständigten den Tisch. Carlsson fand ihn reicher, als er von dieser gottverlassenen Gegend erwartet hatte.
Aber auch die Stube selbst sah nicht übel aus, als er sie im flammenden Schein des Herdfeuers musterte; das kreuzte sich mit dem Talglicht des Messingleuchters, schien in der etwas unreinen Politur des Mahagonisekretärs wider, spiegelte sich in dem lackierten Gehäuse und dem Messingpendel der Wanduhr, funkelte auf den Silbereinlagen der damascierten Läufe der Vogelflinten, hob die vergoldeten Buchstaben auf den Rücken der Postillen, Gesangbücher, Kalender, Bauernregeln hervor.
– Tretet näher, Carlsson, lud ihn die Alte ein.
Carlsson war ein Kind der neuen Zeit und lief wirklich nicht in die Scheune hinaus, sondern trat sofort näher und setzte sich auf ein Banksofa, während die Mädchen seinen Kasten in die Küche schafften, die auf der andern Seite des Flurs lag.
Die Alte hakte den Kaffeekessel ab und legte die Klarhaut  hinein; hakte ihn wieder an und ließ ihn noch etwas kochen. Dann erneuerte sie die Einladung, dieses Mal mit dem Zusatz, Carlsson möge sich an den Tisch setzen.
Der Knecht setzte sich und drehte die Mütze zwischen den Fingern. Er paßte auf, wie der Wind wehte, um seine Segel danach zu richten. Er hatte offenbar die feste Absicht, sich mit den Maßgebenden gut zu stellen; da er aber noch nicht wußte, ob die Alte mit sich reden ließ, wagte er es nicht, seinem Mundwerk freien Lauf zu lassen, ehe er nicht wußte, wo das Land lag.
– Das ist aber ein feiner Sekretär, begann er und befühlte die Messingrosetten.
– Hm! sagte die Alte, es ist aber nicht viel darin.
– Oho, das weiß ich wohl, schmeichelte Carlsson und bohrte den kleinen Finger in das Schlüsselloch der Klappe; darin ist genug!
– Ja, einst war wohl ein Stück Geld darin, als wir ihn von der Auktion nach Hause brachten; dann aber mußte der Flod in die Erde, und Gustav mußte Soldat spielen, und seitdem ist keine rechte Ordnung auf dem Hof gewesen. Und dann wurde das neue Haus gebaut, das keinen Nutzen bringt. So kam eins zum andern. Aber nehmt Zucker, Carlsson, und trinkt eine Tasse Kaffee.
– Soll ich damit anfangen? sperrte sich der Knecht.
– Ja, da noch niemand zu Hause ist, antwortete die Alte. Der verwünschte Junge ist auf der See, mit der Flinte; und den Norman nimmt er immer mit; so wird keine ordentliche Arbeit geleistet. Wenn sie nur fort kommen und einen Vogel jagen können, lassen sie Viehzucht und Fischerei zu Grunde gehen. Das ist die Ursache, weshalb ich Euch herkommen ließ, Carlsson, damit Ihr nach dem Rechten schaut. Darum sollt Ihr Euch gewissermaßen für etwas mehr halten und ein Auge auf die Burschen haben. Wollt Ihr nicht einen Zwieback nehmen, Carlsson?
– Ja, Tante, soll ich gewissermaßen etwas mehr sein, damit die Andern auf mich hören, dann muß auch eine bestimmte Ordnung gelten. Dann muß ich an Tante einen Rückhalt haben, denn ich weiß, wie es geht, wenn man sich mit den Burschen duzt und gemein macht.
So gewann Carlsson das Land, als er wußte, wo es lag.
– Was das Seegeschäft anlangt, fuhr er fort, da mische ich mich nicht hinein; das kenne ich nicht, aber auf dem Lande, da weiß ich Bescheid, und da will ich Herr sein.
– Ja, das werden wir morgen regeln; dann haben wir Sonntag und können bei Tageslicht alles besprechen. Nun noch eine halbe, Carlsson, dann könnt Ihr Euch schlafen legen.
Die Alte goß zum zweiten Male Kaffee ein, und Carlsson nahm das Stundenglas, um die Tasse mehr als dreiviertel zu füllen. Nachdem er die Mischung hinuntergeschlürft hatte, fühlte er große Lust, das fallen gelassene Gespräch, das ihn äußerst angenehm berührt hatte, wieder aufzunehmen. Aber die Alte war aufgestanden, um sich am Herd zu schaffen zu machen; die Mädchen liefen aus und ein; der Köter gab Laut auf dem Hofe und lenkte die Aufmerksamkeit ab.
– Da haben wir die Burschen, sagte die Alte.
Draußen erklangen Stimmen, Absatzeisen klirrten auf den Steinen, und durch die Balsaminen im Fenster sah Carlsson draußen im Mondschein die Gestalten zweier Männer, die eine Flinte auf der Schulter und eine Tracht auf dem Rücken hatten.
Der Köter bellte im Flur, und gleich darauf ward die Tür geöffnet. Herein trat der Sohn in Wasserstiefeln und Jagdjoppe. Mit dem sichern Stolz des glücklichen Jägers schleuderte er Jagdtasche und ein Bündel Eider auf den Tisch an der Tür.
– Guten Abend, Mutter, da hast du Fleisch! grüßte er, ohne den Kömmling zu bemerken.
– Guten Abend, Gustav! Ihr seid lange fort gewesen, grüßte die Mutter zurück, während sie unwillkürlich einen zufriedenen Blick auf die prachtvollen Eider warf; mit dem kohlschwarzen und kreideweißen Gefieder, der rosenroten Brust und dem seegrünen Nacken. Ihr habt gute Beute gemacht, sehe ich. Hier haben wir Carlsson, den wir erwarteten!
Der Sohn warf einen forschenden Blick aus seinen kleinen, scharfen Augen, die von hellroten Wimpern halb verborgen waren, und änderte sofort sein Gesicht: offen war es gewesen, und schüchtern wurde es.
– Guten Abend, Carlsson, sagte er kurz und scheu.
– Guten Abend, antwortete der Knecht, indem er einen unbefangenen Ton anschlug, bereit, den Überlegenen zu spielen, sobald er über den jungen Mann im Klaren war.
Gustav nahm den Platz auf dem Hochsitz ein, stützte sich mit dem Ellbogen aufs Fensterbrett und ließ sich von der Mutter eine Tasse Kaffee einschenken, in die er sofort Branntwein goß. Während er trank, betrachtete er Carlsson heimlich.
Der hatte die Vögel genommen und untersuchte sie.
– Das sind prächtige Tiere, sagte er und kniff sie in die Brust, um zu fühlen, ob sie fett seien. Er ist ein guter Schütze, sehe ich, der Schuß sitzt an der rechten Stelle.
Gustav antwortete mit einem listigen Grinsen; er hörte sofort, daß der Knecht nichts vom Weidwerk verstand, da  er Schüsse lobte, die in den Brustfedern saßen und die Eider zu Lockvögeln untauglich machten.
Carlsson aber schwatzte unverzagt weiter, lobte die Taschen aus Seehundsfell, pries die Flinte, machte sich so klein wie möglich; stellte sich in Seesachen noch unwissender, als er wirklich war.
– Wo hast du Norman gelassen? fragte die Alte, die schläfrig wurde.
– Er bringt nur die Sachen in den Schuppen, antwortete Gustav; er kommt gleich.
– Rundqvist hat sich schon niedergelegt. Es ist auch Zeit, und Ihr müßt müde sein, Carlsson, da Ihr lange unterwegs gewesen seid. Ich will Euch zeigen, wo Ihr liegen sollt, wenn Ihr mitkommt.
Carlsson wäre gern geblieben, um das Stundenglas auslaufen zu sehen; aber der Wink war so deutlich, daß er die Geduld der Wirtin nicht länger auf die Probe zu stellen wagte.
Die Alte ging mit ihm in die Küche hinaus.
Gleich kam sie aber zum Sohn zurück, der sofort seinen freimütigen Ausdruck wieder annahm.
– Nun, wie findest du ihn? fragte die Alte; er sieht ordentlich und willig aus.
– Nein, nein! antwortete Gustav gedehnt. Trau ihm nicht, Mutter; er schwatzt nur Unsinn!
– Was du sagst! Er kann doch wohl ordentlich sein, wenn er auch ein Mundwerk hat.
– Glaub mir, Mutter, das ist ein Schwätzer; mit dem werden wir uns zu schleppen haben, bis wir ihn wieder los werden. Aber das macht nichts; er soll schon arbeiten fürs Essen, und mir soll er nicht zu nahe kommen. Du glaubst  allerdings nie, was ich sage, aber du wirst schon sehen! Wirst schon sehen. Nachher reut es dich, wenn’s zu spät ist! Wie wars mit dem alten Rundqvist? Der hatte auch ein tüchtiges Mundwerk, aber sein Rücken war schwach; wir haben uns mit ihm schleppen müssen, und jetzt werden wir ihn füttern, bis er stirbt. Solche Schwätzer sind nur bei der Schüssel groß, das kannst du mir glauben!
– Du bist wie dein Vater, Gustav; traust den Leuten nichts Gutes zu und verlangst dann unvernünftig viel! Der Rundqvist ist kein Seemann, sondern auch vom Lande; aber er kann vieles, was andere nicht können. Und Seeleute kriegen wir nicht mehr; die gehen zur Flotte, zum Zoll oder werden Lotsen. Nur Leute vom Lande kriegt man. Siehst du, man nimmt, was man bekommt.
– Das weiß ich wohl, daß keiner mehr Knecht sein will! Alle suchen Staatsdienst, und hier draußen auf den Inseln sammelt sich aller Abfall vom Festland. Ordentliches Volk kommt nicht in die Schären hinaus; es muß denn besondere Ursachen haben. Darum sage ich noch ein Mal: Halt die Augen offen!
– Du, Gustav, solltest die Augen offen halten, gab die Alte zurück, um dein Hab und Gut in Ordnung zu bringen. Einst wird es ja deins! Du solltest zu Hause bleiben und nicht immer auf der See herumliegen; zum mindesten die Leute nicht von der Arbeit abhalten.
Gustav rupfte eine Eider und antwortete:
– Ei, Mutter, du liebst es doch auch, wenn Braten auf den Tisch kommt, nachdem es den ganzen Winter über eingesalzenes Schweinefleisch und gedörrten Fisch gegeben hat; du mußt also nicht so sprechen. Übrigens gehe ich nicht in den Krug, und etwas muß der Mensch doch zu seinem Vergnügen haben. Essen haben wir ja genug, und etwas Geld  auf der Bank auch, und verfaulen tut der Hof nicht; will er brennen, so mag er; er ist ja versichert.
– Verfaulen wird der Hof nicht, das weiß ich wohl, aber alles Andere geht entzwei. Die Feldzäune müssen ausgebessert werden, die Gräben gereinigt werden. Das Stalldach ist so morsch, daß es aufs Vieh regnet. Nicht eine Brücke ist heil, die Boote sind zerbrechlich wie Zunder, die Netze müssen geflickt, der Milchkeller gedeckt werden. Und so weiter. Da ist so vieles, das gemacht werden müßte, aber nie gemacht wird. Jetzt aber wollen wir mal sehen, ob es nicht doch gemacht werden kann, nachdem wir einen Knecht eigens dafür angenommen haben. Es wird sich ja herausstellen, ob Carlsson nicht der rechte Mann dafür ist.
– Dann laß ihn nur machen! schnauzte Gustav, indem er mit der Hand durch das kurzgeschorene Haar fuhr, daß es wie Stacheln in die Höhe stand. Da ist Norman! Komm und trink eine Halbe, Norman!
Norman, klein, breit, hellblond, mit keimendem Schnurrbart und blauen Augen, trat in die Stube und ließ sich bei seinem Jagdgenossen nieder, nachdem er die Alte gegrüßt.
Die beiden Helden zogen ihre Tonpfeifen aus den Westentaschen und stopften sie mit »Schwarzem Anker«. Dann gingen sie nach Jägerart, bei einer Halben Kaffee mit Branntwein, alle ihre Heldentaten draußen am offenen Meere durch; Schuß für Schuß. Die Vögel wurden untersucht, die Finger in die Schußwunde gebohrt, die Hagelkörner gezählt, unentschiedene Treffer erörtert. Schließlich entwarfen sie Pläne zu neuen Ausflügen.

Inzwischen war Carlsson in die Küche hinausgekommen, um sein Nachtlager aufzusuchen.
Die Küche war eine Firststube und sah wie eine mit dem Kiel nach oben gekehrte Schute aus, die auf der Ladung schwamm. Die Ladung bestand aus allen möglichen Gütern. Hoch oben unter dem berußten Dachfirst hingen Garn und Fischgeräte an den Balken; darunter waren Bretter und Bootsplanken zum Trocknen verstaut; Flachs und Hanfsträhne, Dregganker, Schmiedeeisen, Zwiebelbündel, Talglichter, Mundvorratskasten; aus einem Querbalken lag eine lange Reihe frisch ausgestopfter Lockvögel; über einen andern waren Schaffelle geworfen; von einem dritten baumelten Wasserstiefel, Unterjacken, Hemden, Strümpfe; und zwischen den Balken liefen Spieße mit Lochbroten, Stöcke mit Aalhäuten, Stangen mit Grundschnüren und Angelhaken.
Am Giebelfenster stand der Eßtisch aus rohem Holz; an den Wänden standen drei Ausziehsofas, die mit reinen, aber groben Laken gebettet waren.
In einem davon hatte die Alte Carlsson einen Platz angewiesen. Als sie sich mit dem Licht entfernte, ließ sie den Kömmling im Halbdunkel, das nur schwach von der Herdglut und einem kurzen Mondstreifen erleuchtet wurde. Der Mond zeichnete Pfosten und Sprossen des Fensters auf den Boden. Aus Gründen der Schamhaftigkeit wurde beim Schlafengehen kein Licht angesteckt; denn die Mädchen hatten auch ihre Schlafplätze in der Küche.
So entkleidete sich Carlsson im Halbdunkel. Er legte Rock und Stiefel ab; dann holte er die Uhr aus der Westentasche, um sie beim Schein des Herdfeuers aufzuziehen. Er hatte den Schlüssel ins Loch gesteckt und begann ihn mit etwas ungewohnter Hand zu drehen; die Uhr ging nämlich nur an Sonntagen und bei feierlichen Gelegenheiten; da erklang aus den Bettdecken eine tiefe, brummende Stimme:
– Nein, hat er auch eine Uhr!
Carlsson fuhr zusammen, sah hin und bemerkte im Glutschein einen zottigen Kopf mit einem Paar blinzender Augen, der sich auf zwei Arme stützte.
– Gehts dich was an? erwiderte er, um die Antwort nicht schuldig zu bleiben.
– Gehts an, dann läutet man in der Kirche, obgleich ich nie hineinkomme! antwortete der Kopf.
– Obgleich? O gleich gieße ich dir einen Eimer Wasser über den Kopf, gab Carlsson zurück.
– Das ist nicht so dumm geantwortet, stammelte der Andere. Das ist jedenfalls ein feiner Mann: er hat ja Saffian an den Stiefelschäften.
– Das will ich meinen; und Galoschen hat er auch, wenn’s darauf ankommt!
– Nein, hat er auch Galoschen; dann kann er sicher auch einen Schluck spendieren!
– Ja, das kann er auch, wenn’s sein muß, antwortete Carlsson bestimmt und holte seine Tonkruke. Bitte!
Er zog den Kork heraus, trank einen Schluck und reichte die Kruke hinüber.
– Gott segne ihn; ich glaube wirklich, das ist Branntwein. Dann: Gutjahr und Willkommen! Jetzt sage ich du zu dir, Carlsson, und du nennst mich den närrischen Rundqvist, denn so heiße ich meistens.
Und dann kroch er wieder unter die Decke.
Carlsson entkleidete sich und kroch ins Bett, nachdem er seine Uhr am Salzfaß aufgehängt und die Stiefel mitten ins Zimmer gestellt hatte, damit die roten Saffianzwickel recht zu sehen waren.
Es war still in der Küche und nur Rundqvist hörte man schnarchen am Herd.
Carlsson lag wach und dachte an die Zukunft. Wie ein  Nagel saß ihm das Wort der Alten im Kopfe, daß er etwas mehr als die Andern sein solle, um die Wirtschaft in die Höhe zu bringen. Um den Nagel schmerzte und schwärte es; es war, als habe er ein Gewächs im Kopf. Er dachte an den Mahagonisekretär, an die roten Haare und mißtrauischen Augen des Sohnes. Er sah sich mit einem großen Schlüsselbund herumlaufen, mit dem er in der Hosentasche klapperte; da kommt einer und bittet um Geld; er hebt das Schurzfell, schüttelt das rechte Bein, steckt die Hand in die Tasche und fühlt die Schlüssel gegen den Schenkel; dann zupft er am Bund, wie man Werg auszieht, und als er den kleinsten Schlüssel, der in die Klappe paßt, gefunden hat, steckt er den ins Schlüsselloch, ganz wie er’s heute Abend mit dem kleinen Finger getan hatte; aber das Schlüsselloch, das wie ein Auge mit einem Augapfel ausgesehen, wird rund, groß und schwarz wie eine Flintenmündung, und über dem andern Ende des Laufes sieht er das rote Fischauge des Sohnes scharf und tückisch zielen, als wolle der sein Geld verteidigen.
Die Küchentür ging, und Carlsson wurde aus seinem Halbschlummer gerissen. Mitten im Zimmer, wohin die Mondscheiben gerückt waren, standen zwei weißgekleidete Gestalten, um gleich darauf in ein Bett unterzutauchen; das gewaltig knarrte, wie wenn ein Boot gegen eine schwankende Landungsbrücke stößt. Dann ward es in den Laken lebendig und kicherte, bis es still wurde.
– Gute Nacht, Mädchen, erklang Rundqvists erlöschende Stimme. Träumt von mir!
– Daran ist uns allerdings sehr gelegen, antwortete Lotte.
– Still, antworte dem Scheusal nicht, warnte Clara.
– Ihr seid ... so ... nett! Wenn ich nur auch so ... nett  ... sein könnte wie ihr! seufzte Rundqvist. Ja, Herr Gott, man wird alt; dann kann man seinen Willen nicht mehr kriegen, und dann ist das Leben nichts mehr wert. Gute Nacht, Kinder, und hütet euch vor Carlsson: der hat Uhr und Saffianstiefel! ... Ja, Carlsson, der ist glücklich! Das Glück das kommt, das Glück das fliegt, o glücklich, wer das Mädchen kriegt! ... Was habt ihr dort in euerm Bett zu kichern, Mädchen! ... Hör mal, Carlsson, kann ich nicht noch einen Schluck haben? Es ist so furchtbar kalt hier hinten; es zieht vom Herd her.
– Nein, jetzt kriegst du nichts mehr, denn nun will ich schlafen, schnauzte Carlsson, in seinen Zukunftsträumen, in denen weder Wein noch Mädchen vorkamen, gestört und bereits mit seiner Stellung als Großknecht vertraut.
Es wurde wieder still. Nur dumpfe Laute von den Geschichten der Jäger drangen durch die beiden Türen; und der Nachtwind rüttelte an der Ofenklappe.
Carlsson schloß wieder die Augen. Im Schlummer hörte er Lottes halblaute Stimme etwas auswendig hersagen, das er zuerst nicht verstehen konnte, sondern wie ein einziger langer Salm klang; schließlich unterschied er:
– Undführeunsnicht – inversuchung, sondernerlöseunsvondemübel, denndeinistdasreich, unddiemachtunddieherrlichkeit inewigkeitamen. Gute Nacht, Clara! Schlaf gut!
Und nach einem Weilchen schnarchte es im Bett der Mädchen. Rundqvist aber sägte, daß die Fenster zitterten, ob nun aus Scherz oder Ernst. Aber Carlsson lag halbwach und wußte selbst nicht, ob er wachte oder schlief.
Da hob sich seine Decke und ein fleischiger, schweißiger Körper kroch an seine Seite.
– Es ist nur Norman! hörte er eine schöntuende Stimme  neben sich. Da wußte er, es war der Knecht, der sein Bettgenosse sein sollte.
– Aha, der Schütze ist heimgekehrt, knarrte Rundqvists rostiger Baß. Ich dachte, es sei der Teufel, der am Sonnabend draußen geschossen.
– Du kannst ja gar nicht schießen, Rundqvist; du hast ja keine Flinte, schnauzte Norman.
– Kann ich nicht? gab der Alte zurück, um das letzte Wort zu haben. Ich kann Schwarzstare mit der Büchse schießen, und zwar zwischen den Laken ...
– Habt ihr das Feuer gelöscht? unterbrach ihn die freundliche Stimme der Alten, die aus dem Flur zur Tür hereinguckte.
– Jawohl, antwortete man im Chor.
– Dann gute Nacht!
– Gute Nacht, Tante!
Einige lange Seufzer wurden ausgestoßen, dann wurde gepustet, geschnaubt, gekeucht, bis das Schnarchen im Gang war.
Aber Carlsson lag noch eine Weile halb wach und zählte die Fensterscheiben, um einen Wahrtraum zu haben.
 

ZWEITES  KAPITEL

 

Sonntagsruhe und Sonntagsgeschäft; der gute Hirte
und die bösen Schafe; die Schnepfen, die ihr Teil bekamen
und der Knecht, der die Kammer bekam

 
Als Carlsson am Sonntagsmorgen beim Hahnenschrei erwachte, waren alle Betten leer, und die Mädchen standen im Unterrock am Herde, während die Sonne voll und blendend in die Küche schien.
Carlsson fuhr schnell in die Hosen und ging hinaus, um sich zu waschen. Da saß bereits der junge Norman auf einem Strömlingsfaß und ließ sich von dem allkundigen Rundqvist die Haare schneiden. Rundqvist hatte ein reines Vorhemd angezogen, das so groß wie eine Tageszeitung war, und seine besten Stiefel hatte er auch an.
Bei einem eisernen Kochtopf, der seine Füße verloren hatte und deshalb Waschschüssel geworden war, mußte Carlsson mit einem Häuflein grüner Seife seine Sonntagswaschung vornehmen.
Im Stubenfenster zeigte sich Gustavs sommersprossiges Gesicht eingeseift; vor einem Stück Spiegel, das unter dem Namen »Sonntagsgucker« bekannt war, fuhr er mit dem im Sonnenschein blitzenden Rasiermesser unter furchtbaren Grimassen hin und her.
– Geht ihr heute in die Kirche? fragte Carlsson zum Morgengruß.
– Nein, wir kommen nicht so oft ins Gotteshaus, antwortete  Rundqvist. Wir haben zwei Rudermeilen hin und ebensoviele zurück, und man muß den Ruhetag nicht mit unnützer Arbeit entheiligen.
Lotte kam heraus, um Kartoffel zu waschen, während Clara nach dem Vorratsschuppen ging, um aus dem Winterfaß gesalzene Fische zu holen. In diesem sogenannten »Familiengrabe« waren alle kleinen Fische, die im Netz oder Fischkasten getötet waren und nicht aufbewahrt werden konnten, eingesalzen, durcheinander, ohne Ansehen der Person, um für den täglichen Bedarf des Hauses zu dienen. Da lagen blasse Plötze Seite an Seite neben roten Rotaugen; Blicken, Kaulbarsche, Seehasen, Barsche, kleine Brathechte, Schollen, Schleie, Quappen, Maränen. Alle hatten einen Schaden: eine zerfetzte Kieme, ein ausgehacktes Auge; einen Hieb im Rücken, der von einer Fischgabel herrührte; andere hatten einen Fußtritt auf den Bauch erhalten; und so weiter.
Clara nahm einige Hände voll, wusch das meiste Salz aus und tat die Gesellschaft in den Kochtopf.
Während das Frühstück auf dem Feuer stand, hatte Carlsson sich angekleidet und machte nun einen Rundgang, um sich den Hof anzusehen.
Das Haus, das eigentlich aus zweien zusammengebaut war, lag auf einer Anhöhe am südlichen und innern Ende der langen, ziemlich seichten Bucht einer freien Meeresfläche. Diese Bucht schnitt so tief ins Land, daß man das große Meer nicht sah, sondern glauben konnte, man sei an einem kleinen Binnensee im Innern des Landes. Die Hänge der Höhe senkten sich zu einem Tal nieder mit Weidegründen, Wiesen, Hagen, die mit Laubwald, Birke, Eiche, Erle, eingefaßt waren. Die nördliche Seite der Bucht war durch eine mit Fichtenwald bewachsene Höhe gegen die kalten Winde geschützt, und die südlichen Teile der Insel bestanden aus Kiefergehölzen, Birkenhagen, Mooren, Sümpfen; zwischen denen war ein Stück Acker hier und dort angelegt.
Auf der Höhe stand neben dem Wohnungshaus der Vorratsschuppen; ein Stück davon lag das neue Haus, die »Großstuga«, ein rotes ziemlich großes Blockhaus mit Ziegeldach. Der alte Flod hatte es sich fürs Altenteil errichtet; jetzt stand es unbewohnt, weil die Alte allein dort nicht hausen wollte; auch unnötig viele Feuerstätten dem Walde zu sehr zugesetzt hätten.
Weiterhin, dem Hage zu, lagen Viehstall und Scheune; in einem Gehölz stattlicher Eichen hatten Darrstube und Keller ihre schattigen Plätze; und ganz hinten an der südlichen Wiese war das Dach einer verfallenen Schmiede zu sehen.
Unten, am innern Ende der Bucht, standen die Seeschuppen bis an die Landungsbrücke; dort war auch der Hafen für die Boote.
Ohne die Schönheiten der Landschaft zu bewundern, war Carlsson doch von dem Ganzen angenehm überrascht. Die fischreiche Bucht, die ebenen Wiesen, die vor Winden geschützten und gerade richtig abfallenden Felder, der dichte Hochwald, die schönen Nutzhölzer in den Hagen: alles versprach guten Ertrag, wenn nur eine starke Hand die Kräfte in Bewegung setzte und die vergrabenen Schätze ans Tageslicht brachte.
Nachdem er hierhin und dorthin geschlendert, wurde er in seinen Betrachtungen durch ein schallendes »Halloh« unterbrochen, das vom Vorbau ausging, von Buchten und Feldern widerhallte und gleich darauf von Scheune, Hag und Schmiede im selben Tone beantwortet wurde.
Es war Clara, die zum Frühstück rief.
Bald saßen die vier Männer um den Küchentisch, auf dem frischgekochte Kartoffeln, gesalzener Fisch, Butter, Roggenbrot und, da es Sonntag war, Branntwein stand. Die Alte ging umher und forderte die Männer auf, zuzulangen; auch warf sie dann und wann ein Auge auf den Herd, wo jetzt für Hühner und Ferkel gekocht wurde.
Carlsson hatte an der oberen Schmalseite des Tisches Platz genommen, Gustav die eine, Rundqvist die andere Breitseite, Norman die untere Schmalseite gewählt; man wußte eigentlich nicht, wer den Ehrenplatz hatte, sondern glaubte die vier Sprecher eines Ausschusses vor sich zu haben. Doch führte Carlsson das Wort, und seine Aussprüche betonte er, indem er mit der Gabel auf den Tisch stieß. Er sprach von Landwirtschaft und Viehzucht; aber Gustav antwortete entweder überhaupt nicht oder mit Fischfang und Jagd. Norman unterstützte ihn dabei, und Rundqvist spielte den unparteiischen Sonderer; warf dann und wann einen Scheit ins Feuer, damit kein Friede aufkam; blies die Flamme an, wenn sie erlöschen wollte; stichelte nach rechts und stichelte nach links; bewies der Gesellschaft, daß sie alle gleich dumm und unwissend seien, daß er allein den Verstand gepachtet habe.
Gustav antwortete Carlsson niemals direkt, sondern wandte sich immer an einen Nachbar; Carlsson sah ein, daß er von ihm keine Freundschaft zu erwarten habe.
Norman, der Jüngste, vergewisserte sich erst immer, daß er am Hausherrn einen Rückhalt hatte; nach dem sich zu richten, war immer das Sicherste.
– Ferkel aufziehen, wenn man keine Milch hat, das lohnt nicht, lehrte Carlsson; und Milch kann man nicht bekommen, ohne daß man Klee in die Herbstsaat säet. In der Landwirtschaft muß Kreislauf sein; eines muß auf das Andere folgen.
– Das ist ganz wie beim Fischen, nicht wahr, Norman, wandte sich Gustav an seinen Nachbar. Man kann nicht die Strömlingsnetze setzen, ehe nicht die Schollen aufgehört haben; und man kriegt keine Schollen, ehe der Hecht nicht gelaicht hat. Das eine folgt aufs andere, und wenn man das Eine fahren läßt, fängt das Andere an. Ist es vielleicht nicht so, Norman?
Norman stimmte ohne Widerstreben bei und wiederholte zur Sicherheit den Endreim, als er merkte, daß Carlsson zurückschlagen wollte:
– Ja, so ist es: das Eine fängt an, wenn man das Andere fahren läßt.
– Wer läßt einen fahren? rief Rundqvist dazwischen, der die gute Gelegenheit nicht vorbeigehen ließ.
Carlsson, der den Schwanz eines Rotauges zwischen den Zähnen hatte, machte heftige Gebärden mit den Armen, um das Gespräch wieder nach seiner Seite zu wenden. Ins Grinsen der Andern aber mußte er einstimmen, obwohl sie mehr aus Schadenfreude grinsten, daß die Landwirtschaft beiseite geschoben wurde, als über den billigen Witz.
Von seinem Erfolg ermuntert, machte Rundqvist Variationen über das glücklich gefundene Thema; ein ernstes Wort fand keinen Zuhörer mehr.
Als das Frühstück zu Ende war, kam die Alte und bat Carlsson und Gustav, mit ihr nach dem Viehstall und auf die Felder zu gehen, um über die Verteilung der Arbeit zu sprechen und zu beraten, was zu tun sei, um den Hof in bessern Stand zu bringen. Danach würden sich alle in der Stube versammeln, um die Predigt zu lesen.
Rundqvist legte sich beim Herd aufs Holzsofa und steckte sich eine Pfeife an. Norman nahm seine Handharmonika und setzte sich in den Vorbau, während die andern nach dem Viehstall gingen.
Carlsson fand mit einer gewissen Befriedigung seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Zwölf Kühe lagen auf den Knien und fraßen Moos und Stroh, da das Futter zu Ende war. Jeder Versuch, sie aufzurichten, war unmöglich; nachdem Carlsson und Gustav sie auf die Beine zu bringen versucht, indem sie ihnen eine Bohle unter den Bauch schoben, überließ man sie vorläufig ihrem Schicksal.
Carlsson schüttelte bedenklich den Kopf, wie ein Arzt, der ein Sterbebett verläßt; sparte aber seine guten Ratschläge und Verbesserungsvorschläge für später auf.
Mit dem Ochsenpaar stand es noch schlimmer, da es eben mit dem Pflügen fertig geworden war.
Die Schafe hatten nur Rinde zu knuppern von den längst abgefressenen Laubbüscheln.
Die Schweine waren mager wie Jagdhunde. Die Hühner liefen im Viehhof umher, auf dem Misthaufen zerstreut waren, von denen das Wasser in Bächlein abfloß.
Nachdem man sich alles angesehen und den Verfall erkannt hatte, erklärte Carlsson, hier sei nur noch mit dem Messer etwas zu machen.
– Sechs Kühe, die Milch geben, sind besser als zwölf, die hungern!
Er untersuchte Spiegel und Euter und bezeichnete mit großer Sicherheit die sechs, die man auffüttern und dann zum Schlächter bringen solle.
Gustav machte Einwendungen.
Carlsson aber versicherte und beteuerte, sie müßten geschlachtet werden! Sie müßten sterben, so wahr er lebe! Dann könnte man eine andere Ordnung einführen. Zuerst aber müsse vor allem trockenes, gutes Heu gekauft werden, ehe man das Vieh in den Wald lassen könne.
Als Gustav von Heukaufen sprechen hörte, machte er die lebhaftesten Vorstellungen, doch nicht sein Geld für etwas auszugeben, das man selber habe. Aber die Alte brachte ihn mit der Erklärung zum Schweigen, davon verstehe er nichts.
Nachdem man noch einige weniger wichtige Anordnungen getroffen, verließ man den Viehhof und wanderte auf die Felder hinaus.
Hier lagen ganze Strecken brach.
– Ach, ach! sagte Carlsson mitleidig, als er den guten Boden auf so veraltete Art bewirtschaftet sah. Ach! wie kindisch! Kein Mensch hat mehr Brache, sondern Kleeweide! Wenn man jedes Jahr ernten kann, warum soll man es nur jedes zweite Jahr tun?
Gustav meinte, jährliche Ernten saugten den Boden aus; der müsse auch ruhen wie der Mensch.
Aber Carlsson gab eine ganz richtige, wenn auch etwas dunkle Erklärung ab, Kleesaat dünge den Boden, statt ihn auszusaugen; auch halte sie ihn von Unkraut frei.
– Davon habe ich noch nie gehört, meinte Gustav. Saaten, die düngen!
Er konnte Carlssons gelehrte Auseinandersetzung, daß Grasgewächse ihre meiste Nahrung »aus der Luft« holen, nicht verstehen.
Darauf untersuchte man die Abzugsgräben; die standen voll Grundwasser, waren zugewachsen, konnten nicht ablaufen.
Das Korn stand stellenweise, als habe man Hände voll ausgesäet, und das Unkraut wucherte zwischen den Schollen.
Die Wiesen waren nicht geharkt; das Laub des Vorjahres bedeckte und erstickte das Gras, das zu einem einzigen Kuchen zusammengeklebt war.
Die Feldzäune waren im Begriff umzufallen; Brücken fehlten; alles war so baufällig, wie die Alte es in dem Gespräch am Abend dargestellt hatte.
Gustav aber wollte nichts von Carlssons tiefdringenden Untersuchungen wissen; er lehnte sie ab als etwas Unangenehmes, das man aus der Vergangenheit ausgrub. Er fürchtete die viele Arbeit, die winkte, und noch mehr, daß seine Mutter Geld herausrücken müsse.
Als sie dann nach der Kälberweide gingen, blieb Gustav zurück; als sie in den Wald kamen, war er verschwunden. Die Alte rief nach ihm, erhielt aber keine Antwort.
– Mag er gehen, meinte die Alte. So ist Gustav! Er ist immer etwas dumpf und träge; nur dann nicht, wenn er mit der Flinte auf die See hinaus kann. Aber daran müßt Ihr Euch nicht kehren, Carlsson, denn etwas Böses ist nicht in ihm. Sein Vater wollte etwas Besseres aus ihm machen; er sollte nicht als Knecht gehen, sondern konnte tun, was er wollte. Als er zwölf Jahre alt war, kriegte er sein eigenes Boot, natürlich auch eine Flinte. Seitdem war nichts mehr mit ihm zu wollen. Jetzt geht’s mit dem Fischen zurück; darum habe ich an den Acker denken müssen, der schließlich doch noch sicherer ist als die See. Es wäre auch gegangen, wenn Gustav nur verstanden hätte, die Leute anzuhalten; aber er muß sich immer so gemein mit den Burschen machen, und dann geht’s mit der Arbeit nicht vorwärts.
– Das taugt allerdings nicht, die Leute zu verwöhnen, hakte Carlsson ein; und das muß ich Euch gleich sagen, Tante, hier unter vier Augen: soll ich so etwas wie Kustos sein, so muß ich in der Stube essen und allein in der Kammer schlafen; sonst haben die Leute keinen Respekt, und ich komme nicht vom Fleck.
– In der Stube essen, Carlsson, versetzte besorgt die Alte, während sie über den Zauntritt stieg, wird wohl kaum gehen. Die Leute lassen sich’s nicht mehr gefallen, daß man anderswo ißt als mit ihnen in der Küche. Der alte Flod hat’s nicht einmal gewagt, und Gustav hat sich’s nie getraut. Und tut man’s, machen sie sofort Spektakel über das Essen; stellen sich auf die Hinterbeine. Nein, daraus kann nichts werden. Daß Ihr aber auf der Kammer schlaft, ist etwas anderes; das wollen wir mal sehen. Die Leute finden ja schon, es seien ihrer zu viel in der Küche; und Norman, denke ich, schläft lieber allein in seinem Bett als mit einem Andern zusammen.
Carlsson hielt es für das Beste, sich mit halbgewonnenem Spiel zu begnügen, und steckte die andere Pfeife vorläufig in den Sack.
Sie kamen jetzt in den Fichtenwald, wo zwischen einigen Geschiebeblöcken noch eine Schneewehe lag, die von Staub und herabgefallenen Nadeln beschmutzt war. Die Fichten schwitzten in der brennenden Aprilsonne schon Harz aus; zu ihren Füßen blühten weiße Osterblumen, und unter den Haselbüschen guckten Leberblümchen durch das durchbrochene Nervennetz des modernden Laubes. Aus dem Haarmoos stieg eine warme Feuchtigkeit; zwischen den Baumstämmen sah man das Flimmern über dem Wiesenzaun zittern; weiter fort blaute die von einer leichten Brise bewegte Meeresfläche; das Eichhörnchen kicherte oben im Gezweig und der Grünspecht hämmerte und schrie.
Die Alte trippelte auf dem kahlen Fußpfad über Nadeln und Wurzeln. Carlsson, der hinter ihr ging, sah, wie sich ihre Schuhsohlen unter geschmeidigen Schritten bogen und unter dem Saum des Kleides verschwanden. Da erinnerte er sich daran, daß sie ihm gestern älter vorgekommen war.
– Ihr seid aber flink auf den Beinen, Tante, fand sich Carlsson veranlaßt, seinen Frühlingsgefühlen Luft zu machen.
– Ach, wie Ihr sprecht! Man könnte glauben, Ihr wollt mit einer alten Frau Euern Spaß treiben.
– Nein, ich meine immer, was ich sage, versicherte Carlsson glaubhaft. Um mit Tante Schritt zu halten, gerate ich in Schweiß.
– Wir wollen jedenfalls nicht weiter gehen, antwortete die Alte und blieb stehen, um zu verschnaufen. Hier könnt Ihr Euch den Wald ansehen, Carlsson; hierher bringen wir das Vieh im Sommer, wenn es nicht draußen auf den Werdern ist.
Carlsson warf einen sachverständigen Blick auf den Wald; er fand, daß da viele Klafter Brennholz standen und gutes Balkenholz sich auf der Wurzel erhob.
– Aber wie schlecht gepflegt! Da liegen noch Wipfel und Reisig in einem solchen Gerümpel zusammen, daß kein Mensch durchkommen kann!
– Da seht Ihr selbst, Carlsson, wie es steht. Nun mögt Ihr walten und schalten, wie Ihr wollt! Ihr werdet schon Ordnung schaffen, dessen bin ich sicher! Nicht wahr, Carlsson?
– Meine Arbeit werde ich schon leisten, wenn die andern nur ihre tun! Und dazu müßt Ihr mir helfen, Tante, knetete Carlsson seinen Teig. Er fühlte, es werde nicht so leicht sein, sich eine Stellung als Korporal zu schaffen, da die Gemeinen länger am Platze waren.
Unter unausgesetztem Gespräch über die Art und Weise, wie Carlsson seine Oberhoheit einnehmen und bewahren könne, gingen sie zurück. Diese seine Oberhoheit sei die Hauptbedingung für das Aufblühen des Hofes, suchte Carlsson der Bäuerin einzureden.
Jetzt sollte die Predigt gelesen werden, aber von den Männern ließ sich keiner sehen. Die beiden Schützen waren mit den Flinten in den Wald gegangen; Rundqvist verbarg sich wohl wie gewöhnlich auf einer sonnigen Höhe. So war es immer, wenn sie Gottes Wort hören sollten.
Carlsson versicherte, man könne sich ohne Zuhörer behelfen; und wenn die Mädchen die Tür zur Küche öffneten, könnten sie auch ein Wort vernehmen, während die Töpfe kochten.
Als die Alte ihre Unruhe äußerte, sie werde nicht lesen können, war Carlsson sofort bereit, die Sache zu übernehmen.
– Ach! Ich habe in meiner früheren Stellung so manche Predigt gelesen; daran soll es nicht fehlen.
Die Alte nahm den Kalender und schlug den Text des Tages auf, der heute, am zweiten Sonntag nach Ostern, vom guten Hirten handelte.
Carlsson nahm Luthers Postille vom Brett und setzte sich auf einen Stuhl mitten ins Zimmer; da konnte er sich einbilden, von der Gemeinde gut gesehen zu werden. Darauf schlug er das Gesangbuch auf und begann mit hoher Stimme, über die Tonskala laufend, wie ers von den Reisepredigern gehört und selbst getan hatte, den Text vorzupredigen.
– »Zu dieser Zeit sagte Jesus zu den Juden: Ich bin der gute Hirte: der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Ein Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, verläßt die Schafe und flieht.«
Ein seltsames Gefühl persönlicher Verantwortung bemächtigte sich des Vorlesers, als er die Worte »Ich bin der gute Hirte« aussprach; er sah bedeutungsvoll zum Fenster hinaus, 38 als suche er die beiden flüchtigen Mietlinge Rundqvist und Norman.
Die Alte nickte traurig und nahm die Katze auf die Knie, als öffne sie dem verlorenen Schaf ihre Arme.
Carlsson aber las mit vor Rührung zitternder Stimme, als habe er es selbst geschrieben, weiter.
– »Aber der Mietling flieht – ja er flieht, schmückte er aus – denn er ist Mietling (schrie er) und achtet der Schafe nicht.«
– »Ich bin der gute Hirte, und kenne meine Schafe, und meine Schafe kennen mich,« fuhr er aus dem Gedächtnis fort, da das ein Spruch aus dem Katechismus war.
Darauf senkte er die Stimme, schlug die Augen nieder, als trauere er tief über die Bosheit der Menschen, und seufzte hervor, mit starker Betonung und Seitenblicken, nicht ohne verschmitzt verstehen zu geben, daß er mit Schmerz unbekannte Schelme angebe, ohne sie gerade anzuklagen:
– »Ich habe auch andere Schafe, die nicht aus diesem Schafstall sind; die muß ich heranziehen; und sie sollen meine Stimme hören!«
Und mit einem verklärten Lächeln, prophetisch, hoffnungsvoll, zuversichtlich, flüsterte er:
– »Und es soll eine Herde und ein Hirte sein.«
– Und ein Hirte! echote die Alte, die ihre Gedanken ganz wo anders hatte als Carlsson.
Darauf griff er die Postille an; machte zuerst ein saures Gesicht, als er die Anzahl der Seiten überschlug und sah, daß es ein »langes Ding« war; faßte dann aber Mut und begann. Die Behandlung des Stoffes paßte nicht ganz zu seinen Absichten, sondern hielt sich mehr an die christlich symbolische Seite; darum war sein Interesse nicht so lebhaft wie beim Text. In rasendem Laufe eilte er durch die Spalten und steigerte die Geschwindigkeit, wenn er zum Umblättern kam, so, daß er mit dem angefeuchteten Daumen zwei Blätter auf ein Mal umschlug, ohne daß die Alte etwas merkte.
Als er aber sah, das Ende war nahe, fürchtete er, gegen das Amen zu prallen; deshalb verlangsamte er die Schnelligkeit. Aber es war zu spät: beim letzten Umblättern hatte er zu dick auf den Daumen gespuckt und drei Blätter auf ein Mal genommen; nun traf er aufs Amen ganz oben auf der nächsten Seite, als stieße er mit dem Kopf gegen eine Wand.
Die Alte wachte von dem Stoß auf und guckte schlaftrunken nach der Uhr.
Carlsson wiederholte daher das Amen noch ein Mal, indem er es etwas ausschmückte:
– »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und um unseres Erlösers willen.«
Um den Schluß abzurunden und zu sühnen, was er verbrochen, betete er ein Vaterunser, so langsam und ergreifend, daß die Alte, die mitten in die Sonne gekommen war, noch ein Mal einnickte.
Sie hatte Zeit sich zu ermuntern, während Carlsson, um alle unangenehmen Erklärungen abzuschneiden, den Kopf in der linken Hand verbarg, um ein leises Gebet zu sprechen, das nicht unterbrochen werden durfte.
Die Alte fühlte sich auch schuldig und wollte nun ihre Aufmerksamkeit dadurch beweisen, daß sie in selbstgewählten Worten zeigte, was sie eingeheimst. Carlsson schnitt ihr aber das Wort ab, indem er bestimmt erklärte, nach dem Grundtext und den eigenen Worten des Erlösers handle es sich um nichts Geringeres: eine Herde und ein Hirte! Einer ausschließlich, einer für alle, einer, einer, einer!
In diesem Augenblick rief Clara laut zum Mittagessen. Aus der Tiefe des Waldes antworteten zwei fröhliche Hallohs, denen Flintenknalle folgten; und aus dem Schornstein der Schmiede stieg wie aus einem hungrigen Magen Rundqvists originelleres Puh!, das niemand verkennen konnte.
Und bald sah man die verirrten Schafe mit leichten Schritten zum Kochtopf eilen. Die Alte empfing sie, indem sie ihnen ihr Ausbleiben vorwarf. Die Antwort aber blieb keines der Unschuldigen ihr schuldig; sie beteuerten, sie hätten niemand rufen hören, sonst wären sie sofort gekommen.
Carlsson verhielt sich würdig, wie es sich beim Mittagstisch am Sonntag ziemte. Rundqvist aber sprach in dunklen Worten von den höchst »merkwürdigen« Fortschritten der Landwirtschaft. Carlsson ersah daraus, daß er von der Opposition bereits eingeweiht und gewonnen war.
Nach dem Essen, das aus einem in Milch mit Pfeffer gekochten Eiderpaar bestand, zogen sich alle Mannsleute zurück, um zu schlafen; Carlsson aber nahm sein Gesangbuch aus dem Kasten und setzte sich draußen auf die Höhe, wo er einen trockenen Stein fand. Den Fenstern der Hütte drehte er den Rücken, um etwas einnicken zu können.
Die Alte fand das vielversprechend, da der Sonntagnachmittag sonst gewöhnlich verloren ging.
Als Carlsson glaubte, es sei genug Zeit verflossen, um die Andacht wahrscheinlich zu machen, stand er auf, ging, ohne anzuklopfen, in die Stube und rückte mit dem Wunsch heraus, die Kammer zu sehen.
Die Alte wollte die Sache verschieben und schützte Reinmachen vor; Carlsson aber bestand darauf. So wurde er denn auf den Boden geführt.
Da war wirklich unter dem Dachstuhl ein viereckiger Kasten  eingebaut; auf dem Giebel öffnete er sich mit einem Fenster, das jetzt von einer blaugestreiften Rollgardine verhängt war. Die Kammer enthielt ein Bett und einen kleinen Tisch, der vorm Fenster stand und eine Wasserkaraffe trug. An den Wänden hing etwas, das durch die weißen, verhüllenden Laken wie Kleider aussah und sich, wenn man näher ging, auch als Kleider erwies: hier guckte ein Rockkragen mit seinem Anhänger hervor, dort schlenkerte ein Hosenbein heraus. Darunter stand ein ganzes Heer von Schuhen, Männer- und Frauenstiefeln durch einander. Hinter der Tür befand sich ein gewaltiger mit Eisen beschlagener Kasten, der ein Schlüsselschild aus getriebenem Kupfer trug.
Carlsson zog die Rollgardine auf und öffnete das Fenster, um die mit Feuchtigkeit, Kampfer, Pfeffer, Wermut vermengte Luft herauszulassen. Dann legte er die Mütze auf den Tisch und erklärte, hier werde er gut schlafen. Als die Alte ihre Befürchtungen aussprach, die Kälte werde ihm unangenehm sein, bekannte er, er sei es gewohnt, kalt zu liegen; das sei ein Vorteil, den er in der warmen Küche unmöglich haben könne.
Der Alten ging es etwas zu schnell; sie wollte erst die Kleider fortnehmen, damit sie nicht im Tabaksrauch hingen. Carlsson versprach sofort, er werde nicht rauchen; bat und beschwor sie, die Kleider hängen zu lassen. Er wolle sie nicht einmal ansehen; Tante solle sich nicht die Mühe machen, seinetwegen umzukramen. Er werde abends ins Bett kriechen und morgens selbst sein Waschwasser ausgießen und sein Bett machen. Niemand brauche hineinzugucken. Er verstehe wohl, Tante sei um ihre Habseligkeiten besorgt, und hier gebe es ja mehr als genug davon.
Als er die Alte mit seinem Mundwerk herumgekriegt hatte, ging Carlsson hinunter, holte Kasten und Branntweinkrug herauf, hing seine Jacke an einen Nagel am Fenster, stellte seine Wasserstiefel neben die anderen Schuhe.
Darauf bat er um eine Unterredung, bei der Gustav zugegen sein müsse, denn jetzt solle die Arbeit verteilt werden, damit morgen jeder auf seinem Posten sei.
Nach vieler Mühe wurde Gustav gefunden und veranlaßt, eine Weile in die Stube zu kommen; an den Verhandlungen aber nahm er nicht teil, auf Fragen antwortete er nur mit Einwendungen, warf Schwierigkeiten auf; kurz, stellte sich auf die Hinterbeine.
Carlsson versuchte ihn durch Schmeichelei zu gewinnen, ihn durch Sachkenntnis zu erdrücken, ihm Achtung vor der Überlegenheit des Älteren beizubringen; das war aber nur Wasser aufs Feuer.
Schließlich wurden alle Teile müde und Gustav war verschwunden, ehe man sich’s versah.
Inzwischen war es Abend geworden und die Sonne versank in Nebel, die bald stiegen und den Himmel mit kleinen Federwolken bedeckten; die Luft aber blieb warm.
Carlsson spazierte aufs Ungefähr die Wiese hinunter und kam in den Ochsenhag; wanderte weiter unter den blühenden, noch halb durchsichtigen Haselbüschen, die gewissermaßen einen Tunnel über den »Drog« bildeten; dieser »Drog« führte zum Seeufer hinunter, wo das Brennholz von der Jacht des Aufkäufers geholt zu werden pflegte.
Plötzlich blieb er stehen: durch die Wachholdersträucher bekam er Gustav und Norman zu Gesicht; sie waren auf dem Felsenhügel einer Lichtung aufgestellt, die sich hier öffnete; hatten die Flinten angelegt, die Hähne gespannt und guckten sich nach allen Seiten um.
– Still, jetzt kommt er! flüsterte Gustav, doch so laut, daß es Carlsson hörte.
Im Glauben, er sei gemeint, verbarg sich Carlsson in den Büschen.
Aber über die jungen Fichten kam ein Vogel geflogen, langsam und träg wie eine Eule, mit schlaffen Flügeln, und gleich darauf kam noch einer.
– Quarr-Quarr-Murr-Murr-Pfip! klang es in der Luft, und dann paff! paff! aus beiden Flinten, aus denen Hagel und Rauch wie ein Besen herausfuhren.
Es knisterte in den Zweigen einer Birke, und eine Schnepfe fiel einen Steinwurf von Carlsson nieder.
Die Schützen liefen hin und holten die Beute; die veranlaßte sie zu einem kleinen Meinungsaustausch.
– Der hat seinen Teil, sagte Norman und kräuselte die Brustfedern des noch warmen Vogels.
– Ich weiß noch einen, der seinen Teil haben müßte! meinte Gustav, der trotz dem Jagdfieber noch von Nebengedanken geritten wurde. So ein Kerl, will jetzt auch auf der Kammer liegen!
– Nein, wirklich? witterte Norman.
– Ja, und dann will er Ordnung in den Hof bringen! Als wüßten wir nicht besser als er, was Ordnung ist. Aber so ist’s: neue Besen kehren gut, so lange sie neu sind; doch laßt mir nur Zeit, ich werde es ihm schon zeigen!
– Und dann, sagte er nicht, die Kleesaat hole ihre Nahrung aus der Luft, was?
– Ja, aus der Luft; aus meinem Dreck holt sie die Nahrung!
Und die beiden Sachverständigen lachten, während Carlsson hinter dem Busche mit den Zähnen knirschte.
– Ja, er soll mir nur kommen, beteuerte Gustav, so einem Freischärler weiche ich nicht! Er soll mir nur kommen, hart wird er liegen! – Still, da streicht die andere zurück.
Die Schützen hatten neu geladen und liefen wieder auf ihren Anstand. Carlsson aber schlich sich behutsam nach Hause, entschlossen, zum Angriff überzugehen, sobald er genügend gerüstet war.
Als er am Abend auf die Kammer kam, die Rollgardine herabließ und das Licht ansteckte, fühlte er sich zuerst etwas beklommen, weil er allein war. Eine gewisse Furcht vor denen, von welchen er sich abgesondert hatte, überfiel ihn. Bisher war er immer gewohnt gewesen, sich zu allen Tageszeiten in Gesellschaft zu fühlen; immer bereit, angesprochen zu werden; nie um einen Zuhörer verlegen, wenn er plaudern wollte. Jetzt war es still um ihn, so still, daß er aus Gewohnheit erwartete, angesprochen zu werden; Stimmen zu hören glaubte, wo keine waren. Und sein Kopf, der sich bisher aller Gedanken im gesprochenen Wort entledigte, füllte sich mit einem Überschuß von unverbrauchtem Gedankensamen, der keimte und sprengte, um in irgend einer Form herauszukommen; der solche Unlust im Körper verursachte, daß die Ruhe des Schlafes sich nicht einfinden konnte.
Er wanderte also auf bloßen Strümpfen auf und ab, in der engen Kammer zwischen Fenster und Tür; richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Arbeit des morgenden Tages. Er ordnete die Beschäftigungen im Kopf und verteilte sie; begegnete im voraus Einwendungen, überwand Hindernisse.
Nachdem er eine Stunde so gearbeitet, hatte er Ruhe im Kopf; der war jetzt geordnet und liniiert wie ein Kontobuch; alle Posten waren an ihrer Stelle eingetragen und zusammengezählt: in einem Augenblick konnte man die Stellung übersehen.
Darauf ging er zu Bett. Als er sich allein zwischen den reinen, frischen Laken befand, ohne fürchten zu müssen, daß jemand ihn im Laufe der Nacht stören werde, fühlte er sich erst Herr seiner eigenen Person; einem Ableger gleich, der nun eigene Wurzeln angesetzt und vom Mutterstrauch abgeschnitten werden konnte, um sein Leben für sich zu leben, in eigenem Kampf, mit größerer Arbeit, aber auch mit größerer Lust.
So schlief er ein, um dem Montagsmorgen und der Arbeitswoche des Lebens zu begegnen.
 

DRITTES  KAPITEL

 

Der Knecht legt den Trumpf auf den Tisch, wird
Herr auf dem Hof, duckt die jungen Hähne und tritt
seine Hühner selbst

 
Der Blei laichte, der Wachholder knospete, der Faulbeerbaum blühte und Carlsson säete Frühlingssaat in die erfrorene Herbstsaat, schlachtete sechs Kühe, kaufte trockenes Stallheu für die andern, damit die wieder auf die Beine kommen und in den Wald gelassen werden konnten. Er rüstete und er ordnete, er arbeitete selbst für zwei: er hatte eine Fähigkeit, die Leute in Bewegung zu setzen, die allem Widerstand trotzte.
Auf einer Fabrik in Wärmland geboren, von ziemlich unbestimmten Eltern stammend, zeigte er schon früh eine entschiedene Unlust zu körperlicher Arbeit, entwickelte dagegen ein unglaubliches Erfindungsvermögen, sich dieser unangenehmen Folge des »Sündenfalls« zu entziehen. Darin hatte er ja Recht, zumal die Gedankenarbeit sowohl nützlicher, ehrenvoller, bequemer ist, wie sich mehr lohnt.
Zugleich von einem Verlangen getrieben, alle Seiten menschlicher Tätigkeit kennen zu lernen, blieb er nicht unnötig lange auf einer Stelle sitzen. Sobald er gelernt, was er wollte, suchte er einen neuen Wirkungskreis. Auf diese Weise war er vom Schmiedehandwerk zur Landwirtschaft übergegangen, hatte sich im Stalldienst versucht, beim Kaufmann gehandelt, war Gärtnerbursche, Bahnarbeiter, Ziegelstreicher und schließlich Reiseprediger gewesen!
Durch diese Wandlungen war sein Wesen geschmeidig geworden, hatte er die Fähigkeit erworben, sich in alle Verhältnisse und alle möglichen Menschen zu schicken; ihre Absichten zu verstehen, ihre Gedanken zu lesen, ihre geheimen Wünsche zu erraten. Er war mit einem Wort eine Kraft, die ihre Umgebung überragte. Seine mannigfachen Kenntnisse machten ihn fähiger, ein Ganzes zu leiten und zu ordnen; er wollte sich nicht als ein Rad dem Wagen einfügen, sondern sich von dem Wagen tragen lassen.
Durch einen Zufall in seine neue Stellung geworfen, sah er sofort ein: hier konnte er von Nutzen sein, hier vermochte er mit seinen Fähigkeiten das jetzt Wertlose zum Ertrag zu bringen, hier werde er deshalb bald geschätzt werden und schließlich unentbehrlich sein. Er hatte jetzt ein festes Ziel für sein Streben vor sich; und daß die Belohnung in einer verbesserten Lebensstellung auf ihn warte, hatte er hinter sich als sichere Hoffnung und treibende Kraft. Er arbeitete für die Anderen, sichtlich und unleugbar; aber zugleich schmiedete er sein eigenes Glück. Und wußte er’s so anzustellen, daß es aussah, als widmete er Zeit und Kraft fremdem Vorteil, so zeigte er damit, daß er klüger als mancher war, der es gern ebenso gemacht hätte, es aber nicht konnte.
Das größte Hindernis, das sich ihm in den Weg stellte, war der Sohn. Bei dem bestimmten Geschmack des Fischers und Jägers für das Ungewisse, für Überraschungen, hatte der einen entschiedenen Widerwillen für alles Geordnete, alles Sichere. Ackert man, meinte der, so kriegt man allerhöchstens so viel, wie man berechnet hat; niemals mehr, oft aber viel weniger. Setzt man dagegen Netze, so kriegt man das eine Mal nichts, aber das nächste Mal das Siebenfache von dem, was man erwartet. Fuhr man aus, um Aale zu fangen, geschah es zuweilen, daß man einen Seehund schoß; lag man einen halben Tag in den Schären, um auf Jägergänse zu lauern, konnte es vorkommen, daß einem Eider vor den Flintenlauf kamen. Immer war es etwas, und oft etwas anderes, als man erwartet hatte.
Übrigens galt die Jagd noch, nachdem sie als Vorrecht von den oberen Klassen zu den unteren gekommen war, für vornehmer und protziger, als hinter Pflug oder Dungwagen herzugehen. Das war den Leuten so in Fleisch und Blut übergegangen, daß man keinen Knecht dazu bringen konnte, mit einem Paar Ochsen zu fahren; wohl auch weil der Ochse beschnitten, »verändert«, war; vor allem aber, weil das Pferd von Alters her in abergläubischem Ansehen stand.
Ein zweiter Stein auf dem Wege war Rundqvist. Eigentlich war es ein alter Schelm, der auf seine Art das irdische Paradies wieder zu gewinnen suchte, ein Paradies ohne schwere Arbeit und mit langen Mittagsschläfchen und vielen Schnäpsen, indem er Kenntnis von verborgenen Dingen vorspiegelte; indem er allen Ernst, besonders die grobe Arbeit, fortscherzte; indem er, im Notfall, durch Vortäuschung geistiger Schwäche und körperlicher Übel Mitleid zu erwecken wußte, besonders wenn dieses sich in einer Tasse Kaffee mit Branntwein oder einem halben Pfund Schnupftabak äußerte. Er verstand Schafe und Ferkel zu verschneiden; glaubte mit der Wünschelrute Quellen zu finden; behauptete, den Barsch ins Netz locken zu können; heilte allerlei leichte Übel bei Andern, behielt aber seine eigenen; sagte bei Neumond schönes Wetter voraus, wenn es einen halben Monat geregnet hatte; opferte fremdes Geld unter einem großen Stein am Strande, wenn der Strömling kommen sollte.
Er konnte aber auch eine Menge Schlechtigkeiten, wie er behauptete: Täschelkraut aufs Feld des Nachbars bringen, die Kühe gelt machen, Hexenschüsse austeilen und dergleichen. All das umgab seine Person mit einer gewissen Furcht, so daß man ihn gern zum Freund haben wollte.
Seine Verdienste, denn die besaß er auch und ihretwegen war er unentbehrlich, bestanden darin, daß er schmieden und tischlern konnte. Aber seine unglaubliche Fähigkeit, alles zu machen, was auffiel, erhob ihn zu einem gefährlichen Nebenbuhler; denn was Carlsson unter dem Stalldach oder draußen auf dem Felde tat, fiel nicht so sehr auf.
Blieb Norman, ein tüchtiger Arbeiter; der mußte Gustavs mächtigem Einfluß entrissen und der regelmäßigen Feldarbeit wieder gewonnen werden.
Carlsson hatte also ein gehöriges Stück Arbeit zu leisten und außerdem nicht geringe diplomatische Schlauheit zu entwickeln, um durchzudringen; da er aber der klügste war, siegte er.
Mit Gustav nahm er den Kampf gar nicht erst auf; den ließ er laufen, nachdem er dessen Bundesgenossen Norman durch allerlei Vorteile von ihm fortgelockt hatte. Das war nicht so schwer, denn Gustav war, offen gesagt, etwas geizig und behandelte Norman auf den Jagden meist als Ruderer, der nie den ersten Schuß tun durfte; kriegte er wirklich einen Schnaps, nahm Gustav heimlich deren drei. So brachten die Vorteile, die Carlsson dem Norman auswirkte, höherer Lohn, neue Strümpfe, ein Hemd und andere Kleinigkeiten, diesen bald zum Abfall; zumal Carlssons steigende Macht mehr versprach als Gustavs sinkende.
Durch Normans Abfall wurde auch die Jagdlust des Sohnes herabgesetzt, denn allein umher zu fahren, war kein Vergnügen. Infolge dieses Mangels an Gesellschaft schloß sich Gustav den Andern bei der Arbeit an.
Rundqvist zu schuppen, war etwas schwerer; dieser Fisch war sowohl häßlich wie alt; aber Carlsson kriegte ihn auch bald in den Fischkasten.
Statt Geldstücke zu opfern, ließ Carlsson die Netze ausbessern und neue Leinen in alle Schleppzüge ziehen; und siehe da, der Strömling blieb besser hängen als früher. Statt mit der auf einem andern Baum gewachsenen Mistel nach neuen Quellen zu suchen, ließ Carlsson den alten Brunnen füttern und reinigen, baute eine Wanne darum und steckte einen Pumpenstock hinein; damit war die Mistel auf den Kehrichthaufen geworfen. Statt die Kühe zu besprechen und Feuer über sie zu schlagen, ließ er sie putzen und gab ihnen trockene Streu. Konnte Rundqvist Hufnägel schmieden, zog Carlsson Haken; konnte Rundqvist einen Rechen schnitzen, tischlerte Carlsson sowohl Pflug wie Walze.
Als Rundqvist sich aus allen seinen Maulwurfslöchern verjagt sah, griff er zu Mitteln, die mehr in die Augen fielen. Er begann rings ums Haus aufzuräumen; schaffte weg, was man den Winter über aus Nachlässigkeit oder infolge der Dunkelheit auf den Hof hatte »fallen« lassen; machte Hühnern und Katze den Hof; setzte eine neue Klinke an die Tür.
– Nein, wie nett Rundqvist geworden ist! Hat uns eine neue Klinke an die alte Tür gemacht! Ja, er kann nett sein, wenn er nur will.
So hörte Carlsson die Mägde in der Küche sprechen.
Aber Carlsson war wie ein Pfeil hinter ihm her. Eines Morgens war der Herd weiß gestrichen; eines andern Morgens waren die Wassereimer grün angemalt, mit schwarzen Rändern und weißen Herzen; wieder eines andern Morgens lag das Holz unter einem Dach, das er hinter der Vorratskammer aufgeschlagen. Carlsson hatte vom Feinde gelernt, die Großmacht der Küche zu gewinnen; mit dem neuen Pumpenstock war er unwiderstehlich geworden.
Rundqvist war jedoch zäh und hinterlistig; in einer Sonnabendnacht strich er den Abtritt grell rot.
Carlsson aber war ihm gewachsen; er gewann Norman mit einem Viertel Branntwein, und in der Dreifaltigkeitsnacht hörte die Alte, wie es um die Wände des Hauses tuschelte und raschelte; da sie aber zu verschlafen war, um aufzustehen, sah sie erst am Morgen, daß die ganze »Stuga« rot gestrichen war und weiße Fensterpfosten und weiße Dachrinnen hatte!
Damit war es mit Rundqvists Kraft, einen für sein Alter gar zu anstrengenden Kampf fortzusetzen, zu Ende. Man lachte jetzt über seinen köstlichen Geschmack, die Verschönerungen mit dem Abtritt zu beginnen. Norman, als echter Abtrünniger, machte einen Witz über ihn, der lange im Schwange blieb:
– Man muß am rechten Ende anfangen, sagte Rundqvist und strich zuerst den Abtritt an.
Rundqvist ergab sich, legte sich aber auf die Lauer, um noch einmal neue Schliche zu versuchen oder einen vorteilhaften Frieden zu schließen.
Gustav ließ sie gewähren; er sah zu und fand gut, was geschah.
– Pflügt ihr nur, dachte er; ich werde schon kommen und einheimsen.
Bisher hatte Carlssons Tätigkeit noch nicht Zeit genug gehabt, um es zu greifbaren Ergebnissen zu bringen. Das Geld, das für den Verkauf der Kühe eingenommen war, hatte allerdings einige Tage im Sekretär gelegen, nachdem es bei der Aufzählung einen ausgezeichneten Eindruck gemacht; es war aber bald wieder ausgegeben worden und hatte die Leere des Vermissens zurückgelassen.
Es ging gegen Mittsommer. Carlsson hatte viel zu bestellen gehabt und wenig Zeit zu Spaziergängen gefunden. Eines Sonntagsnachmittags ging er aber die Höhe hinauf und guckte sich um. Da fiel ihm die große Stuga in die Augen, die mit herabgelassenen Rollgardinen verödet dastand. Neugierig, wie er war, ging er hin und fand die Tür offen. Er trat in den Flur und entdeckte eine Küche; ging weiter und kam in ein großes Zimmer, das wirklich herrenmäßig aussah: weiße Gardinen, Himmelbett mit Messingbeschlägen, ein Spiegel mit geschnitztem und vergoldetem Rahmen und geschliffenem Glas – das war fein, das wußte er! – Sofa, Sekretär, Kachelofen; alles genau wie auf einem Herrenhof. Auf der andern Seite des Flurs war ein ebenso großes Zimmer mit Kamin, Eßtisch, Sofas, Wanduhr ...
Er war erstaunt und empfand Respekt. Bald aber begann er die Besitzer, die so wenig Unternehmungsgeist besaßen, zu bemitleiden und zu verachten; besonders als er sah, daß das Haus noch zwei Kammern mit mehreren gemachten Betten hatte.
– Oh, oh, oh, dachte er laut; so viel Betten und keine Badegäste.
Von dem Gedanken an die künftige Einnahme berauscht, ging er sofort zur Alten hinunter und hielt ihr vor, es sei Verschwendung, die Stuga nicht an Sommergäste zu vermieten.
– Ach was, wir finden niemand, der hier wohnen will! wehrte sich die Alte.
– Wie wißt Ihr das? Habt Ihr versucht? Habt Ihr die Stuga in der Zeitung angezeigt?
– Das heißt nur Geld in die See werfen! meinte Frau Flod.
– Man wirft auch Netze in die See, antwortete Carlsson. Und das muß man tun, wenn man was erhalten will.
– Versuchen kann man’s ja; aber Badegäste kriegen wir nicht, schloß die Alte, die nicht mehr an die Erfüllung von Wünschen glaubte.
Acht Tage später kam ein feiner Herr über die Wiese und sah sich um. Er kam näher. Als er auf den Hof trat, wurde er allein von dem Hunde empfangen, weil sich die Leute, nach ihrer Gewohnheit, aus Schüchternheit oder Feingefühl, in Küche und Stube verborgen hielten, nachdem sie vorher in einem Knäuel draußen gestanden und nach dem Besuch gegafft hatten. Erst als der Herr in die Tür trat, kam Carlsson als der Mutigste ihm entgegen.
Der Kömmling hatte eine Anzeige gelesen.
– Jaja, das ist hier!
Carlsson führte ihn nach der Großstuga hinauf.
Der Herr war ziemlich zufrieden. Carlsson versprach alle Verbesserungen, wenn der Herr sich sofort entscheide; denn der Bewerber seien viele und die Jahreszeit sei vorgeschritten.
Der Fremde schien von der schönen Lage des Hauses gefesselt zu werden und beeilte sich, abzuschließen.
Nachdem beide Teile sich nach den gegenseitigen Verhältnissen, wirtschaftlichen sowohl wie familiären, erkundigt hatten, entfernte der Fremde sich wieder.
Carlsson begleitete ihn bis zur Feldtür. Dann stürzte er in die Hütte zurück und legte vor Hausfrau und Sohn sieben Scheine zu je zehn Kronen und einen zu fünf auf den Tisch.
– Aber es ist nicht richtig, den Leuten soviel Geld abzunehmen, murrte die Alte.
Gustav aber war zufrieden; zum ersten Male sprach er Carlsson seine Anerkennung aus, als dieser erzählte, wie er durch den Hinweis auf viele Bewerber den Herrn gedrängt habe.
Geld auf den Tisch, das war ein Trumpf für Carlsson. Nach diesem Stückchen, bei dem ihm seine Erfahrung in Geschäftssachen zu gute gekommen war, sprach er in einem höheren Tone.
Es sei nicht nur das bare Geld für die Miete, das ihnen in den Schoß gefallen; es werde auch indirekte Einkünfte regnen.
Und Carlsson malte die Aussichten den lauschenden Zuhörern in raschen Zügen aus.
Man werde Fische, Milch, Eier, Butter verkaufen; Feuerung brauche man nicht umsonst zu liefern; nicht zu sprechen von den Fahrten nach dem Badeort Dalarö, für die man jedes Mal eine Krone nehmen könne. Und dann könnte man ein Kalb, ein Schaf, ein Huhn, Kartoffel und Gemüse absetzen. Oh, da sei etwas zu machen! Und es sei ein feiner Mann!
Am Mittsommerabend langten die erwarteten Goldfische an. Es waren Mann und Frau, eine Tochter von sechzehn und ein Sohn von sechs Jahren, dazu zwei Dienstmädchen.
Der Herr war Geiger der Hofkapelle, lebte in guten Verhältnissen, war ein Mann des Friedens, stand am Eingang der Vierziger. Er war von deutscher Geburt und konnte die Inselbauern nicht gut verstehen; darum beschränkte er sich darauf, zu allem, was sie sagten, beifällig zu nicken und »schön« zu sagen; so kam er rasch in den Ruf, ein sehr netter Herr zu sein.
Die Dame war eine ordentliche Hausfrau, die ihr Haus und ihre Kinder pflegte und sich durch ihr würdiges Benehmen bei den Mägden in Respekt zu setzen wußte, ohne zu wettern oder zu bestechen.
Carlsson nahm sich sofort als der am wenigsten Schüchterne und am meisten Sprechende der Fremdlinge an. Dazu hatte er ja auch ein Vorrecht, da er sie hergebracht. Auch besaß niemand von den andern weder die unternehmende Lust noch die gesellige Gabe, ihm seinen Platz streitig zu machen.
Die Ankunft der Städter unterließ nicht, ihren Einfluß auf Sinne und Sitten der Inselbauern auszuüben. Täglich Menschen vor sich zu sehen, die festtäglich gekleidet waren, jeden Tag zum Sonntag machten, ohne Ziel spazieren gingen und ruderten, badeten und musizierten; sich die Zeit vertrieben, als gebe es keinen Kummer, keine Arbeit in der Welt – das erregte anfangs keinen Neid sondern nur Erstaunen; Erstaunen darüber, daß das Leben sich so gestalten könne; Erstaunen über Menschen, die ihr Dasein so angenehm und ruhig, so rein und fein vor allem einzurichten vermochten, ohne daß man sagen konnte, sie hätten Andern Unrecht getan oder Arme geplündert.
Ohne sich dessen bewußt zu werden, fingen die Inselbauern an, sich stillen Träumen hinzugeben; verstohlene Blicke nach der Großstuga zu werfen. Sahen sie ein helles Sommerkleid auf der Wiese aufleuchten, blieben sie stehen und weideten sich an dem Anblick wie an etwas sehr Schönem. Gewahrten sie einen weißen Schleier um einen italienischen Strohhut, ein rotes Seidenband um einen schlanken Leib, in einem Boot auf der Bucht, zwischen den Fichten des Waldes, wurden sie still und andächtig vor Sehnsucht nach einem unbekannten Etwas, das sie nicht zu hoffen wagten, zu dem sie sich aber hingezogen fühlten.
Gespräch und Lärm unten in der Küche und der alten Stuga nahmen eine stillere Art an. Carlsson erschien beständig in reinem, weißem Hemd, hatte auch wochentags eine blaue Tuchmütze auf und nahm allmählich das Aussehen eines Verwalters an; hatte einen Bleistift in der Brusttasche oder hinterm Ohr und rauchte oft eine leichte Zigarre.
Gustav zog sich dagegen zurück, hielt sich so abseits wie möglich, um nicht zu Vergleichen Anlaß zu geben; sprach bitter von Städtern im allgemeinen; mußte sich und andere öfters als früher an das Geld auf der Bank erinnern; machte weite Bogen, um an der Großstuga vorbeizukommen und den hellen Kleidern auszuweichen.
Rundqvist ging mit finsterm Gesicht umher, hielt sich meist in der Schmiede auf und erklärte, er frage den Teufel nach der ganzen Welt, und sei es die Königinwitwe selber.
Norman dagegen holte seine Soldatenmütze hervor, schnallte den Hungerriemen über das Wams und schlug Haken um den Brunnen, wohin die Mägde der Herrschaft morgens und abends zu kommen pflegten.
Am schlimmsten kamen Clara und Lotte weg; die sahen bald alle Mannsleute feige abfallen, um zu den Mägden der Herrschaft überzugehen, die sich auf Briefen Fräulein nennen ließen und im Hut nach Dalarö, dem Badeort, fuhren. Clara und Lotte mußten barfuß gehen; im Viehstall war es so schmutzig, daß sie ihre Stiefel bald verdorben hätten; und in der Küche war es zu heiß, um beschuht zu sein. Sie trugen dunkle Kleider und konnten sich nicht einmal eine weiße Passe erlauben, infolge von Schweiß, Ruß, Spreu. Clara machte einen Versuch mit Manschetten, kam aber übel an; sie wurde sofort entlarvt, und man lachte lange über sie, daß sie sich in Wettstreit eingelassen. Doch am Sonntag hielten Clara und Lotte sich schadlos; da legten sie einen Eifer für den Kirchgang an den Tag, wie man seit Jahr und Tag nicht gesehen; nur um ihre besten Kleider anziehen zu können.
Carlsson machte sich immer etwas beim Professor zu schaffen; blieb stets am Vorbau stehen, wenn jemand dort saß; fragte nach dem Befinden; sagte schönes Wetter voraus; schlug Ausflüge vor; gab Ratschläge über die Seefischerei. Dann und wann bekam er ein Glas Bier oder einen Kognak. Die Anderen beschuldigten ihn bald, halblaut, er schmarotze.
Am Sonnabend, wenn die Köchin der Herrschaft nach dem Badeort Dalarö fuhr, um einzukaufen, entstand ein Meinungsaustausch, wer sie rudern solle. Carlsson entschied die Sache ganz einfach zu seinen Gunsten, denn das kleine, schwarze, weißhäutige Mädchen hatte es ihm angetan. Als die Alte ihm Vorstellungen machte, der erste und wichtigste Mann auf dem Hofe dürfe sich nicht mit solchen kleinen Dingen befassen, antwortete Carlsson, der Professor habe ihn eigens gebeten, weil wichtige Briefe zur Post müßten. Gustav verriet wider Willen, daß auch ihm daran gelegen sei, den Boten zu machen, indem er vorschlug, die Briefe sollten ihm anvertraut werden.
Carlsson aber erklärte bestimmt, er könne unmöglich zugeben, daß der Hausherr Knechtesdienste verrichte; das gebe den Leuten nur Stoff zum Klatschen. Und dabei blieb es.
Den Dalaröboten zu machen, hatte seine Vorteile, die der findige Knecht im voraus aufgespürt. Zuerst war man allein mit einem Mädchen auf See und konnte ungestört mit ihr schwatzen und schäkern. Dann folgten Bewirtung und Trinkgelder. Und im Badeorte konnte er sich alle Kaufleute verpflichten, indem er ihnen einen Kunden verschaffte; das brachte immer einen Händedruck ein, einen Schnaps hier, eine Zigarre dort; auch fiel ein gewisser Schein von Ansehen auf den, der Aufträge vom Professor zu besorgen hatte, am Wochentag fein gekleidet war und sich in Gesellschaft eines Fräuleins aus Stockholm befand.
Die Fahrten nach Dalarö fanden jedoch nur ein Mal in der Woche statt und hatten keinen störenden Einfluß auf den regelmäßigen Gang der Arbeit. Carlsson war nämlich so pfiffig, die Tage, an denen er fort war, den Burschen die Arbeit in Akkord zu geben: sie mußten so und so viele Klafter entwässern, so und so viele Äcker pflügen, so und so viele Bäume fällen; dann waren sie frei. Die Leute gingen mit Vergnügen darauf ein, denn auf diese Weise konnten sie schon zur Vesperzeit fertig sein.
Bei solchen Gelegenheiten, wenn die Arbeit zugemessen und die geleistete geprüft werden mußte, kam der Bleistift und das jetzt eingeführte Notizbuch zu Ehren. Carlsson gewöhnte sich daran, als Verwalter aufzutreten und allmählich die Arbeit auf andere Schultern gleiten zu lassen.
Gleichzeitig richtete er sich auf der Kammer wie in seinem eigenen Junggesellenzimmer ein. Tabakrauchen war längst eingeführt; auf den Tisch am Fenster hatte er ein grünes Taschentintenfaß, Federhalter, Bleifeder, einige Bogen Postpapier aufgetischt und mit Leuchter und Streichholzgestell geordnet: es sah aus wie ein Schreibtisch. Das Fenster ging nach der Großstuga; daran saß er in seinen Erholungsstunden und beobachtete die Bewegung der Herrschaft; auch konnte er hier zeigen, daß er zu schreiben verstand.
Abends machte er das Fenster auf, legte die Ellbogen aufs Fensterbrett und schmauchte eine Pfeife oder einen Zigarrenstummel, den er aus der Westentasche hervorsuchte. Oder er las ein Wochenblatt. Von unten sah das so aus, als sei er der Hausherr selbst.
Wenn es aber dämmerig wurde und er Licht ansteckte, legte er sich aufs Bett und rauchte. Dann kamen die Träume, Pläne vielmehr; die bauten sich auf Umstände auf, die zwar noch nicht eingetreten waren, aber durch eine kleine Änderung sich vielleicht einstellen konnten.
Als er eines Abends so auf dem Rücken lag und »Schwarzen Anker« qualmte, um die Mücken zu betäuben, während seine Augen sich auf das weiße Laken hefteten, das die Kleider bedeckte, ließ dieses plötzlich los und fiel zu Boden. Wie den Schatten einer Reihe Soldaten sah er die ganze Garderobe des Verstorbenen an der Wand Flankenmarsch machen; gegen das Fenster und zurück zur Tür, je nachdem das Licht im Zuge flackerte. Carlsson glaubte den Toten in all den Gestalten zu sehen, welche die Kleider auf die karrierte Tapete zeichneten. Da kam er in Joppe aus blauer Boi und in grauen Tuchhosen, in denen Knie waren, da er mit denen im Trebel am Steuer gesessen, wenn er mit Fischen nach der Stadt segelte, um dann in der »Messingstange« mit dem Fischkäufer Toddy zu trinken. Hier kam er in schwarzem Gehrock und langen, flatternden Hosen: so ging er zur Kirche, wenn Beichte war; so war er auf Hochzeit, Begräbnis, Kindstaufe gekleidet. Dort hing die schwarze Jacke aus Schaffell; die hatte er an, wenn er im Herbst und Frühling am Strande stand und Zugnetze zog. Dort brüstete sich der große Seehundpelz, der noch Spuren vom Weihnachtsschmaus trug. Der Reisegurt, mit grünem, gelbem, rotem Wollgarn gestickt, ringelte sich wie die große Seeschlange bis auf den Boden und steckte den Kopf in einen Stiefelschaft.
Carlsson wurde warm unterm Hemd, wenn er sich in den schönen, seidenweichen Pelz hineindachte; sich vorstellte, wie er auf einem Schlitten übers Eis schoß, eine Kappe aus Seehundsfell auf dem Kopf; wie die Nachbarn den Weihnachtsgast am Strande mit Feuern und Büchsenschüssen empfingen; wie er in der warmen Stube den Pelz auszog, um dann im schwarzen Tuchrock dazustehen; wie der Pastor ihn mit du begrüßte und er ganz oben an der Schmalseite des Tisches sitzen durfte, während die Knechte an der Tür standen oder sich aufs Fensterbrett geschwungen hatten.
Die Vorstellungen von den erwünschten Seligkeiten wurden so lebhaft, daß sie Carlsson auf die Beine brachten; ehe er sich dessen bewußt wurde, war er in den Pelz geschlüpft und strich mit der Hand über die Pulswärmer; als kose er die Brüste eines Weibes, so weich und fein war das Fell; und es schauerte ihn, als der Kragen seine Backe kitzelte.
Dann zog er den schwarzen Gehrock an und knöpfte ihn zu; stellte seinen Rasierspiegel auf den Stuhl und sah nach, wie der Rock im Rücken saß; steckte die Hand unter den Aufschlag und ging im Zimmer auf und ab. Ein Gefühl von Reichtum verbreitete sich von dem seidenweichen Tuch; etwas Geräumiges, etwas Rundliches, als er zur Probe den Schoß spaltete und sich auf den Bettrand setzte; so tuend, als sei er auf Besuch.
Während er so ganz in berauschenden Träumen versunken war, hörte er von draußen Stimmen, die plauderten; als er aufhorchte, merkte er, wie sich Idas (das war die hübsche Köchin) und Normans Stimmen verflochten, zusammenfielen, Seite an Seite gingen, sich gleichsam schnäbelten. Das gab ihm einen Stich; mit einem Griff hatte er Gehrock und Pelz unter die Kleider hinter das Laken gehängt; bewaffnete sich mit einer neuen Zigarre und ging die Treppe hinunter.
Mit ernsten Zukunftsplänen beschäftigt, hatte Carlsson bisher alle Händel mit Mädchen vermieden. Erstens wußte er, wieviel Zeit dabei verloren geht; dann fühlte er, im selben Augenblick, in dem er das Feuer nach dieser Seite eröffnete, gab es keine Sicherheit mehr; er konnte sich eine Blöße geben, die schwer zu verteidigen war; und war er einmal auf diesem Felde geschlagen, war es aus mit Respekt und Ansehen.
Als sich jetzt aber die anerkannte Schönheit dem Wettstreit aussetzte, und der Sieger zu viel zu gewinnen hatte, fühlte er sich veranlaßt, die Sporen zu benutzen und den Kamm zu erheben; mit dem festen Entschluß, der Hahn zu werden, ging er auf den Holzplatz hinunter, wo das Spiel schon in vollem Gange war. Es ärgerte ihn nur, daß er sich mit Norman messen mußte; wäre es wenigstens Gustav gewesen! Aber dieser Tropf Norman! Nun, der sollte mal sehen!
– Guten Abend, Ida! begann er, ohne von dem Nebenbuhler Notiz zu nehmen, der unwillkürlich seinen Platz am Zaun verließ.
Carlsson nahm diesen Platz sofort ein und begann das Spiel. Während Ida Holz und Späne in die Holztrage las, machte er von seiner überlegenen Beredsamkeit einen solchen Gebrauch, daß Norman kein Wörtchen anbringen konnte.
Ida aber war launenhaft wie beim Mondwechsel; sie warf Norman Seitenworte zu, die Carlsson jedoch im Fluge aufgriff und zurücksandte, hübsch verziert und schön ausgemalt.
Aber die Schöne fand Gefallen an dem Kampf und bat Norman, ihr etwas Kienholz zu spleißen. Ehe der Glückliche bis zur Tür kam, war Carlsson schon über den spitzen Zaun gestiegen, hatte sein Klappmesser gezogen und begann einen trockenen Fichtenklotz zu spleißen. In wenigen Minuten legte er die Späne in die Holztrage, faßte alles mit dem kleinen Finger zusammen und trug es direkt in die Küche, in die ihm Ida folgte. Dort blieb er am Türpfosten stehen, indem er sich so breit machte, daß niemand weder hinaus noch herein konnte.
Norman, dem es nicht gelang, irgend ein Anliegen zu erfinden, umkreiste zuerst einige Male den Holzplatz, um milzkrank darüber nachzusinnen, wie leicht der Unverschämte im Leben vorwärts kommt; bis er schließlich für gut fand, abzuziehen. Er setzte sich auf den Brunnenrand und stöhnte seine Klage in einem Schottischen aus, den er aus der Handharmonika holte.
Die weichen Töne der Blechzungen drangen doch durch die dicke Abendluft, am Türpfosten vorbei, und erreichten den Thron der Barmherzigkeit am Küchenherd: Ida erinnerte sich jetzt, sie müsse zum Brunnen gehen, um für den Professor Trinkwasser zu holen.
Carlsson folgte ihr; dieses Mal aber fühlte er sich doch etwas unsicher in dem Kampf auf einem Felde, das ihm ganz fremd war. Um die Wirkung des zauberischen Lockrufs aufzuheben, nahm er Idas Kupferflasche und flüsterte zärtliche Worte; in einem so schmachtenden und wohlklingenden Tone, wie er nur irgend vermochte; als wolle er der verführerischen Musik Worte unterlegen und das Solo zu einer untergeordneten Begleitung herabsetzen.
Aber gerade als sie zum Brunnen kamen, rief die Hausmutter oben aus der Hütte. Sie rief Carlsson, und in ihrem Ton war zu hören, daß es sich um etwas Wichtiges handelte.
Zuerst wurde Carlsson böse und wollte nicht antworten; da aber fuhr der Teufel in Norman: mit schallender Stimme rief der:
– Hier, Tante! Er kommt sofort!
Indem er den falschen Spielmann zur Hölle wünschte, riß sich der Sieger aus den Armen der Liebe und ließ die halb errungene Beute dem Schwächern, der sein Liebesglück nur einem Schicksal zu verdanken hatte.
Die Alte rief noch ein Mal; mit zorniger Stimme antwortete Carlsson, er komme so schnell, wie er nur könne.
– Wollt Ihr näher treten, Carlsson, und eine Halbe trinken, empfing die Alte ihn im Vorbau, mit der Hand die Augen beschattend, um die leichte Sommerdämmerung zu durchdringen und zu sehen, ob er allein komme.
Carlsson hätte sonst gern eine Halbe getrunken, aber in diesem Augenblick wünschte er allen Kaffee und Branntwein zur Hölle; doch konnte er nicht nein sagen; während Normans norrköpinger Scharfschützenmarsch siegesstolz und hohnvoll von der Quellwiese heraufklang, mußte er in die Stuga hinein.
Die Alte war milder als gewöhnlich; Carlsson aber fand sie älter und häßlicher als gewöhnlich. Je freundlicher sie sich zeigte, desto mürrischer wurde er; das machte die Alte schließlich beinahe zärtlich.
– Die Sache ist die, Carlsson, sagte sie schließlich, während sie ihm Kaffee eingoß: wir müssen für nächste Woche zur Mahd aufbieten. Darum möchte ich natürlich erst mit Euch sprechen.
Die Harmonika verstummte mitten in den schmelzenden Akkorden des Trios; Carlsson erstarrte und wurde unaufmerksam, um schließlich einige Worte ohne Klang und ohne richtigen Zusammenhang hervorzubringen:
– Jaja, also die Mahd in nächster Woche!
– Und da möchte ich, fuhr die Alte fort, daß Ihr am Sonnabend mit Clara hinfahrt und aufbietet; dann kommt Ihr auch etwas unter die Leute und könnt Euch zeigen, denn das ist immer gut.
– Aber am Sonnabend kann ich nicht, antwortete Carlsson mürrisch; da muß ich für Professors nach Dalarö.
– Einmal könnte wohl Norman die Fahrt machen, wendete die Alte ein und drehte dem Knecht den Rücken, um seine Miene nicht sehen zu müssen.
In diesem Augenblick brachte die Harmonika einige weiche, von Pausen unterbrochene Sätze hervor, die sich zu entfernen schienen, um draußen in der Sommernacht, wo die Nachtschwalbe schon an ihrem surrenden Rocken spann, zu verhallen.
Carlsson schwitzte Todesschweiß, goß den Kaffeebranntwein hinunter, fühlte Steine auf der Brust, Nebel um den Kopf, eine allgemeine Schwäche in den Nerven.
– Das kann Norman nicht, stieß er hervor; Norman kann die Geschäfte des Professors nicht besorgen – und – er wird auch nicht damit betraut.
– Aber ich habe den Professor gefragt, schnitt die Alte den Faden ab; und er sagte, er habe für diesen Sonnabend nichts.
Es war wie verhext für Carlsson; die Alte hatte ihn wie eine Maus gepackt; es war kein Loch mehr vorhanden, in das er schlüpfen konnte.
Und seine Gedanken gingen nach so verschiedenen Richtungen, daß er sie kaum zu einer Gegenwehr sammeln konnte. Das sah die Alte auch, und sie wollte darum kneten, solange der Teig gärte.
– Hört mal, Carlsson, sagte sie; Ihr müßt es Euch nicht zu Herzen nehmen, wenn ich Euch was sage; denn ich meine es gut mit Euch.
– Ihr mögt meinetwegen sagen, was zum Teufel Ihr wollt: denn jetzt ist es mir doch ganz einerlei, brach Carlsson los, der die zärtlichen Töne der Harmonika im Hag verklingen hörte.
– Ich wollte nur sagen, Ihr müßt Euch für zu gut halten, um mit den Mädchen zu spielen; das nimmt nur ein schlimmes Ende. Ja, ich weiß; ich kenne das; und es ist gut gemeint von mir, Carlsson. Solche Stadtmädchen müssen immer einen Troß Männer hinter sich haben, damit es nach was aussieht; und dann wird hier scherwenzelt und dort gehänselt; und gehen sie in den Wald mit Einem, laufen sie in den Hag mit dem Andern. Und wenn es schief geht, so nehmen sie den, ders am besten tragen kann. So ist’s bestellt!
– Was kümmert’s mich, wer die Burschen bürstet; meiner sollen sie nicht habhaft werden. Übrigens ist ein Unterschied zwischen Mädchen und Mädchen; alle sind nicht Dirnen, die verkommen, erleichterte Carlsson sein volles Herz.
– Nicht übel aufnehmen, tröstete die Alte. Aber ein Mann wie Ihr, Carlsson, sollte ans Heiraten denken, nicht solchen Mädchen nachlaufen. Hier in den Schären gibt es viele reiche Mädchen, kann ich Euch sagen; und seid Ihr klug und macht Ihr Eure Sache gut, so könnt Ihr früher als Ihr glaubt Euer eigener Herr werden. Darum müßt Ihr nicht eigensinnig sein, Carlsson, sondern auf das hören, was ich Euch sage, wenn ich Euch bitte, zu den Nachbarn zu fahren und sie zur Mahd zu laden. Bedenket doch, nicht Jeden hätte ich aufgefordert, im Namen des Hofes zu fahren; und der Junge wird wohl auch über mich herfallen. Aber daran kehre ich mich nicht: halte ich mich an einen, so stütze ich ihn auch; darauf könnt Ihr Euch verlassen.
Es begann in Carlssons Innern ruhig zu werden; es leuchtete ihm ein, daß es seine Vorteile haben müsse, den Hof zu vertreten; aber er war noch zu sehr gereizt, um seine Flamme gegen etwas Ungewisses zu vertauschen; er hatte ein Bedürfnis, zuerst etwas Handgeld zu erhalten, ehe er sich auf das Geschäft einließ.
– So wie ich hier bin, kann ich nicht gehen, und saubere Kleider habe ich nicht, warf er seine Schnur aus.
– So schlimm ist es mit den Kleidern wohl nicht, meinte die Alte; wenn aber weiter nichts fehlt, so werden wir schon Rat schaffen.
Weiter mochte Carlsson in dieser Richtung nicht gehen; dafür wollte er lieber das angedeutete Versprechen gegen ein anderes, bestimmtes, auswechseln. Nach verschiedenen Einwendungen der Alten gelang es ihm auch, zu erreichen, daß Norman, als unentbehrlich beim Schleifen der Sensen und Ausbessern des Heuwagens, zu Hause bleiben sollte, während Lotte Ida nach Dalarö fuhr.
Es war drei Uhr morgens an einem Julitage im Anfang des Monats. Es raucht schon aus dem Schornstein, der Kaffeekessel ist aufgesetzt; das ganze Haus ist wach und in Bewegung; draußen auf dem Hof ist ein langer Kaffeetisch gedeckt.
Die Schnitter sind am Abend vorher gekommen und haben auf Heuboden und Scheune geschlafen. Zwölf stattliche Männer aus den Schären, in weißen Hemdärmeln und Strohhüten, stehen in Gruppen vor der Stuga, mit Sensen und Wetzsteinen bewaffnet.
Da ist der Alte aus Owassa und der Alte aus Svinnockar, deren Rücken vom Rudern rund geworden sind; da ist der von Aspö mit seinem langen Heldenbart, einen Kopf höher als die Andern, mit tiefen, traurigen Blicken von der Einsamkeit draußen am offenen Meere, von Kummer ohne Namen und ohne Klage; das ist der Fjällonger, eckig und halb gedreht, wie eine Meerkiefer draußen auf der letzten Schäre; der von Fiversätra, mager, durchweht, lebhaft, trocken wie eine Kaffeehaut; die Quarnöer, Bootbauer von Ruf; die von Longskär, die ersten Seehundschützen; der Bauer von Arnö mit seinen Jungen.
Und um ihnen, zwischen ihnen bewegten sich die Mädchen, in Hemdärmeln, mit Brusttüchern über den Busen, in hellen Kleidern aus Baumwolle, mit Tüchern auf dem Kopf. Die Harken, die in allen Farben des Regenbogens frisch bemalt waren, hatten sie selbst mitgebracht. Sie sahen aus, als gingen sie zu einem Fest, nicht zu einer Arbeit. Die Alten klopften sie mit den Fingerknöcheln auf die Taille und sagten ihnen vertrauliche Worte. Die Burschen aber verhielten sich so früh am Morgen beiseite; sie warteten den Abend mit Dämmerung, Tanz und Musik ab, um ihre Liebesspiele zu spielen.
Die Sonne war seit einer Viertelstunde aufgegangen, aber noch nicht so weit über die Wipfel der Kiefernhöhe gekommen, um den Tau aus dem Gras zu lecken. Die Bucht lag spiegelblank da, von dem jetzt blaßgrünen Schilf eingefaßt; das Piepen der eben ausgebrüteten jungen Enten war zwischen dem Schnattern der alten zu hören; die Möwen fischten dort unten Ukeleis, segelnd, groß, flügelbreit, schneeweiß wie die Gipsengel der Kirche; in der Kellereiche waren die Elstern erwacht und schwatzten und kicherten von den vielen Hemdärmeln, die sie unten auf dem Haushügel gesehen; der Kuckuck rief im Hag, brünstig, rasend, als sei die Zeit des Begehrens zu Ende, wenn er den ersten Heuschober erblickte; die Wiesenknarre arpte und schnarpte unten im Roggenfelde; aber auf dem Hügel sprang der Hund und begrüßte alte Bekannte.
Hemdärmel und Leinenpassen glänzten im Sonnenschein, streckten sich über den Kaffeetisch, auf dem Tassen und Schüsseln, Gläser und Kannen klirrten: die Bewirtung hatte begonnen.
Gustav, sonst schüchtern, machte den Wirt; sich unter den alten Freunden seines Vaters sicher fühlend, setzte er Carlsson in Schatten und handhabte selber die Branntweinflasche.
Carlsson aber, der auf seiner Einladungsfahrt Bekanntschaften geschlossen, benahm sich, als sei er zu Hause, wie ein älterer Angehöriger oder Gast, und ließ sich den Hof machen. Da er vor Gustav zehn Jahre voraus hatte und ein männlicheres Aussehen besaß, stach er diesen aus; zumal Gustav für die Männer, die sich mit seinem Vater geduzt, kaum etwas anderes als »der Junge« werden konnte.
Der Kaffee war getrunken, die Sonne stieg, die Veteranen setzten sich in Bewegung, um nach der großen Wiese hinunter zu ziehen, die Sensen auf den Schultern; die Jungen und die Mädchen folgten.
Das Gras reichte den Männern bis an die Schenkel und stand dicht wie ein Fell. Carlsson mußte über die neue Bewirtschaftung der Wiese Bescheid geben; wie er Laub und Gras vom vorigen Jahr abräumte, die Maulwurfshaufen ebnete, in die Frostflecken säete, mit Jauche begoß.
Dann verteilte er wie ein Hauptmann seine Truppe; gab den Alten und Vermögenden Ehrenplätze und ging selbst an letzter Stelle; verlor sich also nicht im Haufen.
Und so begann die Schlacht. Zwei Dutzend weiße Hemdärmel in einem Keil, ziehenden Schwänen gleich, die Sensen Ferse an Ferse; und hinterdrein, in zerstreuter Ordnung, wie ein Volk Fischschwalben, launenhaft hin und her springend, aber doch zusammen haltend, die Mädchen mit ihren Harken; jede ihrem Mäher folgend.
Es sauste um die Sensen, und das tauige Gras fiel in Büscheln. Seite an Seite lagen alle Blumen des Sommers, die sich aus Wald und Hag heraus gewagt: Gänseblume und Kuckucksblume, Pechnelke und Labkraut, Kälberkropf, Heidenelke, Erve, Wachtelweizen, Steinsame, Pestwurz, Kleeblatt; und alle Gräser und Halbgräser der Wiesen. Es duftete nach Honig und Gewürzen; Bienen und Hummeln flohen in Schwärmen vor der mörderischen Schar. Die Maulwürfe verkrochen sich in die Eingeweide der Erde, als sie es in ihrem gebrechlichen Dach krachen hörten. Die Ringelnatter schlüpfte erschrocken in den Graben und verschwand in ein Loch, das nicht größer als ein Tauende war. Aber über das Schlachtfeld in die Höhe schwang sich ein Lerchenpaar, dessen Nest ein Absatzeisen zertreten hatte. Als Nachhut trippelten die Stare, um allerhand Getier, das in den brennenden Sonnenschein geraten war, aufzulesen und aufzupicken.
Die erste Bahn war bis zum Feldrain abgemäht. Die Kämpfer hielten inne und betrachteten, auf ihre Sensenschäfte gestützt, das Werk der Zerstörung, das sie hinter sich gelassen. Sie wischten sich den Schweiß aus dem Mützenstreifen und nahmen eine neue Prise Schnupftabak aus den Messingdosen. Inzwischen hatten sich die Mädchen beeilt in die Frontlinie zu kommen.
Dann geht es wieder auf das grüne Blumenmeer los, das unter der wachsenden Morgenbrise wogt; bald bunte leuchtende Farben zeigt, wenn die steiferen Stengel und Köpfe der Blumen sich in den Wellen des weichen Honiggrases behaupten; bald sich in einem einzigen Grün wie ein See in Windstille ausbreitet.
Es ist Fest in der Luft und Wetteifer in der Arbeit; man würde lieber am Sonnenstich niederstürzen, als die Sense fortstellen.
Carlsson hat Ida zur Harkerin, und da er der Letzte in der Reihe ist, kann er, ohne die Waden zu gefährden, sich prahlerisch umdrehen, um ihr ein Wort zuzuwerfen. Aber Norman hat er unter strenger Bewachung schräg vor sich; sobald dieser einen verliebten Blick nach Südosten tun will, hat er Carlssons Sense an den Hacken und hört einen eher unfreundlichen als wohlwollenden Warnungsruf:
– Die Füße in Acht nehmen!
Als die Uhr acht ist, liegt die Quellwiese wie ein eben geeggter Acker da, glatt wie eine Hand, und das Heu in langen Schwaden. Jetzt wird das Werk beschaut und die Schläge geprüft. Über Rundqvist sitzt man zu Gericht; man kann sehen, wo er gegangen ist; es sieht aus, als hätten Elfen dort getanzt. Aber Rundqvist verteidigt sich: er habe nach dem Mädchen sehen müssen, das man ihm gegeben; denn es sei nicht gestern gewesen, daß ein Mädchen ihm nachgelaufen.
Jetzt halloht Clara oben von der Höhe zum Frühstück; die Branntweinflasche funkelt in der Sonne und der Anker Dünnbier ist angestochen; der Kartoffeltopf raucht auf der Felsplatte, der Strömling dampft in den Schüsseln, die Butter ist aufgelegt, das Brot ist geschnitten; die Schnäpse werden eingegossen, und das Frühstück ist im Gang.
Carlsson hat Lob erhalten und ist siegestrunken; Ida ist ihm auch gewogen, und er wartet ihr mit einer Aufmerksamkeit auf, die auffällt; aber sie ist auch die Schönste des Tages.
Die Alte, die mit Schüsseln und Tellern aus und ein läuft, streicht oft an den beiden vorbei; zu oft, um nicht von Ida bemerkt zu werden; doch nicht eher von Carlsson, als bis sie ihm mit dem Ellbogen sanft in den Rücken stößt und flüstert:
– Ihr müßt Wirt sein, Carlsson, und Gustav helfen; Ihr müßt tun, als seiet Ihr hier zu Hause!
Carlsson hat nur Augen und Ohren für Ida und antwortet der Alten mit einem Scherz. Jetzt aber kommt Lina, das Kindermädchen des Professors, und erinnert Ida daran, daß sie nach Haus muß, um aufzuräumen.
Aufregung und Trauer bricht unter den Männern aus, aber die Mädchen sind nicht sehr betrübt.
– Wer soll denn für mich aufnehmen, wenn ich kein Mädchen mehr habe? ruft Carlsson mit gespielter Verzweiflung aus, die den wirklichen Verdruß verbergen soll.
– Dann muß es Tante wohl tun? antwortet Rundqvist, der Augen im Rücken haben soll.
– Tante muß harken! rufen die Manner im Chor. Tante muß kommen und harken.
Die Alte schlägt abwehrend mit der Schürze:
– Was soll ich alte Frau unter den Mädchen? Nein, niemals, niemals! Ihr seid wohl närrisch!
Aber der Widerstand reizt.
– Nimm die Alte, flüstert Rundqvist, während Norman sich aufheitert und Gustav finster wie die Nacht wird.
Es blieb keine Wahl; unter Lärm und Lachen eilt Carlsson ins Haus, um die Harke der Alten zu holen, die irgendwo oben auf dem Boden liegen muß. Hinter ihm drein läuft die Alte, die schreit:
– Nein, um Gottes willen, Ihr dürft nicht in meinen Sachen kramen.
So verschwinden die Beiden, während die Zurückbleibenden laute und beißende Bemerkungen machen.
– Ich finde, unterbricht Rundqvist schließlich das Schweigen, das entstanden ist, sie bleiben etwas lange aus! Geh, Norman, und sieh nach, was geschehen ist!
Stürmischer Beifall ermuntert den Ehrgeizigen, fortzufahren.
– Was mögen sie oben nur machen? Das ist doch zu arg! Ich werde wirklich unruhig, wißt ihr.
Gustavs Lippen wurden dunkelblau, aber er zwang sich zu einem Lachen, um sich nicht von den Andern abzusondern.
– Gott verzeihe mir meine Sünden, fuhr Rundqvist im selben Tone fort; jetzt aber halte ichs nicht länger aus; ich muß nachsehen, was die Beiden vorhaben.
In diesem Augenblick kommt Carlsson mit der Alten aus dem Vorbau und bringt die gesuchte Harke. Die ist fein, mit zwei Herzen bemalt, »Anno 1852« gezeichnet; es war einst die Brautharke der Alten, die Flod selbst angefertigt. Sie hatte Erbsen im Schaftknauf, die klapperten, wenn man die Harke rührte.
Die Erinnerung an vergangene Freuden scheint den frischen Sinn der Alten in eine muntere Stimmung zu versetzen; ohne eine Spur von krankhafter Empfindsamkeit zeigt sie auf die Jahreszahl und sagt:
– Das war nicht gestern, als der Flod mir die Harke machte ...
– Und du ins Brautbett stiegst, Tante, fiel der von Svinnockar ein.
– Kannst es wohl noch ein Mal, meinte der aus Owassa.
– Sechs Wochen alten Ferkeln und zwei Jahre alten Witwen kann man nicht trauen, neckte der Fjällonger.
– Je trockener der Zunder, desto schneller fängt er Feuer, brannte der von Fiversätra los.
Und jeder warf seinen Scheit aufs Feuer. Die Alte aber schmunzelte und wehrte sie ab, machte gute Miene zum bösen Spiel und scherzte mit; böse zu werden, hatte keinen Zweck.
Dann gings auf die Bruchwiese hinunter. Da standen Segge und Schachtelhalm so hoch wie ein Kiefernwald und das Wasser ging den Männern bis an die Stiefelschäfte. Die Mädchen zogen Strümpfe und Schuhe aus und hingen sie auf den Feldzaun.
Die Alte harkte hinter Carlsson so fleißig, daß sie es den Andern zuvortat. Manches Scherzwort über das junge Paar, wie sie genannt wurden, fiel. Diesen Ausdruck benutzten sie als Feigenblatt, um darunter zu verbergen, was im Geheimen zu wachsen begann.
So ward es Mittag und so ward es Abend.
Der Spielmann war mit seiner Geige gekommen; die Tenne war geräumt und gekehrt, die schlimmsten Astlöcher mit Pech verkittet worden. Als die Sonne unterging, begann der Tanz.
Carlsson eröffnete ihn mit Ida; deren schwarzes Kleid war viereckig ausgeschnitten, hatte eine weiße Krause und einen Maria-Stuart-Kragen; wie eine beneidete Dame stand Ida unter den Bauernmädchen da; die Alten betrachteten sie mit Furcht und Kälte, die Jungen mit Verlangen.
Carlsson konnte allein den neuen Walzer; darum nahm Ida ihn gern, ein Mal nach dem andern, nachdem ein Versuch mit Norman mißlungen war. Als der so aus dem Felde geschlagen wurde, verfiel er auf den unglücklichen Gedanken, zu seiner Handharmonika zu greifen; um sein gequältes Herz auszuschütten und vielleicht mit einer letzten Leimrute den feinen und unbeständigen Vogel zu fangen; vor einigen Wochen glaubte er ihn in der Hand zu haben, bald aber saß er wieder auf dem Dach und schnäbelte mit einem andern.
Carlsson fand indessen die Begleitung überflüssig, da er eigens einen wirklichen Spielmann gedungen; und die engbrüstige Harmonika hielt mit der leichtfüßigen Geige nicht Schritt, sondern störte den Takt und brachte Unordnung in den Tanz. Die gute Gelegenheit, den Nebenbuhler abzutun, lockte Carlsson, zumal die Meinung, die Harmonika störe nur, allgemein zu sein schien. Er nahm also den Mund etwas voll und schrie dem unglücklichen Liebhaber, der sich in einer Ecke verkrochen hatte, über die Tenne hinüber zu:
– Halloh, schnür den Lederbeutel, du! Mach, daß du hinauskommst, und laß die Luft aus, wenn du aufgeblasen bist.
Die allgemeine Meinung verurteilte den Sünder mit einem zustimmenden Lachen. Norman aber waren einige Schnäpse zu Kopf gestiegen, und Idas Krause hatte ungeahnte Kräfte hervorgezaubert.
– Halloh! ahmte er Carlsson nach, der unversehens in seine Mundart verfallen war, die auf Hochschweden lächerlich wirkte. Komm nur hinaus auf den Hof, dann werde ich dir schon die Flöhe aus dem Schweinepelz lausen!
Carlsson fand seine Stellung noch nicht so bedroht, um zu den Fäusten übergehen zu müssen, sondern hielt sich auf dem unschuldigeren Gebiet des Zungenkampfes.
– Was ist das für ein merkwürdiges Schwein, das Flöhe im Pelz hat?
– Das stammt wohl aus Wärmland, glaube ich, antwortete Norman.
Das verletzte die Nationalehre; noch im letzten Augenblick nach einem vernichtenden Wort suchend, das sich aber nicht einstellte, ging Carlsson auf den Feind los, packte ihn bei der Weste und riß ihn auf den Hof hinaus.
Die Mädchen stellten sich in die Türöffnung, um dem Zusammenstoß zuzusehen; niemandem fiel es ein, dazwischen zu treten.
Norman war klein und untersetzt, aber Carlsson war gröber gebaut und höher gewachsen. Im Nu warf er den Rock ab, um den er bange war, und die Kämpfer rannten zusammen. Norman mit dem Kopf voran, wie ers von den Lootsenburschen gelernt hatte. Carlsson aber packte ihn, zielte einen häßlichen Fußtritt nach dem Unterleib, und wie ein zusammengerollter Igel fiel Norman auf den Dunghaufen.
– Rallbuse! schrie er, außer stande, sich weiter mit den Fäusten zu verteidigen.
Carlsson schäumte; vergebens nach Schimpfwörtern suchend, setzte er Norman das Knie auf die Brust und ohrfeigte den Geschlagenen. Der spuckte und biß um sich, bekam aber schließlich eine Handvoll Streu in den Mund.
– Jetzt werde ich dir das ungewaschene Maul putzen! schrie Carlsson und rieb den Geschlagenen mit einem Strohwisch, den er aus dem Dunghaufen gerissen, so, daß die Nase blutete.
Aber das öffnete dem wutschnaubenden Norman den Mund: seinen ganzen Vorrat von Schimpfworten schleuderte er dem Sieger ins Gesicht, der die Zunge des Besiegten doch nicht binden konnte.
Die Musik war verstummt, der Tanz hatte aufgehört. Die Zuschauer hatten ihre Bemerkungen über die Wendungen des Wortstreites und Faustkampfes gemacht und mit demselben gleichmütigen Interesse zugehört und zugesehen, wie sie einem Schlachten oder einem Tanz zusahen. Doch fanden die Alten, Carlssons Angriff sei nicht ganz regelrecht, nicht nach alter Sitte gewesen. Plötzlich aber war ein Schrei zu hören, der den Haufen sprengte und alle aus der Feststimmung riß:
– Er zieht ein Messer! schrie einer; man konnte nicht unterscheiden, wer.
– Ein Messer! wurde im Haufen geantwortet. Keine Messer! Fort mit den Messern!
Und die Kämpfer wurden umringt; Norman, dem es gelungen war, sein Klappmesser zu öffnen, wurde entwaffnet und auf die Füße gestellt, nachdem man Carlsson von ihm losgerissen.
– Raufen könnt ihr euch, Burschen, aber nicht messern, schloß der Alte von Svinnockar die Schlägerei.
Carlsson zog seinen Rock an und knöpfte ihn über seine zerrissene Weste; aber Norman hing der eine Hemdärmel wie ein Fetzen aufs Bein herab. Im Gesicht übel zugerichtet, schmutzig, blutig, hielt ers fürs Beste, sich um die Ecke zu entfernen, um seine Niederlage nicht den Mädchen zu zeigen.
Mit der frohen Zuversicht des Siegers und des Stärkern trat Carlsson wieder auf die Tanzbahn, um, nach einem tüchtigen Schluck, das Spiel mit Ida von neuem zu beginnen, die ihn mit Wärme, ja beinahe Bewunderung empfing.
Der Tanz ging los wie ein Dreschwerk. Die Dämmerung war hereingebrochen. Der Branntwein machte die Runde, und man widmete dem Tun und Lassen des Nächsten geringere Aufmerksamkeit. Darum konnte Carlsson mit Ida aus der Tenne heraus kommen und das Hagtor erreichen, ohne daß jemand naseweise Fragen stellte. Aber gerade als das Mädchen über den Zauntritt gestiegen war und Carlsson oben auf dem Zaune stand, hörte er durchs Halbdunkel die Stimme der Alten, ohne jemand sehen zu können.
– Carlsson! Ist Carlsson da! Kommt und tanzt eine Runde mit Eurer Harkerin.
Aber Carlsson antwortete nicht, sondern glitt hinunter und schlüpfte in den Hag, leise wie ein Fuchs.
Die Alte hatte ihn jedoch gesehen, und obendrein noch Idas weißes Taschentuch, das diese um den Leib geknüpft, um ihr Kleid vor den schweißigen Händen zu schützen. Als sie noch ein Mal gerufen, ohne Antwort zu erhalten, ging sie nach, über den Zauntritt, in den Hag.
Der Weg unter den Haselbüschen lag vollständig im Dunkel; sie sah nur etwas Weißes, das in dem Schwarzen ertrank und schließlich auf den Boden des langen Tunnels sank. Sie wollte nachlaufen; da aber waren neue Stimmen am Zauntritt zu hören, eine gröbere und eine klingendere; aber beide gedämpft und, als sie näher kamen, flüsternd. Gustav und Clara stiegen über den Zaun, der unter den etwas unsichern Schritten des Burschen knackte; und von zwei starken Armen gehoben, sprang Clara hinunter.
Die Alte versteckte sich in den Büschen, während das Paar Arm in Arm vorbeizog; halbsingend, küssend dahintanzte, wie sie selbst einst getanzt, gesungen und geküßt hatte.
Noch ein Mal knackte der Zauntritt, und wie ein junger Stier kam der quarnöer Bursche mit dem fjällonger Mädchen angesprungen. Als sie hoch oben auf dem Zaun stand, das Gesicht vom Tanz gerötet und mit ausgelassenem Lachen die weißen Zähne zeigend, legte sie die erhobenen Arme über Kreuz hinter den Nacken, als wolle sie sich fallen lassen; und mit schnaubendem Lachen und aufgeblähten Nasenflügeln warf sie sich dem Burschen in die Arme; der empfing sie mit einem langen Kuß und trug sie in die Dunkelheit hinein, wo sie verschwanden wie unter einer Decke.
Die Alte stand hinter den Haselbüschen und sah Paar nach Paar kommen, gehen, wiederkehren; ganz wie in ihrer Jugend; und altes Feuer glühte wieder auf, das unter der Asche von zwei Jahren versteckt gewesen; und sie fühlte die »Plage« noch im Fleische wüten, stechend wie Verlangen ohne Hoffnung, wie Vermissen des für immer Verlorenen.
Währenddessen war die Geige allmählich verstummt. Es war über Mitternacht, und die Morgenröte stand im Norden bereits schwach über dem Walde. Die Stimmen auf der Tenne wurden lauter und einzelne Hurrahrufe von der Wiese gaben an, daß sich die Tanzgesellschaft zerstreut hatte und die Heimfahrt für die Mäher bevorstand.
Die Alte mußte zurück, um beim Abschied zugegen zu sein.
Als sie in den Hohlweg kam, wo sich die Dunkelheit so zu lichten anfing, daß man das grüne Laub unterscheiden konnte, sah sie Carlsson und Ida ganz hinten auf der Höhe kommen, Hand in Hand, als wollten sie einen neuen Tanz beginnen, blaß wie Leinen, mit großen dunkeln Löchern, wo die Augen, die sie nicht sah, sitzen mußten. Fürchtend, hier im »grünen Gange« getroffen zu werden, kehrte sie um und eilte über den Zauntritt, um nach Hause zu kommen, ehe die Gäste gingen.
Aber auf der andern Seite des Zauntritts stand Rundqvist und schlug die Hände zusammen, als er die Alte erblickte, die ihr Gesicht in der Schürze barg, um nicht zu zeigen, wie sie sich schämte.
– Nein, ist die Tante auch im Hag gewesen und hat Eier gesucht? Ich sage ja, auf die Alten ist doch nicht mehr Verlaß als auf ...
Sie hörte nicht mehr, sondern eilte, so schnell sie konnte, der Stuga zu.
Dort hatte man sie schon gesucht und empfing sie jetzt mit Hurrahrufen, Händeschütteln und Dankesworten für gute Bewirtung, um sich dann zu verabschieden.
Als alles wieder still geworden und die Flüchtlinge aus Hag und Wiese herbeigerufen waren, ohne daß sich alle einstellten, ging die Alte zu Bett. Lange aber lag sie wach und lauschte, ob sie nicht Carlsson die Treppe zur Kammer hinaufgehen hörte.





Richard Bergh - Nordic Summer Evening, 1899



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